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GEORG G RODDECK
DAS BUCH VOM ES
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DAS BUCH VOM ES
PSYCHOANALYTISCHE BRIEFE
AN EINE FREUNDIN
VON
GEORG GRODDECK
1
DRITTE AUFLAGE
(6.-8. TAUSEND)
1934
INTERNATIONALER
PSYCHOANALYTISCHER VERLAG
LEIPZIG / WIEN / ZÜRICH
COPYRIGHT 1923
BY INTERNATIONALER PSYCHOANALYTISCHER
VERLAG IN WIEN
INTERNATIONAL
PSYCHOANALYTIC
UNIVERSITY
DIE PSYCHOANALYTISCHE HOCHSCHULE IN BERLIN
PRINTED IN AUSTRIA
DRUCK DER JOHANN N. VERNAY A. G.
WIEN IX.
I.
LIEBE FREUNDIN, SIE WÜNSCHEN, DASS ICH IHNEN SCHREIBE,
nidits Persönliches, keinen Klatsch, keine Redensaiten, sondern ernst,
belehrend, womöglich wissenschaftlidi. Das ist sdilinim.
Was habe idi Armer mit Wissenschaft zu tun ? Das bißdien, was
man als praktischer Arzt nötig hat, kann idi Ihnen doch nidit vor-
führen, sonst sehen Sie, wie löchrig das Hemd ist, das unsereiner
unter dem Staatsgewande der Approbation als Arzt trägt. Aber viel-
leicht ist Ihnen mit der Erzählung gedient, warum ich Arzt wurde
und wie ich zu der Abneigung gegen das Wissen gekommen bin.
Ich besinne mich nicht, daß ich als Knabe besondere Neigung für
das Arztsein gehabt habe, vor allem weiß ich bestimmt, daß ich nie,
audi später nidit, mit diesem Beruf mensdienfreundlidie Gefühle ver-
bunden hätte ; und wenn ich midi, was wohl geschehen ist, mit solchen
edlen Worten zierte, so verzeihe mir ein mildes Gericht mein Lügen.
Arzt wurde ich, weil mein Vater es war. Er hatte all meinen Brüdern
verboten, diese Laufbahn einzusdilagen, vermutlich weil er sich und
andern gern einreden wollte, seine finanziellen Sdiwierigkeitcn seien
durch die schlechte Bezahlung des Arztes bedingt, was durdiaus nicht
der Fall war, da er bei alt und jung als ein guter Arzt gerühmt
und dementsprechend entlohnt wurde. Aber er liebte es, wie sein
Sohn auch und wie wohl ein jeder, nach außen zu blicken, wenn er
wußte, daß in ihm selber etwas nidit stimmte. Eines Tages fragte er
1 G r o d d e c k, Das Buch vom Eb
mich,- warum, weiß id. nicht - ob ich nicht Arzt werden wolle, und
wexl id, ,n dieser Frage eine Auszeichnung meinen Brüdern gegen-
über sah, sagte ich ja. Damit war mein Schicksal entschieden, sowohl
für meine Berufswahl, als audx für die Ar*, wie ich diesen Beruf aus-
geübt habe. Denn von da an habe ich meinen Vater bewußt nach-
geahmt, so stark, daß eine alte Freundin von ihm, als sie mich viele
Jahre später kennen lernte, in die Worte ausbrach: „Ganz der Vater,
nur kerne Spur von seinem Genie."
Bei jener Gelegenheit erzählte mir mein Vater etwas, was mich
spater, als die Zweifel an meinen ärztlichen Fähigkeiten kamen, an
meiner Arbeit festhielt. Vielleicht kannte ich die Geschichte schon
vorher, aber ich weiß, daß sie mir in der gehobenen Stimmung des
Joseph, der besser war als seine Brüder, tiefen Eindruck machte. Er
habe mich, erzählte er mir, als dreijährigen Jungen mit meiner etwas
älteren Schwester, meiner ständigen Spielkameradin, beim Puppen-
spielen beobachtet. Lina verlangte, daß der Puppe noch ein Kleid an-
gezogen werden solle, und ich gab es nach langem Kampfe mit den
Worten zu: „Gut, aber du wirst sehen, sie erstickt" Daraus habe er
den Schluß gezogen, daß ich ärztliche Begabung hätte. Und ich selber
habe diesen so wenig begründeten Schluß auch gezogen.
Ich erwähne dieses kleine Ereignis, weil es mir Gelegenheit gibt
von einem Zug meines Wesens zu sprechen, von einer seltsamen
Ängsdichkeit geringfügigen Dingen gegenüber, die mich plötzlich und
scheinbar unmotiviert befällt. Angst ist, wie Sie wissen, die Folge
eines verdrängten Wunsches; es muß in jenem Augenblick, als ich
den Gedanken äußerte, die Puppe werde ersticken, der Wunsch in
mir lebendig gewesen sein, irgend ein Wesen, dessen Stelle die Puppe
vertrat, zu töten. Wer dieses Wesen war, weiß ich nicht, vermute
nur, daß es eben diese meine Schwester war; ihrer Kränklichkeit
halber wurde ihr von meiner Mutter manches zugeteilt, was ich als
Jüngster für mich beansprudite. Da haben Sie nun, was das Wesent-
lidie des Arztes ist : ein Hang zur Grausamkeit, der gerade so weit
verdrängt ist, daß er nützlich wird, und dessen Zuditmeister die
Angst ist, weh zu tun. Es lohnte sich, diesem feingefügten Wider-
spiel von Grausamkeit und Angst im Mensdien nadizugehen, weil es
gar wichtig im Leben ist. Aber für den Zweck eines Briefes genügt
es wohl festzustellen, daß das Verhältnis zu meiner Schwester viel
mit der Entwicklung und Bändigung meiner Lust am Wehtun zu tun
hat. Unser Lieblingsspiel war Mutter und Kind spielen, wobei es
darauf ankam, daß das Kind unartig war und Schläge bekam. Daß
alles milde verlief, war durch die Kränklichkeit der Schwester bedingt
und spiegelt sich in der Art wider, wie ich meinen Beruf ausgeübt
habe. Neben der Scheu vor dem blutigen chirurgischen Handwerk
habe ich die Abneigung gegen das Giftmischen der Apotheke und
bin so zur Massage und zur psychischen Behandlung gekommen ;
beide sind nicht weniger grausam, aber sie lassen sich besser der
individuellen mensdüidien Lust am Leiden anpassen. Aus den täglich
wechselnden Anforderungen heraus, die Linas Herzleiden an mein
unbewußtes Taktgefühl stellten, wuchs dann die Neigung, mich mit
chronisch Kranken zu besdiäftigen, während mich die akute Erkrankung
ungeduldig macht.
Das ist so ungefähr, was ich vorläufig über die Wahl meines
Berufes mitteilen kann. Wenn Sie es nur ein wenig in Ihrem Herzen
bewegen, wird Duien schon allerlei über meine Stellung zur Wissen-
schaft einfallen. Denn wer von Kindheit an auf den einzelnen Kranken
eingestellt ist, wird schwerlich systematisch rubrizieren lernen. Aber
auch da ist wohl das Wichtigste die Nachahmung. Mein Vater war
ein Ketzer unter den Ärzten, war sich selbst Autorität, ging eigene
Wege und Irrwege und von Respekt vor der Wissenschaft war weder
in Worten nodi in Taten viel bei ihm zu spüren. Ich besinne midi
noch, wie er über die Hoffnungen spottete, die sich an die Entdeckung
des Tuberkel- und Cholerabazillus knüpften, und mit weldiem Hoch-
genuß er erzählte, daß er gegen alle physiologischen Lehrsätze ein
Wickelkind ein Jahr lang nur mit Bouillon gefüttert habe. Das erste
l*
S
•
medizinische Buch, das er mir in die Hände gab, - ich war damals
noch Gymnasiast - war die Erfahrungsheillehre Rademachers,
und da darin die Kampfstellen wider die Wissenschaft dick angestrichen
und reichlich mit Randbemerkungen versehen waren, so ist es wohl
kein Wunder, wenn ich schon vor Beginn meines Studiums geneigt
war zu zweifeln.
Diese Lust am Zweifel war noch anders bedingt. Als ich sechs
Jahre alt war, verlor ich zeitweise die ausschließliche Freundschaft
meiner Schwester. Sie wendete ihre Neigung einer Schulkameradin
zu, die den Namen Alma trug, und was besonders schmerzlich war,
sie übertrug unsere kleinen sadistischen Spiele auf diese neue Freundin
und schloß mich von der Teilnahme daran aus. Es gelang mir ein
einzigesmal, die beiden Mädchen beim Geschiditenerzählen, was sie
besonders hebten, zu belauschen. Alma phantasierte von einer bösen
Mutter, die ihr unartiges Kind zur Strafe in eine Abtrittsgrube steckte,
- man muß sich dabei einen ländlichen primitiven Abtritt vorstellen.
Noch heutigen Tages geht es mir nach, daß ich diese Geschichte nicht
zu Ende gehört habe. Die Freundsdiaft der beiden Mädchen ging
vorüber und meine Schwester kehrte zu mir zurück. Aber jene Zeit
der Einsamkeit hat genügt, um mir eine tiefe Abneigung gegen den
Namen Alma einzuflößen.
Und nun darf ich Sie wohl daran erinnern, daß die Universität
sich Alma Mater nennt. Das hat mich stark gegen die Wissensdiaft
eingenommen, noch mehr, weil das Wort Alma Mater auch für das
Gymnasium angewendet wurde, in dem ich meine humanistische
Bildung erhielt und in dem idi viel gelitten habe, von dem ich viel
erzählen müßte, wenn es darauf ankäme, Ihnen meine menschlidie
Entwicklung begreiflich zu machen. Aber darauf kommt es ja nicht
an, sondern nur auf die Tatsache, daß ich all den Haß und das Leid
meiner Schulzeit auf die Wissenschaft übertrug, weil es bequemer ist,
Trübungen der Seele aus dem äußeren Geschehen herzuleiten, statt
sie in den Tiefen des Unbewußten zu suchen.
Später, erst sehr spät, ist mir klar geworden, daß das Wort Alma
Mater, „nährende Mutter", an die ersten und schwersten Konflikte
meines Lebens erinnert. Meine Mutter hat nur das älteste ihrer
Kinder genährt; sie bekam damals schwere Brustentzündungen, durch
die die Mildadrüsen verödeten. Meine Geburt muß wohl ein paar
Tage früher stattgefunden haben, als beredmet war. Jedenfalls war
die Amme, die für midi bestimmt war, noch nidit im Hause und ich
bin drei Tage kümmerlich von einer Frau gestillt worden, die zwei-
mal am Tage kam, um mir die Brust zu geben. Es hat mir nichts
geschadet, sagte man mir, aber wer kann die Gefühle eines Säuglings
beurteilen? Hungern müssen ist kein freundlicher Willkommengruß
für einen Neugeborenen. Ich habe hie und da Leute kennengelernt,
denen es ähnlich gegangen ist, und wenn ich auch nicht beweisen
kann, daß sie Sdiaden an ihrer Seele gelitten haben, so ist es mir
doch wahrscheinlich. Und im Vergleich zu ihnen glaube ich noch gut
weggekommen zu sein.
Da ist zum Beispiel eine Frau, - ich kenne sie viele, viele Jahre, -
deren Mutter sich von dem neugeborenen Kinde abwandte, sie nährte
es nidit, obwohl sie es bei den andern Kindern tat, und überließ es
dem Kindermädchen und der Flasdie. Das Kind aber hungerte lieber,
als daß es am Gummipfropfen sog, es kränkelte dem Tode entgegen,
bis ein Arzt die Mutter aus ihrer Antipathie aufrüttelte. Da wurde
aus der fühllosen Mutter eine besorgte. Eine Amme kam ins Haus
und die Mutter ließ keine Stunde vergehen, ohne nach dem kleinen
Mäddien zu sehen. Das Kind gedieh nun und ist zu einer kräftigen
Frau herangewachsen. Sie wurde der Verzug der Mutter, die bis zu
ihrem Tode werbend hinter der Tochter herlief. Aber in der Tochter
blieb der Haß. Ihr Leben ist eine stahlharte Kette der Feindschaft,
deren einzelne Glieder von der Rache geschmiedet sind. Sie hat die
Mutter gequält, so lange sie lebte, sie ist vom Sterbebett der Mutter
fortgereist, sie verfolgt, ohne daß sie es weiß, jeden, der an die Mutter
erinnert, und sie wird bis an ihr Lebensende den Neid behalten, den
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ihr der Hunger eingeflößt hatte. Sie ist kinderlos. Menschen, die ihre
Mutter hassen, sind kinderlos, und das ist so wahr, daß man bei un-
fruchtbaren Ehen ohne weiteres annehmen kann, einer von beiden
Teilen ist Feind seiner Mutter. Wer seine Mutter haßt, der fürchtet
sich vor dem eigenen Kind ; denn der Mensch lebt nach dem Satz :
Wie du mir, so idi dir. Dabei wird sie verzehrt von dem Wunsche,
ein Kind zu gebären. Ihr Gang ist der einer Schwangeren, wenn sie
einen Säugling sieht, schwellen ihre Brüste, und wenn ihre Freundinnen
schwanger werden, bekommt sie einen dicken Bauch. Jahrelang ist sie,
die vom Leben und Reichtum Verwöhnte, täglich als Hilfsschwester in
eine Entbindungsanstalt gegangen, hat die Kinder gereinigt, Windeln
gewaschen und Wöchnerinnen versorgt und in wahnsinniger Begierde
die Neugeborenen, verstohlen wie eine Verbredierin, an ihre milch-
losen Brüste gelegt. Aber sie hat zweimal Männer geheiratet, von
denen sie vorher wußte, daß sie zeugungsunfähig waren. Sie lebt vom
Haß, der Angst, dem Neid und der lüsternen Qual des Hungerns nach
Unerreichbarem.
Da ist eine andere, die hungerte auch in den ersten Tagen nach
der Geburt. Sie hat sich nie entschließen können, sich den Haß gegen
die Mutter einzugestehen, aber das Gefühl, die früh verstorbene
Mutter gemordet zu haben, quält sie unablässig, so irrsinnig dieser Ge-
danke ihr auch scheint. Denn die Mutter starb während dieser Ope-
ration, von der das Mädchen vorher nichts wußte. Seit vielen Jahren
sitzt sie einsam und krank in ihrem Zimmer, nährt sich vom Haß
gegen alle Menschen, sieht niemanden, neidet und haßt.
Was midi selbst betrifft, so ist schließlich die Amme gekommen
und sie ist drei Jahre bei uns im Hause geblieben. Haben Sie sich
schon einmal mit den Erlebnissen einen kleines Kindes beschäftigt,
das von der Amme genährt wird? Die Sache ist etwas kompliziert,
wenigstens wenn das Kind von der Mutter geliebt wird. Da ist eine
Mutter, in deren Leibe hat man neun Monate gesessen, sorglos, warm
und in allen Freuden. Sollte man sie nicht lieben? Und dann ist da
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ein zweites Wesen, an dessen Brust man täglich liegt, deren Mildi
man trinkt, deren warme frisdie Haut man fühlt und deren Geruch
man einatmet. Sollte man sie nicht lieben? Zu wem aber soll man
halten? Der Säugling, der von der Amme gestillt wird, ist in den
Zweifel hineingestellt und wird den Zweifel nie verlieren. Seine
Glaubensfähigkeit ist im Fundament erschüttert und das Wählen
zwischen zwei Möglichkeiten ist für ihn schwerer als für andere. Und
was kann einem solchen Menschen, dessen Gefühlsleben man von
Beginn an halbiert hat, den man um die volle Kraft der Leidcnsdiaft
betrügt, das Wort Alma Mater anderes sein als ein Hohn und eine
Lüge? Das Wissen aber wird ihm von vornherein unfruchtbar erscheinen.
Er weiß, die eine dort, die dich nicht nährt, ist deine Mutter und sie
beansprucht dich als ihr Eigentum, die andere aber nährt dich und
doch bist du nicht ihr Kind. Man steht vor einem Problem, das sich
durdi Wissen nicht lösen läßt, vor dem man fliehen muß, gegen
dessen aufdringlidie Frage man am besten in das Reich der Phan-
tasie flüchtet. Und wer in diesem Reidi heimisch ist, erkennt irgend-
wann einmal, daß alle Wissenschaft nichts anderes ist als eine Abart
der Phantasie, ein Spezialfach sozusagen, mit allen Vorzügen und mit
allen Gefahren der Spezialität ausgestattet.
Es gibt auch Menschen, die sidi im Reich der Phantasie nicht
heimisch fühlen, und von einem solchen will ich Rinen kurz berichten.
Er sollte nicht geboren werden, wurde aber doch geboren, trotz Vater
und Mutter. Da versiegte die Milch der Frau und eine Amme kam
ins Haus. Das Söhnchen wuchs inmitten seiner glücklicheren Ge-
schwister, die an der Mutterbrust lagen, heran, aber er blieb zwischen
ihnen ein Fremdling, sowie er auch den Eltern fremd blieb. Und
ohne es zu wollen oder auch nur zu wissen, hat er allmählich die
Bande zwischen den Eltern gesprengt. Sie sind unter dem Druck halb-
bewußter Schuld, die fremden Augen aus der seltsamen Behandlung
des Sohnes deudich wurde, vor einander geflohen und wissen nichts
mehr voneinander. Der Sohn aber wurde ein Zweifler, sein Leben
wurde halb. Ued weil er nicht wagte, phantastisch zu sein, - denn er
sollte ein ehrbarer Mensch werden, und seine Träume waren die des
ausgestoßenen Abenteurers, - begann er zu trinken, ein Schicksal, das
manchen begegnet, der in den ersten Lebenswochen Liebe entbehren
mußte. Aber wie alles, ist auch die Trunksucht bei ihm halb. Nur
zeitweise, für einige Wochen oder. Monate, kommt es über ihn, daß er
trinken muß. Und weil ich ein wenig seinen Irrgängen nachgespürt
habe, weiß ich, daß immer diese kindische Ammensache auftaucht,
ehe er zum Glase greift. Das gibt mir die Gewißheit, daß er genesen
wird. Und nun etwas Seltsames: dieser Mann wählte ein Mädchen
zum Weibe, das ebenso tief im Haß gegen die Eltern steckt wie er,
das ebenso wie er kindernärrisch ist und doch das Kinderkriegen wie
den Tod fürchtet. Und weil das seiner zerrissenen Seele noch keine
Sicherheit gab, ob ihm nicht doch ein Kind geboren werden könnte,
das ihn strafte, erwarb er sidi eine Ansteckung und gab sie seinem
Weibe weiter. Es steckt im Mensdienleben viel unbekannte Tragik !
Mein Brief ist zu Ende. Aber darf ich die Geschichte meiner
Amme weiter erzählen? Ich besinne mich nicht mehr, wie sie aussah,
weiß nichts mehr als ihren Namen: Berta, die Glänzende. Aber ich
habe eine deutliche Erinnerung an den Tag, an dem sie wegging. Sie
schenkte mir zum Abschied einen kupfernen Dreier und ich weiß
genau, daß ich, statt wie sie wollte, Zuckerzeug dafür zu kaufen, mich
auf die steinerne Treppe der Küche setzte und das Dreierstück auf
den Stufen rieb, damit es glänzte. Seitdem hat mich die Zahl drei ver-
folgt. Wörter wie Dreieinigkeit, Dreibund, Dreieck haben etwas An-
rüchiges für mich und nicht nur die Wörter, auch die Begriffe, die
damit verbunden sind, ja ganze Ideenkomplexe, die ein eigensinniges
Knabengehirn darum herum gebaut hat. So ist der heilige Geist als
Dritter schon in früher Kindheit von mir abgelehnt worden, die Lehre
von den Dreieckskonstruktionen ist mir in der Schule eine Plage ge-
wesen und die einst vielgepriesene Dreibundspolitik wurde von mir
von vornherein getadelt. Ja, die Drei ist eine Art Schicksalszahl für
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midi geworden. Wenn ich mein Gefühlsleben rückschauend betrachte,
so sehe ich, daß ich, so oft mein Herz sprach, als Dritter in ein bestehendes
Neigungsverhältnis zweier Menschen eingedrungen bin, daß ich stets
den einen, dem meine Leidenschaft galt, von dem anderen getrennt
habe, und daß meine Neigung erkaltete, sobald mir das gelungen war.
Ja ich kann verfolgen, wie ich, um diese schwindende Neigung am
Leben zu erhalten, von neuem einen Dritten zugezogen habe, um ihn
wieder zu verdrängen. So sind in einer und gewiß keiner unwichtigen
Richtung die Affekte des Doppelverhältnisses zu Mutter und Amme
und der Kampf des Abschiedes ohne Absicht, ja, ohne Wissen von
mir wiederholt worden ; eine nachdenkliche Sache, die zum mindesten
zeigt, daß in der Seele eines dreijährigen Kindes seltsam verworrene
und doch einheitlich gerichtete Dinge vor sich gehen.
Ich habe meine Amme später - etwa mit acht Jahren - noch ein-
mal für wenige Minuten wiedergesehen. Sie war mir fremd und ich
hatte ein schweres Gefühl des Bedrücktseins in ihrer Gegenwart
Von dem Wort Dreier muß idi noch zwei kleine Geschichten er-
zählen, die Bedeutung haben. Als mein älterer Bruder anfing, Latein
zu lernen, fragte ihn mein Vater beim Mittagessen, was die Träne
heiße. Er wußte es nicht ; aus irgendeinem Grund hatte ich mir das
Wort lacrima vom Abend vorher, als Wolf seine Vokabeln laut
memorierte, gemerkt und beantwortete nun an seiner statt die Frage.
Ich bekam zum Lohn ein Fünfgroschenstück. Nach Tisch aber boten
mir meine beiden Brüder an, dieses Fünfgroschenstück gegen einen
blankgeputzten Dreier einzutauschen, was ich mit Freuden tat. Neben
dem Wunsdi, die überlegenen Knaben ins Unrecht zu setzen, müssen
dumpfe Gefühlserinnerungen mitgesprodien haben. - Wenn Sie es
wünschen, erzähle ich Ihnen später einmal, was das Wort lacrima
und Träne für mich bedeutete.
Das zweite Ereignis bringt mich in heitere Stimmung, so oft ich
daran denke. Ein Menschenalter später habe ich für meine Kinder
ein kleines Stück geschrieben, in dem eine vertrocknete, dürre, alte
fl
s
Jungfer vorkommt, ein gelehrtes Wesen, das griediischen Unterricht
gibt und weidlich verladit wird. Und diesem Kind meiner Phantasie,
brüstelos und kahl wie sie war, gab ich den Namen Dreier. So hat
die Flucht vor dem ersten unerinnerbaren Abschiedsschmerz aus dem
leben- und liebestrotzenden Mädchen, das mich stillte und an dem
ich hing, das Abbild dessen gemacht, was mir die Wissenschaft ist.
Es ist wohl ernst genug, was ich Ihnen schrieb, ernst für mich.
Aber ob es das ist, was Sie für unsern Briefwechsel wünschen, wissen
die Götter. Sei dem wie ihm sei, ich bin wie immer ihr ganz getreuer
PATRIK TROLL.
. .
*
LIEBE FREUNDIN, SIE SIND NICHT ZUFRIEDEN; ES IST ZU
viel Persönliches in meinem Brief; und Sie wollen mich objektiv
haben. Ich glaubte, ich sei es gewesen.
Lassen Sie uns sehen : ich schrieb über Berufswahl, Abneigungen
und innerem Zwiespalt, der von Kindheit an besteht. Allerdings sprach
ich von mir selber ; aber diese Erlebnisse sind typisch. Übertragen Sie
sie auf andere Menschen, so wissen Sie über vieles Bescheid. Vor
allem das Eine wird Ihnen klar, daß unser Leben auch von Kräften
regiert wird, die nicht offen zutage liegen, die erst mühsam aufge-
sucht werden müssen. Ich wollte an einem Beispiel, an meinem Beispiel
zeigen, daß sehr vieles in uns vorgeht, was außerhalb unseres ge-
wohnten Denkens liegt. Aber vielleicht sage ich Ihnen besser gleich,
was ich mit meinen Briefen beabsichtige. Sie können dann entscheiden,
ob der Gegenstand ernst genug ist Wenn ich einmal in Klatsch oder
in Redensarten versinke, sagen Sie es; dann ist uns beiden geholfen.
Ich bin der Ansicht, daß der Mensch vom Unbekannten gelebt
wird. In ihm ist ein Es, irgend ein Wunderbares, das alles, was
er tut und was mit ihnT geschieht, regelt Der Satz „ich lebe« ist nur
bedingt richtig, er drückt ein kleines Teilphänomen von der Grund-
10
Wahrheit aus : Der Mensch wird vom Es gelebt. Mit diesem Es werden
sich meine Briefe beschäftigen. Sind Sie damit einverstanden?
Und nun noch eins. Wir kennen von diesem Es nur das, was
innerhalb unsere Bewußtseins liegt. Weitaus das meiste ist unbetret-
bares Gebiet. Aber wir können die Grenzen unsere Bewußtseins durch
Forschung und Arbeit erweitern und wir können tief in das Unbe-
wußte eindringen, wenn wir uns entsdilicßen, nidit mehr wissen zu
wollen, sondern zu phantasieren. Wohlan, mein schöner Doktor Faust,
der Mantel ist zum Flug bereit. Ins Unbewußte . . .
Ist es nicht merkwürdig, daß wir von unsern drei ersten Lebens-
jahren nichts mehr wissen? Hie und da kramt einer noch eine
schwache Erinnerung an ein Gesicht, eine Türe, eine Tapete oder
sonst irgendetwas aus, was er in seiner frühesten Kindheit gesehen
haben will. Aber ich habe noch nie jemanden getroffen, der sidi an
seinen ersten Schritt erinnert hätte oder an die Art, wie er sprechen,
essen, sehen, hören gelernt hat. Und das alles sind doch Erlebnisse.
Ich könnte mir vorstellen, daß ein Kind, wenn es zum ersten Male
durch die Zimmer rutscht, tiefere Eindrücke bekommt als ein Er-
wachsener durch eine Reise nach Italien. Ich könnte mir vorstellen,
daß ein Kind, das zum ersten Male erkennt, der Mensch dort mit
dem gütigen Lädieln ist die Mutter, tiefer davon ergriffen wird, als
ein Mann, der seine Geliebte heimführt. Warum vergessen wir
das alles i
Darauf läßt sich vieles sagen ; aber eine Erwägung muß erst er-
ledigt werden, ehe man an die Antwort gehen kann. Die Frage ist
falsch gestellt. Wir vergessen jene drei ersten Jahre nicht, die Erinne-
rung daran scheidet nur aus unserm Bewußtsein aus, im Unbewußten
lebt sie fort, bleibt sie so lebendig, daß alles, was wir tun, aus diesem
unbewußten Erinnerungsschatze gespeist wird: wir gehen, wie wir
es damals lernten, wir essen, wir sprechen, wir empfinden in der Art,
wie wir es damals taten. Es gibt also Dinge, die vom Bewußtsein
verworfen werden, obwohl sie lebensnotwendig sind, die, weil sie not-
/
U
wendig sind, in Regionen unsere Wesens aufbewahrt werden, die
man das Unbewußte genannt hat. Warum aber vergißt das Bewußt-
sein Erlebnisse, ohne die der Mensdi nicht bestehen kann ?
Darf ich die Frage offen lassen ? Ich werde sie noch oft stellen
müssen. Aber jetzt liegt mir mehr daran, von Ihnen als Frau zu er-
fahren, warum die Mütter so wenig von ihren eignen Kindern
wissen, warum auch sie das Wesentliche dieser drei Jahre vergessen.
Vielleicht tun die Mütter auch nur so, als ob sie es vergäßen. Oder
vielleicht kommt auch ihnen das Wesentliche nicht zum Bewußtsein.
Sie werden schelten, daß idi mich wieder über die Mütter lustig
mache. Aber wie soll ich mir anders helfen ? In mir lebt die Sehn-
sucht. Wenn ich trübe bin, ruft mein Herz nach der Mutter und
findet sie nicht. Soll ich mit Gott und der Welt grollen ? Da ist es
besser, über sich selbst zu lachen, über dieses Kindsein, aus dem man
nie herauskommt. Denn mit dem Erwachsensein ist es solch eine
Sache ; man ist es selten, nur auf der Oberfläche, spielt es nur, wie
das Kind auch Großsein spielt. Sobald wir tief leben, sind wir Kind.
Für das Es gibt es kein Alter, und das Es ist unser eigentliches
Leben. Sehen Sie sich doch den Menschen in den Augenblicken tiefsten
Leidens, tiefster Freude an: das Gesicht wird kindlich, die Bewegun-
gen werden es, die Stimme bekommt die Biegsamkeit wieder, das
Herz klopft wie in der Kindheit, die Augen glänzen oder trüben sich.
Gewiß, wir suchen das alles zu verstecken, aber es ist doch deutlich
da und wir bemerken es nur nicht ohneweiteres, weil wir die
kleinen Zeichen, die so laut reden, an uns selbst nicht wahrnehmen
wollen und sie deshalb auch bei andren übersehen. Man weint nicht
mehr, wenn man erwachsen ist? Doch bloß, weil es nicht Sitte ist,
weil irgend ein dummer Teufel es aus der Mode brachte. Mir hat
es immer Spaß gemacht, daß Ares wie zehntausend Männer schrie,
als er verwundet wurde. Und daß Achill Tränen über Patroklos ver-
gießt, setzt ihn nur in den Augen des Gernegroß herab. Wir
getrauen uns nicht einmal, aufrichtig zu lachen. Aber das hindert
12
dodi nicht, daß wir, wenn wir etwas nicht können, wie Schuljungen
aussehen, daß wir denselben Ausdruck der Angst haben, den wir
als Knaben hatten, daß uns kleine Gewohnheiten des Gehens,
Iiegens, Sprechens unablässig begleiten und jedem, der es sehen will,
sagen: Sieh da, ein Kind. Beobadrten Sie jemanden, der allein zu
sein glaubt, sofort kommt das Kind zum Vorschein, manchmal in sehr
komischer Form, man gähnt, man kratzt sich ungeniert am Kopf und
Hintern, man popelt gar in seiner Nase und -ja es muß gesagt sein -
man pupt. Die feinste Dame pupt. Oder beobachten Sie Mensdien,
die ganz versenkt in irgend eine Tätigkeit, in irgend ein Denken
sind, schauen Sie sich Liebende an oder Kranke oder Greise; sie alle
sind hie und da Kinder.
Wenn man es sich ein wenig zurecht legt, kommt einem das
Leben wie ein Maskenfest vor, zu dem man sich verkleidet, vielleidit
zehn-, zwölf-, hundertmal verkleidet, aber man geht doch hin als
das, was man ist, bleibt unter der Verkleidung inmitten der Masken,
was man ist, und geht wieder davon genau so, wie man hin-
ging. Das Leben beginnt mit dem Kindsein und geht auf tausend
Wegen durch das Mannesalter hin nach dem einen Ziel, wieder Kind
zu werden, und nur der einzige Unterschied ist zwischen den Men-
schen, ob sie kindisch werden oder kindlich.
Dasselbe Phänomen, daß in uns etwas ist, was nach eigenem Be-
lieben in allen möglichen Altersstufen auftritt, können Sie auch bei
Kindern sehen. Das Greisenhafte im Säuglingsantlitz ist bekannt und
oft besprochen. Aber gehen Sie über die Straße und sehen Sie sidi
die kleinen drei-, vierjährigen Mädchen an, - bei ihnen ist es deut-
licher als bei den Knaben, wofür sich wohl ein Grund angeben ließe ;
- sie sehen mitunter aus, als ob sie ihre eignen Mütter wären. Und
zwar alle, nicht nur hie und da eine, die früh vom Leben angefaßt
ist, nein, eine jede und ein jeder hat diesen seltsam alten Ausdruck
zu Zeiten. Da ist eine, die hat den zänkischen Mund der verbitterten
Frau, dort eine, deren Lippen die Neigung zum Klatsch verraten, dort
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13
weder sehen Sie die alte Jungfer und dort die Koke«e im A
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14
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nörl'OfflniDaimn
wudis mir ein Kropf am Halse. Ich wußte damals noch nicht, was ich
jetzt weiß oder zu wissen glaube. Genug, ich lief zehn Jahre lang mit
einem dicken Hals durch die Welt und hatte mich damit abgefunden,
dies Ding vor meiner Kehle mit ins Grab zu nehmen. Dann kam die
Zeit, wo ich das Es kennen lernte, und ich sah ein, - auf weldiem
Wege ist nicht nennenswert, - daß jener Kropf ein phantasiertes Kind
sei. Sie haben sich selbst gewundert, wie ich jenes monströse Ding los
werden konnte, ohne Operation, ohne Behandlung, ohne Jod und
Thyreoidin. Ich bin der Ansicht, daß der Kropf verschwand, weil mein
Es einsehen lernte und mein Bewußtsein einsehen lehrte, daß ich
wirklich wie jeder Mensch ein doppeltes Geschlechtswesen und -leben
habe, daß es unnötig ist, das handgreiflich durch eine Geschwulst zu
beweisen. Weiter, jene Frau, die ohne Not im Wöchnerinnenheim
die Wonne fremder Entbindungen genoß, hat Zeiten, in denen ihre
Brüste ganz verkümmern ; dann wacht in ihr das Mannsein auf und treibt
sie unwiderstehlich dazu, im Liebesspiel den Mann unter sich zu legen
und auf ihm zu reiten. Das Es der dritten, jener Einsamen ließ zwischen
ihren Schenkeln ein Gewächs entstehen, das wie ein Schwänzchen
aussah, und - seltsam zu denken - sie pinselte es mit Jod, wie sie
glaubte, um es zu beseitigen, in Wahrheit um dem Kopf des Gebildes
den roten Schein der Eichel zu geben. Dem letzten Ammenkind, das
ich erwähnte, geht es wie mir, ihm schwillt der Bauch in phantastischer
Schwangerschaft. Und dann hat er Gallenkoliken, Entbindungen, wenn
Sie wollen, vor allem aber hat er mit dem Blinddarm zu tun - wie
alle, die gern kastriert werden, Weib werden wollen; denn das Weib
entsteht - so glaubt das kindische Es, - aus dem Mann durch Ab-
schneiden der Geschlechtsteile. Drei Anfälle von Blinddarmentzündung
kenne ich bei ihm. Bei allen dreien ließ sich der Wunsch, Weib zu
sein, nadiweisen. Oder habe ich ihm den Wunsch nur eingeredet,
Weib zu sein? Das ist schwer zu sagen.
Idi muß Ihnen noch von einem fünften Ammenkind erzählen,
einem mit Talent reidi begabten Manne, der aber als Wesen mit zwei
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. vj
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Müttern in allem halb ist und der Halbheit mit Pantopon Herr zu
werden sucht. Aus Aberglauben, behauptet die Mutter, hat sie ihn
nicht genährt; zwei Söhne waren ihr gestorben, diesen dritten hat sie
nicht an die Brüste gelegt. Er aber weiß nicht, ob er Mann oder Weib
ist, sein Es weiß es nicht. In früher Kindheit wurde das Weib in ihm
lebendig, da lag er lange krank an einer Herzbeutelentzündung, einer
phantasierten Herzschwangerschaft. Und später hat sich das wiederholt
als Brustfellentzündung und homosexueller unwiderstehlicher Zwang.
Lachen Sie ruhig über mein abenteuerliches Märchenerzählen. Ich
bin gewöhnt, verlacht zu werden, und habe es gern, mich ab und zu
von neuem dagegen abzuhärten.
Darf ich Ihnen noch eine kleine Geschichte erzählen ? Ich habe sie
von einem Mann, der längst begraben ist, vom Krieg verschlungen.
Er ist fröhlich in den Tod hineingesprungen, denn er gehörte zu dem
Typus der Helden. Er erzählte davon, wie der Hund seiner Schwester,
ein Pudel, eines Tages, er mochte damals siebzehn Lebensjahre zählen,
sich an seinem Beine gerieben, onaniert habe. Er habe interessiert
zugesehen, als dann aber der Samen über sein Bein geflossen sei,
habe ihn plötzlich die Idee gepackt, daß er nun junge Hunde gebären
werde, und diese Idee sei ihm Wochen und Monate lang nachgegangen.
Wenn Sie Lust hätten, könnten wir uns jetzt ein wenig ins
Märchenland begeben, von den Königinnen sprechen, denen statt der
echten Söhne neugeborne Hunde in die Wiege gelegt werden, und
könnten daran allerlei Betrachtungen über die seltsame Rolle knüpfen,
die der Hund im verschwiegenen Leben des Menschen spielt, Betrach-
tungen, die ein helles Licht auf den pharisäischen Abscheu des Men-
schen vor perversem Empfinden und Handeln werfen. Aber vielleicht
wäre das ein wenig zu intim. Bleiben wir lieber bei der Schwanger-
schaft des Mannes. Sie ist recht häuBg.
Das Auffällige bei einer Schwangeren ist der dicke Bauch. Was
sagen Sie dazu, daß ich vorher behauptete, auch beim Manne sei der
dicke Bauch als Schwangerschaftserscheinung zu deuten ? Selbstverständ-
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lidi hat er nidit wirklich ein Kind im Leib. Aber sein Es sdiafft sidi
diesen dicken Baudi an, durch Essen, Trinken, durch Blähungen oder
sonstwie, weil er schwanger zu sein wünscht und infolgedessen
schwanger zu sein glaubt. Es gibt symbolisdie Schwangerschaften und
symbolische Geburten, sie entstehen im Unbewußten und dauern mehr
oder weniger lange, sie verschwinden aber unbedingt, wenn die unbe-
wußten Vorgänge in ihrer symbolischen Bedeutung aufgedeckt werden.
Das ist nicht ganz einfach, aber hie und da gelingt es, namentlich bei
Auftreibungen des Bauches durch Luft oder bei irgend welchen
symbolisdien Entbindungssdimerzen in Leib, Kreuz, Kopf. Ja, so
sonderbar ist das Es, daß es sich gar nidit um die anatomisch-
physiologisdie Wissenschaft kümmert, sondern selbstherrlich die alte
Sage von Athenes Geburt aus dem Haupt des Zeus wiederholt. Und
idi bin Phantast genug anzunehmen, daß dieser Mythus - ähnlich
wie andere - dem Walten des Unbewußten entsprungen ist. Der Aus-
druck, mit Gedanken sdiwanger gehen, muß wohl tief drin im Menschen
sitzen, ihm besonders wichtig sein, daß er ihn zur Sage umgestaltet hat.
Selbstverständlich kommen solche symbolische Schwangerschaften
und Geburtswehen auch bei gebärfähigen Frauen vor, vielleicht sind
sie bei ihnen noch häufiger; sie entstehen aber ebensogut bei alten
Frauen, scheinen sogar während und nach dem Klimakterium eine
große Rolle in den verschiedensten Krankheitsformen zu spielen ; ja
auch Kinder geben sich mit solchen Phantasiefortpflanzungen ab, selbst
solche, von denen ihre Mütter annehmen, sie glaubten an den Storch.
Soll ich Sie noch ein wenig mehr durch abenteuerliche Behaup-
tungen ärgern ? Soll ich Ihnen sagen, daß auch die Nebenerscheinungen
der Gravidität, die Übelkeit, die Zahnsdimerzen - ab und zu - sym-
bolische Wurzeln haben ? Daß Blutungen aller Art, vor allem natürlich
unzeitgemäße Gebärmutterblutungen, aber auch Blutungen aus Nase,
After, Lungen in engem Zusammenhang mit Geburtsvorstellungen
stehen ? Oder daß die Plage der kleinen Mastdarmwürmer, die manchen
Menschen sein ganzes Leben hindurch verfolgt, häufig in der Assozia-
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2 G r o (1 (1 e c k, Das Buch vom Es
4
tion Wurm und Kind ihren Ursprung hat und versandet, sobald
den Würmchen der Nährboden des unbewußten symbolischen Wunsches
entzogen ist?
Ich kenne eine Frau, - sie gehört auch zu den kinderliebenden,
kinderlosen, denn sie haßt ihre Mutter - die verlor für fünf Monate
ihre Periode, ihr Leib schwoll an und ihre Brüste, und sie hielt sich
für schwanger. Eines Tages sprach ich lange mit ihr über den Zu-
sammenhang der Würmer mit Schwangerschaftsideen bei einem ge-
meinsamen Bekannten. Am selben Tage gebar sie einen Spulwurm
und m der Nacht bekam sie ihr Unwohlsein und der Bauch flachte ab
Damit wäre ich schon auf die Gelegenheitsursachen solcher Ge-
dankenschwangerschaften gekommen. Sie gehören - man kann wohl
sagen alle - in das Gebiet der Assoziation, von der ich eben als
Bersprel Wurm und Kind nannte. Meist sind diese Assoziationen sehr
weitläufig, vielgestaltig und, weil sie aus der Kindheit stammen, sind sie
nur mühsam in das Bewußtsein zu bringen. Aber es gibt auch einfache
schlagende Assoziationen, die sofort einem jeden einleuchten. Einer
meiner Bekannten erzählte mir, daß er in der Nacht vor der Ent-
bindung seiner Frau dieses nach seiner Ansicht qualvolle Erlebnis auf
eine eigentümliche Art auf sich zu nehmen suchte. Er träumte nämlich
daß er selbst das Kind bekäme, träumte es in allen Einzelheiten, wie*
er sie bei früheren Geburten kennen gelernt hatte, wachte im Moment,
als das Kind zur Welt kam, auf und hatte, wenn auch nicht ein
Kindchen, dodr etwas Lebenswarmes aus sich herausbefördert, wie er
es seit seiner frühen Knabenzeit nicht mehr getan hatte.
Nun, das war ein Traum ; aber wenn Sie sich bei ihren Freunden
und Freundinnen umhören, werden Sie zu Ihrer Überraschung ent-
decken, wie gewöhnlich es ist, daß Ehemänner oder Großmütter oder
Kinder die Entbindung ihrer Verwandten gleichzeitig am eigenen Leibe
mit durchmachen.
So deutliche Beziehungen sind jedoch nicht nötig. Es genügt oft
der Anbück eines kleinen Kindes, einer Wiege, einer Milchflasche. Es
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genügt auch) bestimmte Dinge zu essen. Sie werden ja selbst genug
Menschen kennen gelernt haben, die einen aufgetriebenen Leib nach
Kohl bekommen oder nach Erbsen, Bohnen, nach Möhren oder Gurken.
Mitunter stellen sich dann auch Geburtswehen in Gestalt von Bauch-
schmerzen ein, ja die Geburt selbst in der Form des Erbrechens oder
des Durchfalls kommt zustande. Die Verbindungen, die das Es, für
unsern hochgeschätzten Verstand töricht genug, im Unbewußten macht,
sind geradezu lächerlich. So findet es zum Beispiel im Kohlkopf Ähn-
lichkeiten mit dem Kindskopf, Erbsen und Bohnen liegen in ihren
Hülsen wie das Kind in der Wiege oder im Mutterleibe, Erbsensuppe
und Erbsenbrei erinnern es an Windeln, und nun gar Möhren und
Gurken : Was denken Sie von denen ? Sie kommen nicht darauf, wenn
ich Ihnen nicht helfe.
Wenn Kinder mit einem Hunde spielen, ihn beobachten und in
allen seinen Tätigkeiten mit lebhaftem Interesse verfolgen, sehen sie
zuweilen, daß dort, wo der Apparat für seine kleinen Geschäfte an-
gebracht ist, ein spitzes rotes Ding zum Vorschein kommt, das wie
eine Möhre aussieht. Sie zeigen dieses seltsame Phänomen der Mutter
oder wer gerade in der Nähe ist, und erfahren durch Worte oder den
verlegenen Bück des Erwachsenen, daß man von so etwas nicht spricht,
es überhaupt nicht bemerkt. Das Unbewußte hält dann den Eindruck
fest, mehr oder minder deutlich, und weil es Möhre und des Hundes
rote Spitze einmal identifiziert hat, bleibt es hartnäckig bei der Idee,
auch die Möhren seien verbotene Dinge, und es antwortet auf das
Angebot, sie zu essen, mit Abneigung, Ekel oder nüt symbolischer
Schwangerschaft. Denn audi darin ist das kindliche Unbewußte seltsam
dumm im Vergleich zu unserm hodigelobten Verstand, daß es glaubt
die Keime zum Kinde kämen durch den Mund, durch Essen in den
Bauch, in dem sie dann wachsen ; etwa wie Kinder auch glauben, daß
aus einem versdiluckten Kirschkern ein Kirsdibaum im Leibe wächst.
Daß aber das rote Ding des Hundes etwas mit dem Kinderkriegen zu
tun hat, das wissen sie in ihrer dunkeln Kinderunschuld ebenso gut
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oder ebenso verworren, wie daß der Keim zum Brüderchen oder
Schwesterchen, ehe er in die Mutter hineingeriet, irgendwie und
irgendwo in dem merkwürdigen Anhängsel des Mannes oder Knaben
sitzen muß, das so aussieht wie ein an falscher Stelle angebrachtes
Schwänzchen, an dem ein Säckchen mit zwei Eiern oder Nüssen hängt
und von dem man auch nur mit Vorsicht spricht, das man nur beim
Pipimachen anfassen darf und mit dem zu spielen nur der Mutter
erlaubt ist
Sie sehen, der Weg, der von der Mohrrübe zur Phantasie-
schwangerschaft führt, ist ein wenig lang und nicht leidit zu finden.
Wenn man ihn jedoch kennt, weiß man auch, was die Unbekömmlich-
keit der Gurken bedeutet, denn die Gurke hat ja außer ihrer fatal
spaßhaften Ähnlidikeit mit Vaters Glied auch noch in ihrem Innern
Kerne, die die Keime zukünftiger Kinder sinnig symbolisieren.
Ich bin arg weit von meinem Thema abgekommen, aber ich wage
zu hoffen, daß Sie, liebe Freundin, aus persönlicher Zuneigung zu mir,
solche verworrene Briefe, wie der heutige einer ist, zweimal lesen.
Dann wird Ihnen klar werden, was ich mit all meinen Ausführungen
sagen wollte, daß das Es, jenes Ding, von dem wir gelebt werden,
auch die Geschleditsunterschiede nidit ohne weiteres anerkennt, ebenso
wenig wie die Altersunterschiede. Und damit glaube ich Ihnen
wenigstens eine Ahnung von der Unvernunft dieses Wesens gegeben
zu haben. Vielleicht begreifen Sie auch, warum ich mitunter so weibisch
bin, ein Kind gebären zu wollen. Wenn es mir aber nidit gelungen
ist, mich deutlich zu madien, werde ich das nächstemal klarer zu sein
versudien.
Herzlichst Ihr
PATRIK TROLL.
3-
ALSO ICH BIN NICHT KLAR GEWESEN, ES GEHT IN MEINEM
Brief alles durcheinander, Sie wollen die Dinge hübsch geordnet haben,
vor allem belehrende, wissenschaftliche, feststehende Tatsachen hören
und nicht meine abstrusen Ideen, die teilweise, wie zum Beispiel die
Gesdiidite von den dicken Leuten, die schwanger sein sollen, schon
beinahe verrückt sind.
Ja, liebste Freundin, wenn Sie belehrt sein wollen, würde idi Ihnen
raten, eins von den Lehrbüchern in die Hand zu nehmen, wie sie an
Universitäten üblich sind. Für meine Briefe gebe ich Ihnen hiemit
den Schlüssel: was vernünftig oder nur ein wenig seltsam klingt,
stammt von Professor F r e u d in Wien und dessen Mitarbeitern ; was
ganz verrückt ist, beanspruche idi als mein geistiges Eigentum.
Meine Behauptung, die Mütter wüßten nicht mit ihren Kindern
Bescheid, finden Sie gesucht. Gewiß könne sich audi das Mutterherz
irren, irre sich wahrscheinlich öfter, als die Mutter selbst es ahne, irre
sich sogar zuweilen in den wichtigsten Lebensfragen, aber wenn es
überhaupt ein sicheres Gefühl gäbe, so sei es die Mutterliebe, dieses
tiefste aller Geheimnisse.
Wollen wir uns ein wenig von der Mutterliebe unterhalten ? Ich
gebe nicht vor, dieses Geheimnis, das auch ich für tief halte, lösen zu
können ; doch es läßt sidi allerlei darüber sagen, was gewöhnlich nidit
gesagt wird. Man beruft sich meist auf die Stimme der Natur, aber
diese Stimme spricht oft eine seltsame Sprache. Man braucht nicht erst
auf das Phänomen der Abtreibungen einzugehen, die von jeher gang
und gäbe gewesen sind und die aus der Welt zu schaffen nur irgend-
wie gewissensgepeinigte Gehirne sich ausdenken ; es genügt schon, eine
Mutter vierundzwanzig Stunden lang im Verkehr mit ihrem Kinde zu
beobaditen, man bekommt dann ein gut Teil Gleichgültigkeit, Über-
druß, Haß zu sehen. Es lebt eben außer der Liebe zum Kinde in
jeder Mutter audi die Abneigung gegen das Kind. Der Mensch steht
unter einem Gesetz, das lautet: Wo Liebe ist, da ist auch Haß, wo
Achtung ist, da ist Verachtung, wo Bewunderung ist, da ist Neid.
Dieses Gesetz gilt unverbrüchlidi und auch die Mütter machen keine
Ausnahme davon.
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Wußten Sie um dieses Gesetz? Daß es auch für die Mütter gilt?
Wenn Sie die Mutterliebe kennen, kennen Sie audi den Mutterhaß ?
Ich wiederhole meine Frage: woher kommt es, daß die Mutter
so wenig von ihrem Kinde weiß ? Bewußt weiß ? Denn das Unbe-
wußte kennt dieses Gefühl des Hasses, und wer das Unbewußte zu
deuten versteht, wird an der Allgewalt der Liebe irre; er sieht, daß
der Haß ebenso groß ist wie die Liebe und daß zwischen beiden die
Gleichgültigkeit als Norm steht. Und voller Erstaunen, dem nie en-
denden Gefühle dessen, der sich in das Leben des Es vertieft, geht er
den Spuren nach, die hie und da von den begangenen Wegen abführen,
um im rätselhaften Dunkel des Unbewußten zu versdiwinden. Vielleicht
leiten diese leidit und oft übersehenen Spuren zu derAntwort hin, warum
die Mutter nichts von dem Haß gegen das Kind weiß oder nichts wiss"eli
will, vielleicht sogar, warum wir alle unsre ersten Lebensjahre vergessen.
Zunächst, liebe Freundin, muß ich Ihnen erst sagen, worin sich
diese Abneigung, dieser Mutterhaß zeigt Denn so ohne weiteres, bloß
aus Freundschaft, werden Sie es nicht glauben.
Wenn im Roman, der nadi den Regeln des lesenden Publikums
gebaut ist, das Liebespaar nach vielen Fährlichkeiten endlich vereint
ist, kommt eine Wendung, daß sie errötend ihren Kopf an seiner
breiten Brust birgt und ihm ein holdes Geheimnis anvertraut. Das
ist sehr hübsch ; aber im Leben meldet sich die Schwangerschaft, ab-
gesehen von dem Ausbleiben der Periode, auf eine redit eklige Weise
durch Übelkeit und Erbrechen ; nicht immer, um diesen Einwand
gleich zu erledigen, und ich will hoffen, daß die Dichterund Dichter-
innen in ihren Ehen dieses Erbrechen der Schwangeren ebensowenig
erleben wie in ihren Romanen. Aber Sie werden mir zugeben es ist
recht häufig. Und die Übelkeit entsteht aus dem Widerwillen des Es
gegen irgend etwas, was im Innern des Organismus ist, Übelkeit
drückt den Wunsch aus, dieses Widerwärtige zu entfernen, und Er-
brechen ist der Versuch, es fortzuschaffen. In diesem Falle also der
Wunsch und Versudi der Abtreibung. Was sagen Sie dazu?
22.
Ich kann Ihnen vielleicht später einmal meine Erfahrungen über
das Erbrechen, wie es außerhalb der normalen Schwangerschaft vor-
kommt, mitteilen, es bestehen da wieder beachtenswerte symbolische
Zusammenhänge, kuriose Assoziationen des Es. Hier möchte ich Sie
aber darauf hinweisen, daß sich bei diesen Übelkeiten wieder der
Gedanke meldet, der Keim zum Kinde werde in den Mund der Frau
eingeführt, und darauf deutet auch das andere Sdiwangerschafts-
zeidicn, das von dem Widerwillen der Frau gegen das Kind ge-
schaffen wird, der Zahnschmerz.
Mit der Erkrankung des Zahns sagt das Es mit der leisen aber
aufdringlichen Stimme des Unbewußten : Kaue nicht ; nimm dich in
Adit, spuck aus, was du gern essen möchtest ! Nun ist allerdings beim
Zahnschmerz der Schwangeren die Vergiftung durch den Samen des
Mannes schon Tatsache, aber vielleicht hofft das Unbewußte, mit dem
bißchen Gift noch fertig zu werden, wenn nur kein neues dazukommt
Tatsächlich sucht es auch schon das lebenige Gift der Schwängerung
zu töten, eben durch den Zahnschmerz. Denn - hier kommt wieder
einmal der völlige Mangel an Logik zum Vorschein, durch den das Es
sich als tief unter dem denkenden Verstände stehend erweist - das
Unbewußte verwechselt Zahn und Kind. Für das Unbewußte ist der
Zahn ein Kind. Ja, wenn idi es mir recht überlege, kann idi diese
Idee des Unbewußten nicht einmal dumm finden ; sie ist nicht alber-
ner, als der Gedanke Newtons, der im fallenden Apfel das Weltall
sah. Und für mich ist es noch sehr fraglich, ob nicht die Assoziation
des Es Zahn-Kind viel wichtiger und wissenschaftlich fruchtbarer war
und ist, als Newtons astronomische Folgerungen. Der Zahn ist das ,
Kind des Mundes, der Mund ist die Gebärmutter, in der er wächst,
genau so wie der Fötus im Mutterleibe wächst. Sie wissen ja, wie
stark diese Symbolik im Menschen wurzelt, sonst könnte er nicht auf
den Ausdruck Gebärmuttermund, Schamlippen gekommen sein.
Der Zahnschmerz ist also der unbewußte Wunsch, daß der Keim /
des Kindes erkranken, sterben soll. Woher ich das weiß ? Nun unter
23
/
anderem - es gibt viele Wege zu solchem Wissen - daher, daß Er-
brechen und Zahnschmerz versdiwinden, wenn man der Mutter den
unbewußten Wunsch nach dem Tode des Kindes zum Bewußtsein
bringt Sie sieht dann ein, wie wenig diese Mittel dem Zweck dienen,
gibt sogar oft genug den von Gesetz und Sitte getadelten Zweck auf
wenn sie ihn in seiner krassen Nacktheit vor sidi sieht
Auch die seltsamen Gelüste und Abneigungen der Frauen in
guter Hoffnung stammen teilweise von dem Haß gegen das Kind
Jene führen auf die Idee des Unbewußten zurück, mit bestimmten
Speisenden Kindeskeim zu vernichten; diese haben ihren Grund
dann, daß sie durch irgendwelche Assoziation an das Faktum der
Schwangerschaft oder der Schwängerung erinnern. Denn so stark ist
zu Zeiten die Abneigung, - bei jeder Frau, was ihrer Liebe zu dem
kommenden Kind keinen Abbruch tut, - so stark ist sie, daß selbst
der bloße Gedanke daran erdrückt werden soll.
So geht es ins Unendliche weiter. Wollen Sie mehr hören ? Ich
sprach vorhin von der Abtreibung, einem Verfahren, das der sittliche
Mensch mit aller nur möglichen Verachtung verwirft - öffentlich. Aber
das Vermeiden der Schwängerung ist doch, wissenschaftlich betrachtet
und im Resultat, dasselbe. Und darüber braudie idi Sie wohl nicht
aufzuklären, wie gebräuchlich das ist. Auch über die Weise, wie man
das macht, ist Belehrung nicht nötig. Höchstens lohnt es sich, Sie
darauf aufmerksam zu machen, daß das Ledigbleiben auch eine Art
ist, das verhaßte Kind zu vermeiden, was sich recht häufig als Grund
der Ehelosigkeit und Tugend nachweisen läßt. Und wenn denn doch
einmal die Ehe geschlossen ist, so kann man immer noch versuchen,
den Mann von sich abzuschrecken. Es genügt dazu, immer wieder in
Wort und Tat - oder vielmehr Untätigkeit - zu betonen, welch Opfer
das Weib dem Manne bringt. Es gibt genug Männer, die diese Dumm-
heit glauben und voll scheuer Ehrfurcht diese höheren Wesen an-
staunen, die entsagend den Schmutz des Unterleibs dulden, um der
lieben Kinder und des lieben Mannes Willen. Gottes Gedanken sind
24
I
für den edlen Menschen darin nicht verständlich ; aber er will, daß
das Kind im Sumpf der Schweinerei gezüchtet wird, und also muß
man sich fügen. Aber zeigen darf man dem Manne, wie man das alles
verachtet, zeigen muß man es ihm, sonst kommt er gar dahinter, daß
es manchen Ersatz für seine Liebesbezeugungen gibt, Ersatz, auf den
man nicht gern verzichtet. Und hat man den Mann erst so weit, daß
er den armseligen Genuß aufgibt, in der Scheide seines angetrauten
Weibes Onanie zu treiben, so kann man ihm tausendfach die Schuld
für Jede schlechte Stimmung und für die freudlose Kindheit der
Sprößlinge, für das Unglück der Ehe zusdireiben.
Und dann weiter, wozu gibt es Krankheiten? Besonders Unter- J
leibsleiden? Sie sind in vielen Richtungen angenehm. Da ist zunächst
die Möglichkeit, das Kind zu vermeiden. Da ist weiter die Genug-
tuung, vom Arzt zu hören, daß man durch den Mann, durch dessen
liederliches Vorleben krank geworden ist ; denn man kann nie ge-
nug Waffen in der Ehe haben. Da ist vor allem — wenn ich zu in-
tim werde, bitte idi es offen zu sagen, - da ist vor allem die Mög-
lichkeit, einem fremden Manne sich zu zeigen. Man erlebt die schön-
sten Sensationen auf dem Untersuchungsstuhl, Sensationen, die so
mächtig sind, daß sie das Es verführen, Krankheiten in mannigfacher
Form hervorzubringen.
Mir lief kürzlich ein Weiblein über den Weg, das ehrlicher Laune
war. „Vor Jahren," erzählte sie mir, „sagten Sie einmal, man gehe
zum Frauenarzt, weil man gern einmal eine andere Hand als die des f
Geliebten spüren möchte, ja, man werde zu diesem Zweck wirklich
krank. Ich bin seitdem nie wieder untersucht worden und nie wieder
krank gewesen." So etwas zu hören ist hübsch und lehrreich. Und
weil es lehrreich ist, teile ich es Ihnen mit. Denn das Merkwürdige
dabei ist, daß ich jener Frau die zynische Wahrheit nidit mit der
Absicht sagte, ihr ärztlich zu helfen, sondern um sie zum Lachen zu
bringen oder sie zu ärgern. Das Es des Weibleins aber machte ein
Heilmittel daraus, tat damit eine Arbeit, die weder ich noch sechs
25
andere Ärzte fertig gebradit hätten. Was soll man solchen Tatsachen
gegenüber vom Helfenwollen des Arztes sagen? Man schweige be-
schämt und denke : alle Dinge gehen zum besten.
Alles Wesentliche geht auch bei der Gynäkologie außerhalb des
Bewußtseins vor sich ; mit dem Verstände läßt sich der Arzt aus-
suchen, vor dem man hegen will, läßt sich das Wäschestück daraufhin
prüfen, ob es hübsch genug ist, läßt sich Bidet und Seife brauchen,
aber schon bei der Art, wie man sich hinlegt, versagt die Absicht und
das Unbewußte regiert; und nun gar erst bei der Wahl der Erkran-
kung, bei dem Wunsch, krank zu werden. Das ist lediglich Sache des
Es. Denn das unbewußte Es, nidit der bewußte Verstand schafft die
Krankheiten. Sie kommen nicht von außen als Feinde, sondern sind
zweckmäßige Schöpfungen unsere Mikrokosmos, unsere Es, genau so
zweckmäßig wie der Aufbau der Nase und des Auges, die ja auch
vom Es geschaffen werden. Oder finden Sie es unmöglich, daß ein
Wesen, das aus Samenfaden und Ei einen Menschen mit Menschen-
gehirn und Menschenherz macht, einen Krebs oder eine Lungen-
entzündung oder eine Gebärmuttersenkung hervorrufen kann ?
Das nur nebenbei zur Erklärung, daß ich nicht etwa annehme,
die Frau erfinde sidi ilir Unterleibsleiden aus Bosheit oder Gier. Das
ist nicht meine Meinung. Sondern das Es, das Unbewußte zwingt ihr
diese Erkrankung auf, gegen ihren bewußten Willen, weil dls Es
gierig ist, boshaft ist und sein Recht verlangt. Erinnern Sie mich doch
gelegentlich daran, daß ich Ihnen etwas darüber sage, wie sich das Es
/ sein Recht auf Genuß verschafft, im Guten wie im Bösen.
Nein, meine Meinung von der Macht des unbewußten und der
Ohnmacht des bewußten Willens ist so groß, daß ich sogar die simu-
lierten Erkrankungen für Äußerungen des Unbewußten halte, daß mir
das bewußte Sichkrankstellen eine Maske ist, hinter der sich weite
und unübersichtliche Gebiete der dunklen Lebensgeheimnisse ver-
bergen. In diesem Sinne ist es für den Arzt gleichgültig, ob er be-
logen wird oder die Wahrheit hört, wenn er nur ruhig und sachlich
26
die Aussage des Kranken, seiner Zunge sowohl wie seiner Gebärde
wie seiner Symptome, prüft und daran herumarbeitet, schlecht und
recht, wie er es vermag.
Aber ich vergesse, daß ich Ihnen von dem Haß der Mutter gegen
das Kind erzählen wollte. Und da muß ich noch ein seltsames Ver-
fahren des Unbewußten erwähnen. Denken Sie sich, es kann sein, -
und es ist oft so, - daß eine Frau sich mit allen Neigungen ihres
Herzens ein Kind wünscht und doch unfruchtbar bleibt, nicht weil der
Mann oder sie selbst steril ist, sondern weil eine Strömung im Es ist,
die hartnäckig dabei bleibt : es ist besser, wenn du kein Kind kriegst.
Und diese Strömung wird jedesmal, wenn die Möglichkeit der Schwän-
gerung gegeben ist, wenn der Same in der Scheide ist, so mächtig,
daß sie die Befruchtung verhindert. Sie verschließt etwa den Mutter-
mund, oder sie läßt ein Gift entstehen, das die Samentierchen um- /
bringt, oder sie tötet das Ei, oder wie Sie sich das nun denken mögen.
Das Resultat ist jedenfalls, daß keine Schwangerschaft zustande kommt,
lediglich, weil das Es es nicht will. Man könnte fast sagen, weil die
Gebärmutter es nicht will, so unabhängig sind diese Vorgänge vom
hehren Gedanken des Menschen. Auch darüber muß ich gelegentlich
ein Wort sagen. Genug, die Frau bekommt kein Kind, bis - ja, bis
das Es durch irgendein Ereignis, vielleicht durch eine Behandlung,
davon überzeugt wird, daß seine Abneigung gegen die Schwanger-
schaft irgendein Rest von kindischen Gedanken aus dem frühesten
Lebensalter ist. Sie glauben gar nicht, liebste Freundin, was für selt-
same Ideen bei der Erforschung solcher Verweigerungen der Mutter-
schaft zum Vorschein kommen. Ich kenne eine Frau, der spukt es im
Kopf herum, daß sie ein doppelköpfiges Kind bekommen werde ; durch
eine Mischung früher Jahrmarktserinnerungen und heißer, das Ge-
wissen belastender Gedanken an zwei Männer gleichzeitig.
Ich nannte die Ideen unbewußt ; aber das trifft nicht ganz zu •
denn diese Frauen, die das Kind ersehnen und alles tun, um zu dem
Glück der Mutter zu gelangen, die nicht wissen, und wenn man es
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ihnen sagt, durchaus nicht glauben wollen, daß sie selbst das Kind
verweigern, diese Frauen haben ein schlechtes Gewissen ; nicht etwa
weil sie unfruchtbar sind und deshalb sich verachtet vorkommen;
heutigen Tages wird keine Frau mehr verachtet, weil sie unfruchtbar
ist. Das schlechte Gewissen verschwindet nicht mit der Schwangerschaft.
Es verschwindet nur, wenn es gelingt, die verdreckten Herde tief im
Innern der Seele aufzufinden und zu reinigen, die Giftherde, von
denen aus das Unbewußte verdorben wird.
Was für ein mühseliges Geschäft ist es, über das Es zu reden.
Man schlägt irgendeine Saite an, und statt eines einzigen Tons er-
klingen viele, tönen durcheinander und verstummen wieder oder
lassen neue aufwachen, immer neue, bis ein wüstes Brausen und
Heulen entsteht, in dem das Gestammel des Sprediers untergeht.
Glauben Sie mir, über das Unbewußte läßt sich nicht sprechen, nur
stammeln oder besser nur leise dieses oder jenes andeuten, damit die
Höllenbrut der unbewußten Welt nicht aus den Tiefen mit wüsten
Mißklängen hervorbricht.
Muß ich es noch sagen, daß, was vom Weibe gilt, auch vom
Manne gegen die Schwangerschaft vorgebracht wird, daß er Jung-
geselle, Mönch, Keuschheitsschwärmer aus diesem Grunde bleiben
kann, oder daß er sich irgendwo ansteckt, mit Syphilis, mit Tripper und
Hodenentzündung, um keine Kinder zu zeugen? Daß er seinen Samen
unfähig macht, sein Glied nicht zur Erektion kommen läßt, und was
dergleichen Dinge mehr sind. Glauben Sie nur ja nicht, daß ich den
Frauen alles aufbürden will. Wenn es so aussieht, ist es nur, weil
ich selbst Mann bin und deshalb dem Weibe Schuld aufzubürden suche,
die mich selber drückt ; denn auch das ist eine Eigentümlichkeit des Es'
daß jede Schuld, die denkbar ist, einen jeden drückt, so daß ein jeder vom
Mörder, Dieb, Heuchler und Verräter sagen muß: das bist du selber.
Im Moment spreche ich ja noch vom Haß des Weibes gegen das
Kind und ich muß eilen, um den Brief nicht allzusehr zu belasten
Bisher sprach ich von der Verhütung der Empfängnis. Aber nun be-
aditen Sie folgendes : Eine Frau, die sich ein Kiixd wünscht, erhält
während einer Badereise den Besuch ihres Mannes. Sie verkehren
miteinander und in froher Hoffnung und dumpfer Angst harrt sie der
nächsten Menstruation. Sie bleibt aus und am zweiten Tage dieses
Fortbleibens stolpert die Frau über eine Treppenstufe, fällt, und der
Jauchzende Gedanke durchzuckt sie : Jetzt bin ich das Kind wieder
los. Diese Frau hat ihr Kind behalten, denn der Wunsch des Es war
stärker als die Abneigung. Aber wie tausendfach tötet ein solches
Fallen den kaum befruchteten Keim. Lassen Sie sich nur von Ihren
Bekannten erzählen, in wenigen Tagen haben Sie eine ganze Samm-
lung ähnlicher Vorkommnisse, und wenn Sie, was freilich zwischen
Menschen selten ist und erst erworben werden muß, das Vertrauen
dieser Freundinnen haben, werden Sie hören: es war mir lieb, daß
es so kam. Und wenn Sie tiefer darauf eingehen, werden Sie erfahren,
daß unabweisbare Gründe gegen die Schwangerschaft vorlagen, und
daß das Fallen beabsichtigt war, nicht vom Bewußtsein, versteht sich,
sondern vom Unbewußten. Und so ist es mit dem Heben, mit dem
Gestoßenwerden, so ist es mit allem. Sie mögen es mir glauben oder
nicht, es ist noch nie eine Fehlgeburt zustande gekommen, die nicht
absichtlich aus gut erkennbaren Gründen vom Es herbeigeführt worden
wäre. Noch nie. Das Es treibt in seinem Haß, wenn der die Über-
macht gewinnt, das Weib dazu, zu tanzen oder zu reiten oder zu
reisen oder zu Menschen zu gehen, die freundliche Nadeln oder Sonden
oder Gifte gebraudien, oder zu fallen oder sich stoßen und sich miß-
handeln zu lassen oder zu erkranken. Ja, es kommen komische Sachen
dabei vor, bei denen das Unbewußte selber nicht weiß, was es tut.
So pflegt die edle Frau, die das höhere Leben oberhalb des Unterleibes
führt, heiße Fußbäder zu brauchen, um schuldlos zu abortieren. Aber
das heiße Bad ist für den Keim nur angenehm, fördert sein Wachstum.
Sie sehen, ab und zu lacht das Es über sidi selbst.
Ich kann zum Schluß nur schwer überbieten, was ich an verruchten
und verrückten Ansichten heute geschrieben habe. Aber ich will es
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doch versuchen. Hören Sie: ich bin der Überzeugung, daß das Kind
aus Haß geboren wird. Die Mutter hat es satt, dick zu sein und eine
Last von vielen Pfunden zu tragen, und deshalb wirft sie das Kind
hinaus recht unsanft übrigens. Tritt dieser Überdruß nicht ein, so
bleibt das Kind im Leibe und versteinert; das kommt vor.
Um gerecht zu sein, muß ich hinzufügen, daß auch das Kind nicht
mehr ,m dunkeln Gefängnis sitzen will und seinerseits zur Entbindung
mithilft. Aber das gehört in anderen Zusammenhang. Hier genügt die
Feststellung, daß ein übereinstimmender Wunsch von Mutter und Kind
zur Trennung da sein muß, damit es zur Geburt kommt.
Genug für heute. Ich bin allzeit Ihr
PATRIK TROLL.
LIEBE FREUNDIN, SIE HABEN MCHT, ICH WOLLTE VON DER
Mutterliebe schreiben und habe vom Mutterhaß geschrieben. Aber
Liebe und Haß sind immer gleichzeitig da. Sie bedingen sich gegen-
seitig. Und weil von der Mutterliebe so viel geredet wird und jeder
damit Bescheid zu wissen glaubt, hielt ich es für gut, einmal die Wurst
am andern Zipfel anzuschneiden. Im übrigen bin ich nicht überzeugt
daß Sie sich schon einmal mit der Frage der Mutterhebe anders be-
schäftigt haben, als sie zu empfinden und einige Redensarten lyrischer
oder tragischer Art anzuhören oder zu äußern.
Die Mutterliebe ist selbstverständhch, ist jeder Mutter von vorn-
herein eingepflanzt, ist ein eingeborenes heiliges Gefühl des Weibes
Das mag ja sein, aber mich sollte es doch sehr wundern, wenn die
Natur sich ohne weiteres auf das weibliche Gefühl verlassen hätte
oder gar mit Empfindungen arbeitete, die wir Menschen heilig nennen
Sieht man näher zu, so lassen sich auch einige, wenn auch gewiß nicht
alle Quellen dieses Urgefühls finden. Sie haben, scheint es, mit dem
so beüebten Fortpflanzungstriebe wenig zu tun. Lassen Sie einmal
alles bei Seite, was über die Mutterhebe geredet worden ist, und
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sehen Sie sich an, was zwischen diesen beiden Wesen, Mutter und
Kind, vor sich geht.
Da ist zunächst der Moment der Empfängnis, die bewußte oder
unbewußte Erinnerung an einen seligen Augenblick. Denn ohne dieses
wahrhaft himmlische Gefühl, — himmlisch deshalb, weil der Glaube
an Seligkeit und Himmelreich letzten Endes damit zusammenhängt -
ohne dieses Gefühl kommt es zu keiner Empfängnis. Sie glauben das
nicht und berufen sich auf die tausendfachen Erfahrungen des verab-
scheuten Ehebettes, der Vergewaltigungen, der Schwängerungen in
bewußtlosem Zustand. Aber all diese Fälle beweisen nur, daß das
Bewußtsein an dem Rausch nidit teilzunehmen braucht ; für das Es, das
Unbewußte beweisen sie gar nichts. Um dessen Empfindungen fest-
zustellen, müssen Sie sich an die Organe wenden, mit denen es spricht,
an die Wollustorgane des Weibes. Und Sie würden erstaunt sein,
wie wenig sich die Scheidenwände oder die Schamlippen, der Kitzler
oder die Brustwarzen um den Abscheu des Bewußtseins kümmern. Sie
antworten auf die Reibung, auf die zweckmäßige Erregung in ihrer
eignen Weise, ganz gleich, ob der Geschlechtsakt dem denkenden
Menschen lieb ist oder nicht. Fragen Sie Frauenärzte oder Richter oder
Verbrecher ; Sie werden meine Behauptung bestätigt finden. Sie können
auch von den Frauen, die ohne Lust empfangen haben, die verge-
waltigt oder bewußdos mißbraucht wurden, die richtige Antwort hören,
nur müssen Sie zu fragen verstehen oder besser, Vertrauen erwecken.
Erst wenn der Mensch sich überzeugt hat : der, der fragt, ist frei von
verachtenden Gedanken, macht wirklich ernst mit dem Wort : „Richtet
nicht", erst dann öffnet er die Pforten seiner Seele ein wenig. Oder
lassen Sie sidi von diesen geschlechtskalten Opfern männlicher Gier
ihre Träume erzählen; der Traum ist die Sprache des Unbewußten
und in ihm läßt sich mancherlei lesen. Am einfachsten ist, Sie gehen
mit sich selber zu Rate, ehrlich wie es Ihre Gewohnheit ist. Sollte es
Ihnen noch nicht aufgefallen sein, daß der Mann, den Sie lieben,
mitunter nicht fähig ist, eine Erektion zustande zu bringen ? Wenn er
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/
an Sie denkt, steht seine Mannheit so kräftig zur Verfügung, daß es
eine Lust ist, und wenn er neben Ihnen ist, sinkt alle Herrlichkeit
schlaff zusammen. Das ist ein merkwürdiges Phänomen ; es bedeutet,
daß der Mann wold tausendfach und unter den seltsamsten Verhält-
nissen liebesfähig ist, daß er aber unter gar keinen Umständen eine
Erektion bekommt in Gegenwart einer Frau, die diese Erektion ver-
hindern will. Es ist eine von den tief versteckten Waffen des Weibes,
eine Waffe, die sie unbedenklich braucht, wenn sie den Mann demütigen
will, oder vielmehr, das Unbewußte der Frau braudit die Waffe, so
nehme ich an, weü ich nicht gern ein Weib solch bewußter Bosheit
für fähig halte, und weil es mir wahrscheinlicher ist, daß zur Ver-
/ Wendung dieses Fluidums, das den Mann schwächt, unbewußte Vor-
/ gange im Organismus des Weibes stattfinden. Mag es nun so sein
oder so, jedenfalls ist es ganz unmöglich, daß ein Mann ein Weib
nehmen kann, wenn sie nicht irgendwie einverstanden ist. Sie tun
gut daran, die Kälte der Frau zu bezweifeln und lieber an ihre Rach-
sucht und unausdenkbar heimtückische Gesinnung zu glauben.
Haben Sie nie die Phantasie des Vergewaltigtwerdens gehabt?
Sagen Sie nicht gleich nein, ich glaube Ihnen doch nicht. Vielleicht
haben Sie keine Angst wie so viele Frauen, und gerade angeblich
kalte, allein im Walde oder in dunkler Nacht zu gehen ; ich sagte es
Ihnen schon, Angst ist ein Wunsch ; wer sich vor der Notzucht fürchtet,
wünscht sie. Wahrsdieinlidi, so wie ich Sie kenne, schauen Sie auch
nicht unter die Betten und in die Schränke; aber wie viele tun es
stets in der Angst und in dem Wunsch, den Mann zu entdecken, der
gewaltig genug ist, sich nicht vor dem Gesetz zu fürditen. Sie kennen
doch die Geschichte von jener Dame, die, als sie den Mann unter
dem Bett sieht, in die Worte ausbricht : „Endlich, seit zwanzig Jahren
warte ich darauf." Und wie bezeichnend ist es, daß dieser Mann mit
einem blanken Messer phantasiert wird, mit dem Messer, das in die
Scheide gesteckt werden soll. Nun, über all das sind Sie erhaben.
Aber Sie waren einmal jünger, suchen Sie nur nach. Sie werden den
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Augcnblidc finden, - was sage ich ? den Augenblick - nein, Sie werden
sich einer ganzen Reihe von Momenten erinnern, wo es Sie kalt über-
lief, weil Sie hinter sich einen Schritt zu hören glaubten; wo Sie
plötzlich in der Nacht in irgend einem Gasthaus erwachten mit dem
Gedanken: habe ich auch die Tür verschlossen? Wo Sie fröstelnd
unter die Decke krochen, fröstelnd, weil Sie die innere Hitze abkühlen
mußten, um nicht zu verbrennen. Haben Sie nie mit Ihrem Geliebten
gerungen, Notzucht gespielt ? Nein ? Ach, was sind Sie für eine Törin,
daß Sie sich um die Freuden der Liebe bringen, und was sind Sie
für eine Törin, daß Sie annehmen, ich glaube Ihnen. Ich glaube nur
an Ihr schlechtes Gedächtnis und an Ihr feiges Ausweichen vor der
Selbstkenntnis. Denn, daß ein Weib diesen höchsten Liebesbeweis,
diesen einzigen, kann man sagen, nicht begehren sollte, ist unmöglich.
So schön sein, so verführerisch sein, daß der Mann alles andre ver-
gißt und nur hebt, das will eine Jede, und die es leugnet, irrt sich
oder lügt bewußt. Und wenn ich Ihnen einen Rat geben darf, so
suchen Sie diese Phantasie in sich lebendig zu madien. Es ist nicht
gut, mit sich selber Versteck zu spielen. Was gilt die Wette ? Schließen
Sie die Augen und träumen Sie frei, ohne Absicht und Vorurteil I In
wenigen Sekunden sind Sie von den Bildern des Traums gefesselt,
hingerissen, so daß Sie kaum wagen, weiter zu denken, weiter zu
atmen. Da ist das Knacken der Äste, der jähe Sprung und der Griff
an die Gurgel, das Niederwerfen und das blinde Zerreißen der Kleider,
und die wahnsinnige Angst. Und nun fassen Sie den Menschen, der
rast, ins Auge, fest und unbeirrbar. Ist er groß, klein, schwarz, blond,
bärtig, glatt? Den bannenden Namen! oh ja, ich wußte, daß Sie ihn
schon kennen. Sie sahen ihn gestern oder ehegestern oder vor vielen
Jahren, auf der Straße oder der Eisenbahnfahrt oder auf dem Pferd
dahinjagend oder beim Tanz. Und der Name, der Ihnen durch den
Kopf schoß, macht Sie zittern. Denn nie hätten Sie geglaubt, daß ge-
rade dieser Mensch Ihre tiefste Begierde weckte. Er war Ihnen gleich-
gültig ? Sie verabscheuten ihn ? Er war ekelhaft ? - Hören Sie doch
3 Grod deck, Das Buch vom Es 33
/
hin: Ihr Es kiAert über Sie. - Nein, stehen Sie nicht auf, schauen Sie
nicht nach Uhr und Schlüsselbund, träumen Sie, träumen Sie! Von
dem Märtyrertum, der Schande, dem Kind in Ihrem Schoß, vom Ge-
richt und dem Wiedersehen mit dem Verbrecher in Gegenwart der
schwarzen Richter, und von der Qual, zu wissen, daß Sie wünschten,
was er tat und wofür er büßt. Furchtbar, unfaßbar und unentrinnbar
fesselnd. - Oder ein anderes Bild, wie das Kind geboren wird, wie
Sie arbeiten und die Hände mit der Nadel zerstedien, wahrend der
Kleine sorglos zu Ihren Füßen spielt und Sie nicht wissen, wie ihn
ernähren. Armut, Not, Elend. Und dann kommt der Prinz, der edle,
herrlich gute, der Sie liebt, den Sie lieben und dem Sie entsagen.
Hören Sie nur, wie das Es kichert über die schöne Geste. - Und noch
ein Bild, wie das Kind in Ihrem Leib wächst und mit ihm die Angst,
wie es geboren wird und Sie es erwürgen, im Teich versenken und
wie Sie selbst vor den dunkeln Richtern als Mörderin stehen. Auf
einmal tut sidi die Märchenwelt auf, ein Scheiterhaufen wird gehäuft,
die Kindesmörderin steht darauf, an den Pfahl gefesselt, und die
Flammen lecken an ihren Füßen. Hören Sie nur, was das Es flüstert,
wie es den Pfahl deutet und das züngelnde Feuer und wie es Ihnen
zuraunt, wessen Füße es sind, die Ihr tiefstes Wesen mit der Flamme
verbindet. Ist es ni<ht Ihre Mutter ? - Das Unbewußte ist rätselhaft und
zwischen Wald, Gewaltig und Gewalt schlummern Engel und Teufel.
Nun der bewußtlose Zustand. Wenn Sie Gelegenheit dazu haben,
sehen Sie sich, bitte, irgendeinen hysterischen Krampfanfall an. Er
wird Ihnen klarmachen, wie viele Menschen die Bewußdosigkeit bei
sich hervorrufen, um die Wollust zu empfinden ; gewiß, es ist ein
dummes Verfahren, aber schließlich ist alle Heuchelei dumm. Oder
gehen Sie in eine chirurgische Klinik, sehen Sie sich ein Dutzend
Narkosen mit an; da können Sie merken und hören, wie genußfähig
der Mensch auch im bewußdosen Zustand ist. Und dann nochmals,
achten Sie auf Träume ; die Träume des Menschen sind wunderlidie
Dolmetscher der Seele.
34
__
■w
-
Nochmals also: ich nehme an, daß eine der Wurzeln der Mutter-
liebe der Genuß bei der Empfängnis ist. Ich übergehe nun, ohne da-
durch ihre Wichtigkeit herabsetzen zu wollen, eine Reihe verwickelter
Gefühle, wie die Neigung zum Manne, die auf das Kind übertragen
wird, den Stolz auf die Leistung ; - so merkwürdig es auch für un-
sern hochmögenden Verstand ist, daß man sich auf Dinge etwas ein-
bildet, die wie die Schwängerung nur vom Es geleistet werden, mit
dem, was wir als edles Werk anzuerkennen pflegen, also ebenso
wenig zu tun haben wie Schönheit oder ererbter Reichtum oder große
Geistesgaben, das Weib ist eben stolz darauf, über Nacht durch so
lustige Arbeit ein lebendiges Wesen geschaffen zu haben. - Ich rede
nicht davon, wie die Bewunderung und der Neid der Nädistea zur
Ausbildung der Mutterliebe verwendet werden oder wie das Gefühl,
für ein Lebewesen ausschließlich verantwortlich zu sein - denn an die
ausschließlidie Verantwortung glaubt die Mutter gern, wenn es glatt
geht, ungern und nur vom Schuldbewußtsein gezwungen, wenn es
schief geht, - wie dieses Gefühl die Neigung zum kommenden Kinde
erhöht, das Gefühl großer Wichtigkeit, das aus eigenen und fremden
Quellen genährt wird; oder wie der Gedanke, ein hilfloses Mensch-
lein zu schützen, mit dem eigenen Blute zu nähren - was ja eine
beliebte und gegen die Kinder später oft verwendete Redensart ist,
an die das Weib zu glauben vorgibt, obwohl sie die Lüge darin fühlt
- wie dieser Gedanke der Mutter eine Art Gottähnlichkeit gibt und
daher ihr eine fromme Gesinnung gegen das Muttergotteskind einflößt.
Ich möchte Sie vielmehr auf etwas Einfaches und anscheinend Un-
bedeutendes aufmerksam machen, nämlich, daß der weibliche Körper
einen holden leeren Raum hat, der durch die Sdiwangerschaft, durch
das Kind ausgefüllt wird. Wenn Sie sich vorstellen, wie beunruhigend
das Gefühl des Leerseins ist und wie wir beim Sattsein ein „andrer
Mensch" sind, ahnen Sie ungefähr, was in dieser Richtung die Sdiwanger-
sdiaft für das Weib bedeutet. Ungefähr, nicht ganz. Denn es handelt
sich bei den Unterleibsorganen der Frau nicht nur um ein Gefühl der
85
;
Leere, es ist vor allem die von Kindheit an bestehende Empfindung
des Mangels, die bald mehr, bald weniger die Selbstaditung des Weibes
niederdrückt. Zu irgendeiner Zeit, jedenfalls sehr früh, sei es durch
Beobachtung, sei es auf anderem Wege, erfährt das kleine Mädchen,
daß ihm etwas fehlt, was der Knabe, der Mann besitzt. - Nebenbei
bemerkt, ist es nicht zu verwundern, daß niemand weiß, wann und
wie ein Kind die Geschlcditsuntersdiiede kennen lernt? Obwohl diese
Entdeckung, man könnte sagen, das wichtigste Ereignis im Menschen-
leben ist. - Das kleine Ding, sage ich, bemerkt dieses Fehlen eines
Bestandteiles des Menschen und faßt es als einen Felder seines
Wesens auf. Sonderbare Ideengänge knüpfen sich daran an, von denen
wir uns gelegentlich unterhalten können, die alle das Gepräge der
Beschämung und des Schuldgefühls tragen. Anfangs hält noch die
Hoffnung, der Fehler werde sich durch Nachwachsen ausgleichen,
einigermaßen dem Gefühl des Niedrigseins die Wage, aber diese
Hoffnung erfüllt sich nicht, es bleibt nur das in seiner Begründung
immer undeutlicher werdende Schuldgefühl und die unbestimmbare
Sehnsucht, beides Erscheinungen, die wohl an Klarheit nachlassen,
aber an Gefühlskraft wachsen. Das geht durch lange Jahre mit in
dem tiefen Leben der Frau als immer brennende Qual. Und nun
kommt der Moment der Empfängnis, die Herrlichkeit der Sättigung,
das Verschwinden der Leere, des verzehrenden Neides und der
Scham. Und dann lebt eine neue Hoffnung auf, die Hoffnung, daß in
ihrem Leibe ein neuer Teil ihres Wesens, eben das Kind, wächst,
das diesen Fehler nicht haben, das ein Junge sein wird.
Es bedarf eigentlich keines Beweises, daß die Schwangere wünscht,
einen Knaben zu gebären. Wer die Fälle, in denen der Wunsch auf
ein Mädchen geht, erforscht, der wird manches Geheimnis gerade
dieser einen Mutter erfahren, die allgemeine Regel aber, daß das
Weib den Sohn zur Welt bringen will, wird sich ihm bestätigen. Wenn
ich Ihnen trotzdem von einer persönlichen Erfahrung erzähle, so ge-
schieht es, weil ein Nebenumstand mir charakteristisch vorkommt und
36
Sie vielleidit zum Lachen bringt, zu dem heiteren, göttlichen Lachen,
mit dem man in der Komik die tiefe Wahrheit begrüßt Ich habe
eines Tages die kinderlosen Mädchen und Frauen meiner Bekannt-
schaft gefragt, es waren natürlich nicht sehr viele, aber doch etwa
15 bis 20, was sie sich für ein Kind wünschten. Sie haben alle geant-
wortet : einen Jungen. Aber nun kam das Seltsame. Ich fragte weiter,
wie alt sie sich wohl diesen Knaben vorstellten und wie sie ihn ge-
rade in dem Moment beschäftigt dächten. Bis auf drei haben sie alle
dieselbe Antwort gegeben; zwei Jahre, auf der Wickelkommode
liegend und den Strahl in hohem Bogen unbekümmert in die Welt
spritzend. Von den drei Abseitigen gab die eine den ersten Schritt
an, die zweite das Spielen mit einem Schäfchen und die dritte : drei
Jahr, stehend und pinkelnd.
Verstehen Sie wohl, verehrte Freundin ? Da ist eine Gelegenheit,
in die Tiefe des Menschen zu blicken, für einen kurzen Moment
mitten im Lachen zu gewahren, was den Menschen bewegt. Vergessen
Sie es bitte nicht. Und überlegen Sie sidi, ob hier nicht eine Möglich-
keit ist, weiter zu fragen und zu erkunden.
Das Entstehen des Kindes im Unterleib, sein Wachsen und
Schwererwerden bemächtigt sich noch in einer andern Richtung der
weiblichen Seele, verflicht sich mit festgewurzelten Gewohnheiten und
nutzt, um die Mutter an das Kind zu fesseln, Neigungen aus, die
von versteckten Schichten des Unbewußten aus das Menschenherz
und das Menschenleben beherrschen. Sie werden beobachtet haben,
daß das Kind, das auf dem Töpfdien sitzt, nicht gleich willig hergibt,
was der Erwachsene, dem diese Beschäftigung weniger Wonne gibt,
erst zart und nach und nach immer dringender von ihm verlangt.
Wenn Sie Interesse dafür haben, dieser absonderlichen Neigung zur
freiwilligen Verstopfung, aus der nicht selten eine Lebensgewohnheit
wird, nachzugehen, was ja allerdings ein seltsames Interesse ist so
bitte ich Sie, sich daran zu erinnern, daß in dem Unterleib in der
Gegend von Mastdarm und Blase fein und lüstern tätige Nerven
87
/
verlaufen, deren Reizung artige Gefühle weckt. Sie werden dann
weiter daran denken, wie oft die Kinder bei Spiel und Arbeit un-
ruhig auf dem Stuhle rutsdien, - vielleicht taten Sie es selbst in
Ihrer Kindheit unschuldigen Tagen, - mit den Beinen wippein und
zappeln, bis das verhängnisvolle Wort der Mutter ertönt: „Hans oder
Liesel, geh auf das Klosett!« Warum wohl das? Ist es wirklich, daß
der Knabe, daß das Mäddien sich verspielt haben, wie es Mama in
Rücksicht auf eigene längst verworfene Neigungen nennt, oder daß
sie gar zu stark von der Schularbeit gefesselt sind? Ach nein, es ist
die Wollust, die soldies zustande bringt, eine eigenartige Form der
Selbstbefriedigung, von Kindheit auf geübt und bis zur Vollendung
später ausgebildet in der Verstopfung; nur daß dann leider der
Organismus nidit mehr mit der Wollust antwortet, sondern nur, im
Schuldgefühl der Onanie, Kopfschmerzen oder Schwindel oder Leibweh
schafft und wie die tausend Folgen der Gewohnheit, sich dauernd
einen Druck auf die genitalen Nerven zu erhalten, heißen mögen.
Ja, und dann fallen Ihnen noch Menschen ein, die gewohnheitsmäßig
ausgehen, ohne vorher sich zu entleeren, dann auf der Straße von
der Not befallen, schwere Kämpfe durchmachen, bei denen sie sich
nicht bewußt werden, wie süß sie sind. Nur wem die Regelmäßigkeit
und der völlige Mangel an Notwendigkeit dieser Kämpfe zwischen
Mensch und After auffällt, der kommt allmählich zu dem Schluß, daß
hier das Unbewußte schuldlose Onanie treibt. Nun, verehrte Frau,
die Schwangersdiaft ist solche schuldlose Onanie in noch viel stärke-
rer Weise, hier ist die Sünde heilig. Aber alle heilige Mutterschaft
verhindert nicht, daß der schwangere Uterus die Nerven reizt und
Wollust bringt
Sie meinen, Wollust müsse vom Bewußtsein empfunden werden.
Das ist eine falsche Meinung. Das heißt, Sie können diese Meinung
haben, aber Sie müssen mir verzeihen, wenn ich ein wenig lache.
Und da wir nun einmal bei dem heiklen Thema der Wollust
sind, der geheimen, unbewußten, nie deutlich benannten, darf ich auch
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gleich davon sprechen, was die Kindsbewegung für die Mutter ist. Sie
ist ja auch vom Dichter mit Beschlag' belegt und rosarot geputzt und
zart parfümiert In Wahrheit ist diese Empfindung, wenn man ihr
den Strahlenkranz der Verklärung nimmt, eben dieselbe, die stets
entsteht, wenn etwas im Leibe des Weibes bewegt wird. Sie ist die-
selbe, die sie vom Manne her kennt, nur jedes Sündengefühls bar,
gepriesen statt verworfen.
Schämen Sie sich nidit? werden Sie sagen. Nein, ich schäme mich
nicht, meine Gnädigste, so wenig schäme ich midi, daß ich die Frage
zurückgebe. Regt sich in Ihnen keine Sdiam, werden Sie nicht über-
wältigt von Leid und Scham über das mensdiliche Wesen, das den
höchsten Wert des Lebens, die Vereinigung von Mann und Weib, in
den Schmutz gezogen hat? Denken Sie nur zwei Minuten darüber
nach, was diese Wollust zu zweit bedeutet, wie sie Ehe, Familie, Staat
geschaffen hat, Haus und Hof gegründet, die Wissenschaft, die Kunst,
die Religion aus Nichts hervorgerufen, wie sie alles, alles, alles, was
Sie verehren, gemacht hat, und wagen Sie es dann nodi, den Ver-
gleich zwisdien Begattung und Kindsbewegung abscheulich zu fin-
den.
Nein, Sie sind viel zu verständig, um den Zorn über meine von
tugendprangenden Kinderwärterinnen verbotenen Worte länger zu
pflegen, als bis Sie Zeit gefunden haben, sich zu besinnen. Und dann
werden Sie mir willig weiter zu einer noch sdiärfer von Herz- und
Geistesbildung verpönten Behauptung folgen, daß vor allem die Ent-
bindung selbst ein Akt der höchsten Wollust ist, dessen Eindruck als
Liebe zum Kinde, als Mutterliebe weiterlebt.
Oder reicht Ihre Gutwilligkeit nicht so weit, mir auch das zu
glauben ? Es widerspricht ja aller Erfahrung, der Erfahrung von Jahr-
tausenden. Nun, einer Erfahrung, und ich halte sie für die Grund-
tatsache, von der man ausgehen muß, widerspricht sie nicht, das ist
die, daß immer wieder neue Kinder geboren werden, daß also all die
Schrecken und Leiden, von denen man seit urvordenklichen Zeiten
89
/
spridit, nicht so groß sind, um nicht von der Lust, irgend einem Lust-
gefühl überboten zu werden.
Haben Sie schon einmal eine Entbindung mitangesehen ? Es ist
eine merkwürdige Sache; die Kreißende jammert und schreit, aber ihr
Gesicht glüht in fieberhafter Erregung und ihre Augen haben den
seltsamen Glanz, den kein Mann vergißt, wenn er ihn einmal meines
Weibes Augen hervorgerufen hat. Das sind seltsame Augen, seltsam
verschleierte Augen, die Wonne erzählen. Und was ist Wunderbares,
Unglaubliches daran, daß der Schmerz Wollust sein kann, höchste
Wollust? Nur die Perversions- und Unnaturschnüffler wissen nicht
oder geben vor, nicht zu wissen, daß die größte Lust den Schmerz
verlangt. Machen Sie sich doch frei von dem Eindruck, den der Weh-
laut der Gebärenden und die blöden Erzählungen neidischer Gevat-
terinnen auf Sie gemacht haben. Versuchen Sie, ehrlich zu sein. Das
Huhn gackert auch, wenn es ein Ei gelegt hat. Aber der Hahn küm-
mert sich nicht anders darum, als daß er von neuem das Weibchen
tritt, deren Grauen vor dem Schmerz des Eierlegens sich sonderbar
in dem verliebten Ducken vor dem Herrn des Hühnerhofes äußert.
Die Scheide des Weibes ist ein unersättlicher Moloch. Wo ist denn
die weibliche Scheide, die damit zufrieden wäre, ein kleinfingerdickes
Glied in sich zu haben, wenn sie eins haben kann, das stark wie ein
Kinderarm ist. Die Phantasie des Weibes arbeitet mit mächtigen
Instrumenten, hat es von jeher getan und wird es immer tun.
Je größer das Glied ist, um so höher ist die Wonne, das Kind
aber arbeitet mit seinem dicken Schädel während der Entbindung im
Scheideneingang, dem Sitz der Freude des Weibes, genau wie das
Glied des Mannes, in derselben Bewegung des hin und her und auf
und ab, genau so hart und gewaltig. Gewiß er schmerzt, dieser höchste
und deshalb unvergeßliche und stets von neuem begehrte Geschlechts-
akt, aber er ist der Gipfelpunkt aller weiblichen Freuden.
Warum aber ist, wenn die Entbindung wirklich ein Wollustakt
ist, die Stunde der Wehen als Leiden unvergeßlicher Art verschrien?
Ich kann die Frage nicht beantworten; fragen Sie die Frauen. Ich
kann nur sagen, daß ich hie und da einer Mutter begegnet bin, die
mir sagte : die Geburt meines Kindes war trotz aller Schmerzen oder
vielmehr wegen all der Schmerzen das Schönste, was ich erlebt habe.
Vielleicht darf man das eine sagen, daß die Frau, von jeher zur
Verstellung gezwungen, nie ganz aufrichtig über ihre Empfindungen
sprechen kann, weil sie das Gebot des Abscheus vor der Sünde mit auf den
Lebensweg bekommt. Woher aber diese Gleichsetzung von Geschlechts-
lust und Sünde kommt, das wird niemals ganz ergründet werden.
Es gibt auch Gedankengänge, die sich durch das Labyrinth dieser
schwierigen Fragen verfolgen lassen. So erscheint es mir natürlich, daß
ein Mensch, dem all sein Leben lang, selbst unter Benutzung der
Religion, gelehrt worden ist, die Entbindung ist schrecklich, gefährlich,
schmerzhaft, selbst daran glaubt, auch über die eigene Erfahrung
hinaus. Es ist mir klar, daß eine Menge dieser Schadenerzählungen
erdacht wurden, um das unverheiratete Mädchen von dem unehe-
lichen Verkehr zurückzuschrecken. Der Neid derer, die nicht ent-
bunden werden, vor allem der Neid der Mutter auf die eigene
Tochter, der anheimfällt, was für sie selber längst Vergangenheit ist,
spricht dabei mit. Der Wunsch, den Mann einzuschüchtern, der er-
kennen soll, was er der Liebsten zu Leide tat, welches Opfer sie
bringt, wie sie Heldin ist, die Erfahrung, daß er sich tatsächlich ein-
schüchtern läßt, und aus dem mürrischen Tyrannen, wenigstens für
eine Zeit, ein dankbarer Vater wird, treiben in dieselbe Richtung.
Und vor allem die innere Gewalt, sich selbst als groß, edel, Mutter
zu erscheinen, verführt zur Übertreibung, zur Lüge. Und Lüge is
Sünde. Zuletzt aber steigt aus dem Dunkel des Unbewußten die
Mutterimago empor; denn alles Begehren und jede Wollust ist durch-
tränkt von der Sehnsucht, wieder in den Schoß der Mutter zu ge-
langen, ist gezeitigt und vergiftet von dem Wunsche der Geschlechts-
vereinigung mit der Mutter. Der Inzest, die Blutschande. Ist es nich
genug, um sich sündig zu fühlen?
41
Was aber gehen diese geheimnisvollen Gründe uns beide im
Augenblick an? Ich wollte Sie überzeugen, daß die Natur sich nicht
auf die edlen Gefühle der Mutter verläßt, daß sie nicht glaubt, ein
jedes Weib werde, nur weil sie Mutter wird, das aufopferungsfähige,
geliebte Wesen, dessen Gleichen wir nicht kennen, die uns nie er-
setzt wird, und deren Namen zu nennen uns sdion beglückt Ich
wollte Sie überzeugen, daß die Natur in tausendfacher Weise die
Glut schürt, deren Wärme uns durch das Leben begleitet, daß sie
alles und jedes benutzt, - denn was ich sagte, ist nur ein winziger
Teil all der Wurzeln, aus denen die Mutterliebe wächst, - benutzt,
um der Mutter jede Möglichkeit zu nehmen, sich von dem Kinde ab-
zuwenden.
Ist es mir gelungen ? Dann würde sich von Herzen freuen
Ihr alter Freund
PATRIK TROLL.
5-
ICH HABE MICH ALSO NICHT GETÄUSCHT, LIEBE FREUNDIN,
wenn ich annahm, daß Sie nach und nadi Interesse für das Unbewußte
bekommen würden. Daß Sie über meine Sucht, zu übertreiben, spotten
bin ich gewöhnt. Aber warum suchen Sie sich dazu gerade meine Ent-
bindungswollust aus? In der Sache habe ich recht.
Sie haben neulich geäußert, daß Huien meine kleinen eingestreuten
Erzählungen zusagen. „Es macht die Sache lebendig," meinen Sie,
„und man ist fast versucht, Ihnen zu glauben, wenn Sie so gediegene
Tatsachen vorbringen." Nun, ich könnte sie ja auch erfinden oder
wenigstens frisieren. Das kommt innerhalb und außerhalb der Gelehr-
samkeit vor. Gut, Sie sollen Ihre Geschichte haben.
Vor einigen Jahren gebar eine Frau nach längerer Unfruchtbarkeit
ein Mädchen. Es war eine Steißgeburt, und die Frau wurde im
Wöchnerinnenheim von einem bekannten Geburtshelfer unter Beihilfe
zweier Assistenten und zweier Hebammenschwestern in der Narkose
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künstlidi entbunden. Zwei Jahre darauf kam es zu einer zweiten
Schwangersdiaft, und da idi inzwischen mehr Einfluß auf die Frau
gewonnen hatte, wurde verabredet, bei der Entbindung nichts ohne
mein Wissen zu tun. Die Schwangersdiaft verlief im Gegensatz zu der
ersten ohne alle Beschwerden. Es wurde beschlossen, die Geburt zu
Hause vor sich gehen zu lassen und nur eine Hebammenschwester
zuzuziehen. Kurz vor der Entbindung wurde ich auf Wunsch der
Hebammensdiwester zu der Dame, die in einer anderen Stadt wohnte,
gerufen. Das Kind läge in Steißlage und was nun geschehen solle. Als
idi hinkam, lag tatsächlidi das Kind mit dem Steiß voran, die Wehen
hatten nodi nidit begonnen. Die Schwangere war in großer Angst und
wünschte, in die Klinik gesdiafft zu werden. Ich habe midi zu ihr
gesetzt, ein wenig in ihren mir sdion ziemlich bekannten Verdrängungs-
komplexen geforscht und ihr sdiließlidi in glühenden Farben - ich
denke, Sie wissen, ob mir so etwas gelingt - die Lust der Entbindung
geschildert. Frau X. wurde vergnügt und ein eigentümlicher Ausdruck
in den Augen sagte, daß der Funke zündete. Dann suchte ich heraus-
zubekommen, weshalb das Kind wieder in die Steißlage gekommen
war. „Dann ist die Geburt leichter," sagte sie mir. „Der kleine Popo
ist weich und erweitert den Weg sanfter und gemächlicher als der
dicke, harte Kopf." Nun habe ich ihr die Geschichte von dem dicken
und dünnen, harten und schlaffen Instrument in der Scheide erzählt,
ungefähr so, wie idi es Ihnen neulidi beschrieb. Das machte Eindruck
aber es blieb noch ein Rest Mißvergnügen. Schließlich sagte sie, sie
möchte mir ja gern glauben, aber alle andern hätten ihr so viel
Schreckliches von dem Schmerz der Geburt gesagt, daß sie doch lieber
narkotisiert werden möchte. Und wenn das Kind mit dem Steiß voran
läge, würde sie betäubt, das wisse sie aus Erfahrung. Also sei die
Steißlage dodi vorzuziehen. Darauf habe ich ihr gesagt, wenn sie so
dumm sei, sich durchaus um das höchste Vergnügen ihres Lebens
bringen zu wollen, so solle sie es nur tun. Ich hätte nichts dagegen,
wenn sie sich betäuben ließe, sobald sie es nicht mehr aushalten könne.
43
Dazu sei aber die Steißlage nicht nötig. „Ich gebe Ihnen die Erlaubnis
zur Narkose, auch wenn der Kopf vorliegt. Sie sollen selbst darüber
entscheiden, ob narkotisiert werden soll oder nicht." Damit bin ich
abgereist und schon am nächsten Tage erhielt ich die Nachricht, daß das
Kind eine halbe Stunde nach meinem Weggehen mit dem Kopf nach
unten gelegen habe. Die Entbindung ist dann glatt vor sich gegangen. Die
Wöchnerin schilderte mir in einem hübschen Brief den Verlauf. „Sie
haben ganz recht gehabt, Herr Doktor, es ist wirklich ein hoher Genuß
gewesen. Da neben mir auf dem Tisch die Ätherflasche stand und ich
die Erlaubnis zur Narkose hatte, hatte ich nicht die mindeste Angst
und konnte jeden Vorgang genau beobachten und hemmungslos werten.
Einen Augenblick wurde der Schmerz, der bis dahin etwas aufregend
Reizvolles gehabt hatte, übergroß und ich schrie : Äther ! - setzte aber
gleich hinzu : Es ist nicht mebr nötig. Das Kind schrie schon. Wenn ich
etwas bedaure, ist es nur, daß mein Mann, den ich jahrelang mit meiner
dummen Angst gequält habe, diesen höchsten Genuß nicht erleben kann."
Wenn Sie skeptisch sind, können Sie das nun eine glückliche
Suggestion nennen, die keine Beweiskraft hat. Mir ist das gleichgültig.
Ich bin überzeugt, wenn Sie das nächstemal ein Kind bekommen
werden Sie auch „hemmungslos" beobachten, ein Vorurteil los werden
und etwas kennen lernen, wovor Dummheit Sie eingegrault hat.
Sie sind dann, hebe Freundin, zaghaft auf das heikle Thema der
Selbstbefriedigung eingegangen, deuten an, wie sehr Sie dieses ge-
heime Laster verachten und äußern Ihre Unzufriedenheit mit meinen
abscheulichen Theorien über die schuldlose Onanie der töpfchensitzenden
Kinder, verstopften Menschen und Schwangeren und finden schließlich
meine Ansichten über die Grundbedingungen der Mutterliebe zynisch.
„Auf diese Weise kann man alles auf Selbstbefriedigung zurückführen,"
sagen Sie.
Gewiß, und Sie gehen nicht fehl in der Annahme, daß ich, wenn
nicht alles, so doch recht viel von der Onanie herleite. Die Art, wie
ich zu dieser Ansicht gekommen bin, ist vielleicht noch interessanter
als die Ansidit selbst, und deshalb will ich sie Ihnen hier mit-
teilen.
Ich habe in meinem Beruf und sonst auch, oft Gelegenheit gehabt,
bei dem Waschen kleiner Kinder zugegen zu sein, Sic werden mir
aus eigener Erfahrung bestätigen, daß das nicht immer ohne Heulcrei
vor sich geht. Aber wahrscheinlich wissen Sie nicht, - es ist nicht der
Mühe wert, bei kleinen Kindern solche Kleinigkeiten zu beachten -
daß dieses Heulen bei ganz bestimmten Prozeduren einsetzt und bei
anderen aufhört. Das Kind, das eben noch schrie, als ihm das Gesicht
gewaschen wurde, - wenn Sie wissen wollen, warum es schreit, lassen
Sie sich selber das Gesicht von irgend einer lieben Person waschen,
mit einem Schwamm oder Lappen, der so groß ist, daß er Ihnen
gleichzeitig Mund, Nase und Augen zudeckt - dieses Kind, sage ich,
wird plötzlich still, wenn der weiche Schwamm zwischen den Beinchen
hin- und hergeführt wird. Ja, dieses Kind bekommt sogar einen fast
verzückten Ausdruck im Gesicht und es hält ganz still. Und die Mutter,
die kurz vorher noch ermahnend oder tröstend dem Kindchen über
das unangenehme Waschen hinweghelfen mußte, hat auf einmal einen
zarten, liebenden, fast möchte ich sagen verliebten Ton in ihrer Stimme,
auch sie ist für Augenblicke in Verzückung versunken und ihre Be-
wegungen sind andere, weichere, Iiebendere. Sie weiß nicht, daß sie
dem Kinde Geschlechtslust gibt, daß sie das Kind Selbstbefriedigung
lehrt, aber ihr Es fühlt es und weiß es. Die erotische Handlung er-
zwingt den Ausdruck des Genusses bei Kind und Mutter.
So also liegen die Dinge. Die Mutter selbst gibt ihrem Kinde
Unterricht in der Onanie, sie muß es tun, denn die Natur häuft den
Dreck, der abgewaschen werden will, dort an, wo die Organe der
Wollust liegen ; sie muß es tun, sie kann nicht anders. Und, glauben
Sie mir, vieles, was unter dem Namen Reinlichkeit geht, das eifrige
Benutzen des Bidets, das Waschen nach den Entleerungen, die Aus-
spülungen, ist nichts weiter als ein vom Unbewußten erzwungenes
Wiederholen dieser genußreichen Lehrstunden bei der Mutter.
45
Diese kleine Beobachtung, die Sie jederzeit auf ihre Richtigkeit
nachprüfen können, wirft das ganze Scfareckensgebäude, das dumme
Menschen um die Selbstbefriedigung errichtet haben, auf einmal um.
Denn wie soll man eine Gewohnheit Laster nennen, die von der
Mutter erzwungen wird? Zu deren Erlernung sich die Natur der
Mutterhand bedient? Oder wie sollte es möglidi sein, ein Kind zu
reinigen, ohne seine Wollust zu erregen? Ist eine Notwendigkeit, der
jeder Mensch vom ersten Atemzug an unterworfen ist, unnatürlich ?
Welche Berechtigung hat der Ausdruck „geheimes Laster« für eine
Angelegenheit, deren typisches Vorbild täglich mehrmals offen und
unbefangen dem Kinde von der Mutter eingeprägt wird ? Und wie
kann man es wagen, die Onanie schädlich zu nennen, die in den
Lebensplan des Menschen als etwas Selbstverständliches, Unvermeid-
liches aufgenommen ist ? Ebensogut kann man das Gehen lasterhaft
nennen, oder das Essen unnatürlich, oder behaupten, daß der Mensch,
der sich die Nase schnaubt, unfehlbar daran zugrunde gehen müsse.
Das unentrinnbare Muß, mit dem das Leben die Selbstbefriedigung
dadurch erzwingt, daß es den Schmutz und Gestank des Kots und
Urins an den Ort des Geschlechtsgenusses legte, beweist, daß die
Gottheit diesen verworfenen Akt angeblichen Lasters zu bestimmten
Zwecken dem Menschen als Schicksal mitgegeben hat. Und wenn Sie
Lust dazu haben, will ich Ihnen gelegentlich ein paar dieser Zwecke
nennen, Ihnen zeigen, daß allerdings unsere Menschenwelt, unsere
Kultur zum großen Teil auf der Selbstbefriedigung aufgebaut ist.
Wie ist es nun gekommen, werden Sie fragen, daß diese natür-
liche und notwendige Verrichtung in den Ruf gekommen ist, ein
schmachvolles, für Gesundheit und Geisteskraft gleich gefälirliches
Laster zu sein, ein Ruf, der überall gilt. Sie tun besser, sich um eine
Antwort an gelehrtere Leute zu wenden, aber einiges kann ich Ihnen
mitteilen. Zunächst stimmt es nicht, daß man allgemein von der
Schädlichkeit der Onanie überzeugt ist. Ich weiß mit exotischen Sitten
aus eigener Erfahrung nicht Bescheid, habe aber allerlei gelesen, was
46
mir eine andere Meinung gegeben hat. Und dann ist mir bei Spazier-
gängen aufgefallen, daß hie und da ein Bauernbursdi hinter dem Pflug
stand und ganz ehrlidi und allein seiner Lust fröhnte, und bei Land-
mäddien kann man es audi sehen, wenn man nidit durdi das Kind-
heitsverbot für diese Dinge blind gemacht worden und blind geblieben
ist; solch ein Verbot wirkt unter Umständen lange Jahre, vielleidit
ein Leben lang, und mitunter ist es spaßhaft zu beobaditen, was alles
die Menschen nicht sehen, weil Mama es verboten hat. - Sie brauchen
aber nidit erst zu den Bauern zu gehen. Ihre eigenen Erinnerungen
werden Ihnen genug erzählen. Oder wird die Onanie dadurch un-
schädlich, daß der Gehebte, der Ehemann an den reizbaren, ihm so
befreundeten Plätzen spielt? Es ist gar nicht nötig, an die tausend
Möglichkeiten der versteckten, schuldlosen Onanie zu denken, an das
Reiten, Sdiaukeln, Tanzen, an das Stuhlverhalten; der Liebkosungen,
deren tieferer Sinn die Selbstbefriedigung ist, gibt es auch so genug.
Das ist nicht Onanie, meinen Sie. Vielleicht nicht, vielleidit doch,
es kommt darauf an, wie man es auffaßt. Nach meiner Meinung ist
es kein großer Unterschied, ob die eigene oder die fremde Hand
zärtlich ist, ja am Ende braucht es keine Hand zu sein, auch der Ge-
danke reicht aus und vor allem der Traum. Da haben Sie ihn wieder,
diesen unangenehmen Deuter versteckter Geheimnisse. Nein, liebe
Freundin, wenn Sie wüßten, was alles unsereiner - und mindestens
mit dem Schein des Rechtes - zur Onanie rechnet, Sie würden wirk-
lich nicht mehr von ihrer Sdiädlichkeit sprechen.
Haben Sie denn schon einmal jemanden kennen gelernt, dem sie
geschadet hat? Die Onanie selbst, nicht die Angst vor den Folgen,
denn die ist wahrlich sdilimm. Und gerade weil sie so schlimm ist,
sollten sich wenigstens ein paar Menschen davon freimachen. Noch-
mals, haben Sie schon jemanden gesehen? Und wie denken Sie sich
die Sache? Ist es das bißchen Samen, der beim Manne verloren geht
oder gar die Feuchtigkeit beim Weibe? Das glauben Sie wohl selbst
nicht, wenigstens nidit mehr, wenn Sie eins der auf Universitäten
47
/
gangbaren Lehrbücher der Physiologie aufgeschlagen und da nach-
gelesen haben. Die Natur hat reichlich, unerschöpflich für Vorrat
gesorgt und - außerdem - der Mißbrauch verbietet sich von selbst;
beim Knaben und Mann wird die Erholung durch das Aussetzen der
Erektion und Ejakulation erzwungen und beim Weibe tritt audi ein
Überdruß ein, der ein paar Tage oder Stunden dauert; mit dem
Geschlechtssinn ist es wie mit dem Essen. Ebensowenig wie sich jemand
den Bauch durch vieles Essen sprengt, ebensowenig ersdiöpft jemand
seine Gcschlechtskraft durch Onanie. Wohlverstanden, durch Onanie;
ich spreche nicht von der Onanieangst, die ist etwas anderes, die
untergräbt die Gesundheit, und deshalb liegt mir daran, zu zeigen, was
für Verbrecher die Leute sind, die von dem geheimen Lasterreden, die die
Menschen einängstigen. Da alle Menschen, bewußt oder unbewußt, Onanie
treiben und auch die unbewußte Befriedigung als solche empfinden, ist
es ein Verbrechen gegen die ganze Menschheit, ein ungeheures Ver-
brechen. Und eine Narrheit, genau so närrisch, als wenn man aus der
Tatsache des aufrechten Ganges gesundheitsschädlidie Folgen ableitete.
Nein, der Substanzverlust ist es nicht, sagen Sie. Ja, aber viele
Menschen glauben das, glauben selbst jetzt noch, daß die Samen-
flüssigkeit aus dem Rückgrat käme und das Rückenmark durch den
berüchtigten Mißbrauch ausgedörrt würde, ja, daß schließlich auch das
Gehirn austrockne und die Menschen verblödeten.
Auch die Bezeichnung Onanie deutet darauf hin, daß der Gedanke
des Samenverlustes für die Menschen das Erschreckende ist. Kennen
Sie die Geschichte von Onan? Sie hat eigentlich, nichts mit Selbst-
befriedigung zu tun. Bei den Juden war es Gesetz, daß der Schwager,
falls sein Bruder kinderlos gestorben war, mit dessen Witwe Beilager
hielt; das Kind, das so entstand, galt als Nachkömmling des Toten.
Ein nicht ganz dummes Gesetz, das auf die Erhaltung der Traditionen
ausging, auf das Weiterbestehen des Stammes, wenn auch der Weg uns
Modernen ein wenig sonderbar vorkommt. Unsere Vorfahren haben
ähnlich gedacht, noch aus der Zeit kurz vor der Reformation bestand
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in Verdenleine ähnliche Verordnung. Nun also, Onan kam in diese
Lage durch den Tod seines Bruders, da er aber seine Schwägerin nicht
leiden konnte, ließ er den Samen statt in ihren Leib auf die Erde
fallen und für diese Gesetzesübertretung strafte ihn Jehovah mit dem
Tode. Das Unbewußte der Masse hat aus dieser Erzählung nur das
auf den Bodenspritzen des Samens herausgenommen und jede ähn-
liche Handlung mit dem Namen Onanie gebrandmarkt, wobei denn
wohl der Gedanke an den Tod durch Selbstbefriedigung den Aus-
schlag gab.
Gut, daß Sie es nicht glauben. Aber die Phantasie der wollüstigen
Vorstellungen, die sind das Schlimme. Ach, liebste Freundin, haben Sie
denn in der Umarmung keine wollüstigen Vorstellungen ? Und vorher
auch nicht? Vielleicht jagen Sie sie fort, verdrängen Sie sie, wie der
Kunstausdruck lautet; ich komme gelegentlich auf den Begriff des
Verdrängens zu sprechen. Aber da sind die Vorstellungen doch ; sie
kommen und müssen kommen, weil Sie Mensch sind und nicht einfach
die Mitte Ihres Körpers ausschalten können. Mir fällt bei soldien
Leuten, die nie wollüstige Gedanken zu haben glauben, immer eine
Art Menschen ein, die die Reinlichkeit so weit treiben, daß sie sidi
nicht nur wasdien, sondern auch täglidi den Darm ausspülen. Harmlose
Leutdien, nicht ? Sie denken gar nicht daran, daß oberhalb des Stück-
chens Darm, das sie mit Wasser reinigen, nodi ein stubenlangcs Stüdc
ist, das ebenso dreckig ist. Und um es gleich zu sagen, ihre Klystiere
machen sie, ohne es zu wissen, weil es symbolische Begattungsakte
Jnd; die Reinlichkeitssucht ist nur der Vorwand, mit dem das Un-
bewußte das Bewußte betrügt, die Lüge, die ermöglicht, dem Verbot
der Mutter buchstäblich treu zu sein. Genau so ist es mit den Ver-
drängungen der erotischen Phantasien. Gehen Sie tiefer auf den
Menschen ein, kommt die Erotik in jeder Form hervor.
Haben Sie schon einmal ein zartes, ätherisches, völlig unschuldiges
Mädchen geisteskrank werden sehen? Nein? Schade, Sie würden von
dem Glauben an das, was die Menschheit rein nennt, für Lebenszeit
4 Groddcck, Das Buch vom E9
,
kuriert sein und diese Reinheit und Unsdiuld mit dem ehrlichen
Worte Heuchelei bezeichnen. Darin liegt kein Vorwurf. Das Es
braucht auch die Heuchelei zu seinen Zwecken und gerade bei dieser
verpönten und doch so oft geübten Gewohnheit liegt der Zweck nicht
tief verborgen.
Vielleicht kommen wir der Frage, warum die Onanie das Ent-
setzen von Eltern, Lehrern und sonstigen aus ihrer Stellung heraus
autoritativen Leuten erregt, näher, wenn wir uns die Geschichte dieses
Entsetzens ansehen. Ich bin nicht sehr belesen, aber mir ist es so
vorgekommen, als ob erst gegen Ende des l8. Jahrhunderts das Geschrei
gegen die Onanie losgegangen sei. In dem Briefwechsel zwischen
Lavater und Goethe sprechen die beiden von geistiger Onanie noch
so harmlos, als ob sie sich von irgend einem Spaziergang etwas er-
zählten. Nun ist das auch die Zeit, in der man anfing, sich mit den
Geisteskranken zu beschäftigen, und Geisteskranke, vor allem Blöd-
sinnige sind sehr eifrige Freunde der Selbstbefriedigung. Es wäre wohl
denkbar, daß man Ursache und Wirkung verwechselt hat, daß man
glaubte: weil der Blödsinnige onaniert, ist er durch Onanie blöd-
sinnig geworden.
Aber letzten Endes werden wir doch wohl den Grund für den
merkwürdigen Abscheu des Menschen gegen etwas, wozu er durch
seine Mutter vom ersten Lebenstage an abgerichtet wird, anderswo
suchen müssen. Darf ich die Antwort verschieben ? Ich habe vorher
noch so viel zu sagen, und der Brief ist ohnehin lang genug geworden. In
aller Kürze möchte ich nur noch auf eine seltsame Verdrehung der
Tatsachen aufmerksam machen, die selbst bei sonst überlegenden
Menschen sich findet. Man nennt die Selbstbefriedigung einen Ersatz
für den „normalen" Geschlechtsakt. Ach, was ließe sich alles über
dieses Wort „normaler" Geschlechtsakt sagen. Aber ich habe es hier
mit dem Ersatz zu tun. Wie mögen die Menschen auf solch einen
Unsinn kommen? Die Selbstbefriedigung geht in dieser oder jener
Form durch das ganze Leben mit dem Menschen mit ; die sogenannte
50
normale Geschlechtstätigkeit tritt aber erst in einem bestimmten Alter
auf und verschwindet oft zu einer Zeit, wo die Onanie von neuem
die kindliche Form des bewußten Spielens an den Geschlechtsteilen
annimmt. Wie kann man einen Vorgang als Ersatz für einen andern
auffassen, der erst 15 bis 20 Jahre später beginnt ? Viel eher lohnte
es sich, einmal festzustellen, wie oft der normale Geschlechtsakt eine
reine bewußte Selbstbefriedigung ist, bei der Scheide und Glied des
andern nur ein ebensolches Werkzeug des Reibens ist wie Hand und
Finger. Ich bin dabei zu merkwürdigen Resultaten gekommen und
zweifle nicht daran, daß es Ihnen auch so gehen wird, wenn Sie der
Sache nachgehen.
Nun, und die Mutterliebe? Was hat die mit all dem zu tun?
Doch wohl einiges. Ich deutete schon darauf hin, daß die Mutter
seltsam sich verändert, wenn sie ihr Kind an den Geschlechtsteilen
reinigt. Sie ist sich dessen nicht bewußt, aber gerade die gemeinsam
genossene unbewußte Lust bindet am stärksten, und einem Kinde
Lust zu geben, in welcher Form es auch sei, weckt in dem Erwachsenen
Liebe. Noch eher als zwischen Liebenden ist im Verhältnis von Mutter
und Kind Geben mitunter seliger als Nehmen.
Ich habe nun noch über den Einfluß der Selbstbefriedigung einen
Punkt nachzutragen, dessen Erörterung bei Ihnen Kopfschütteln her-
vorrufen wird. Ich kann ihn Ihnen aber nidit ersparen, er ist wichtig
und gibt wieder eine Möglichkeit, in das Dunkel des Unbewußten
hineinzublicken. Das Es, das Unbewußte, denkt symbolisch, und unter
anderen hat es ein Symbol, demzufolge es Kind und Geschlechtsteil
identifiziert, gleidibedeutend braucht. Der weibliche Geschlechtsteil ist
ihm das kleine Ding, das Mädchen, Töchterchen oder Schwesterchen,
die kleine Freundin, der männliche das kleine Männchen, das Jungchen,
das Söhnchen, Brüderchen. Das klingt absonderlich, ist aber so. Und
nun bitte ich Sie, sich einmal ohne alberne Prüderie und falsche Scham
klar zu machen, wie sehr ein jeder Mensch seinen Geschlechtsteil liebt,
lieben muß, weil er ihm letzten Endes alle Lust und alles Leben
** 51
/
verdankt. Sie können sich diese Liebe nidit groß genug vorstellen
und diese große Liebe überträgt das Es - das Überträgen ist auch
eine seiner Eigentümlichkeiten - auf das Kind, es verwechselt sozu-
sagen Geschlechtsteil und Kind. Ein gut Teü der Mutterliebe zum
Kind stammt aus der Liebe, die die Mutter für ihren Geschlechtsteil
hat, und aus Onanie-Erinnerungen.
War es sein- arg ? Ich habe für heute nur noch eine Kleinigkeit
zu sagen, die vielleicht ein wenig erklärt, warum das Weib im allge-
meinen mehr kinderlieb ist als der Mann. Erinnern Sie sich an das,
was ich von dem Reiben der Geschlechtsteile beim Waschen erzählte,
und wie ich den daraus entstehenden Genuß unter Benutzung des
unbewußten Symbolisierens in Zusammenhang mit der Liebe zum
Kinde brachte? Können Sie sich vorstellen, daß die Reibung des
Waschens dem kleinen Knaben so viel Freude gibt wie dem kleinen
Mädchen? Ich nicht.
Ich bin Ihr ganz ergebener
PATRK TROLL.
6.
SIE FINDEN, LIEBE UND GESTRENGE RICHTERLN, DASS MEINE
Briefe zuviel von der Freude verraten, mit der ich all meine erotischen
Kleinigkeiten vorbringe. Das ist eine riditige Bemerkung. Aber ich
kann es nicht ändern, ich freue mich und kann meine Freude nicht
verstecken, sonst würde ich platzen.
Wenn man sich selber lange Zeit in ein enges, sdilecht erleuchtetes,
stickiges Zimmer eingesperrt hat, nur aus Angst, die Menschen draußen
könnten einen schelten oder auslachen, nun ins Freie kommt und
merkt, daß niemand sich um einen kümmert, höchstens jemand einen
Moment aufblickt und ruhig seines Weges weiterzieht, dann wird man
fast toll vor Freude.
Sie wissen, ich war der Jüngste in meiner Familie, aber Sie ahnen
nicht, wie spott- und necklustig diese Familie war. Man brauchte bloß
52
(
■
eine Dummheit zu sagen, so bekam man sie alle Tage aufs Butter-
brot gesdimiert; und daß der Kleinste in einer Geschwisterschar mit
ziemlich großen Altersunterschieden die meisten Dummheiten sagt, ist
begreiflich. Da habe ich es mir frühzeitig abgewöhnt, Meinungen zu
äußern; ich habe sie verdrängt.
Bitte nehmen Sie den Ausdrude wörtlich ; was verdrängt wird,
verschwindet nicht, es bleibt nur nicht an seinem Platz; es wird an
irgend eine Stelle geschoben, wo ihm sein Recht nicht wird, wo es
sich eingeengt und benachteiligt fühlt. Es steht dann immer auf den
Fußspitzen, drückt mit aller Kraft von Zeit zu Zeit nach vorn zu dem
Ort hin, wo es hingehört, und sobald es eine Lücke in dem Wall vor
sich sieht, sucht es sich da durchzuquetschen. Das gelingt vielleicht
auch, aber wenn es nach vorn gekommen ist, hat es all seine Kraft
verbraucht und der nächste beste Stoß irgend einer herrischen Gewalt
schleudert es wieder zurüde. Es ist eine recht unangenehme Situation,
und Sie können sich vorstellen, was für Sprünge solch ein verdräng-
tes, zerstoßenes, gequetschtes Wesen macht, wenn es endlich frei ge-
worden ist. Haben Sie nur Geduld! Noch einige überlaute Briefe und
dieses trunkene Wesen wird ebenso gesetzt und brav sich benehmen
wie ein wohldurchdachter Aufsatz irgend eines Fachpsychologen. Nur
freilich, die Kleider sind im Gedränge verschmutzt, zerrissen und zer-
lumpt, die bloße Haut schimmert überall durch, nicht immer sauber,
und ein eigentümlicher Geruch nach Masse menschelt darin herum!
Dafür hat es aber etwas erlebt und kann erzählen.
Ehe ich es aber erzählen lasse, will ich noch rasch ein paar Aus-
drücke erklären, die ich hie und da brauchen werde. Haben Sie keine
Angst, ich will keine Definitionen geben, könnte es meiner zerfahre-
nen Sinnesart halber gar nicht. Ähnlich wie ich es eben mit dem Wort
„verdrängen" getan habe, will ich es nun auch mit den Wörtern
„Symbol" und „Assoziation" versudien.
Ich schrieb Ihnen früher einmal, daß es schwer sei, über das Es
zu sprechen. Ihm gegenüber werden alle Wörter und Begriffe schwan-
53
kend, weil es seiner Natur nadi in jede Bezeichnung, ja in jede
Handlung eine ganze Reihe von Symbolen hineinlegt und aus ande-
ren Gebieten Ideen daran heftet, assoziiert, so daß etwas, was für
den Verstand einfach aussieht, für das Es sehr kompliziert ist. Für
das Es existieren in sich abgegrenzte Begriffe nidit, es arbeitet mit
Begriffsgebieten, mit Komplexen, die auf dem Wege des Symbolisie-
rungs- und Assoziationszwanges entstehen.
Um Sie nicht kopfscheu zu machen, will ich an einem Beispiel
zeigen, was idi unter Symbol- und Assoziationszwang verstehe. Als
Symbol der Ehe gilt der Ring ; nur sind sidi die Wenigsten klar dar-
über, wieso dieser Reif den Begriff der ehelichen Gemeinschaft aus-
drückt. Die Sprüche, daß der Ring eine Fessel ist oder die ewige
Liebe ohne Anfang und Ende bedeute, lassen wohl Schlußfolgerungen
auf Stimmung und Erfahrung dessen zu, der solch eine Redewendung
braucht, sie klären aber das Phänomen nicht auf, warum von unbe-
kannten Gewalten gerade ein Ring gewählt wurde, um das Verhei-
ratetsein kenntlidi zu machen. Geht man jedoch davon aus, daß der
Sinn der Ehe die Geschlechtstreue ist, so ergibt sich die Deutung
leicht. Der Ring vertritt das weibliche Gesdilechtsorgan, während der
Finger das Organ des Mannes ist. Der Ring soll über keinen andren
Finger gestreift werden als über den des angetrauten Mannes, er ist
also das Gelöbnis, nie ein anderes Geschlechtsorgan im Ring des
Weibes zu empfangen wie das des Ehegatten.
Dieses Gleichsetzen von Ring und weiblichem Organ, Finger und
männlidiein ist nicht willkürlich erdacht, sondern vom Es des Menschen
erzwungen, und jeder kann den Beweis an sich und andern täglidi
führen, wenn er das Spielen mit dem Ring am Finger bei den Men-
schen beobachtet. Unter dem Einflüsse bestimmter, leicht zu erratender
Gefühlsregungen, die meist nicht voll ins Bewußtsein treten, beginnt
dieses Spiel, dieses Auf- und Abbewegen des Ringes, dieses Drehen
und Winden. Bei verschiedenen Wendungen der Unterhaltung, bei
dem Hören und Aussprechen von einzelnen Worten, beim Erblicken
54
■ '
von Bildern, Menschen, Gegenständen, bei allen möglichen Sinnes-
wahrnehmungen werden Handlungen vorgenommen, die uns gleich-
zeitig 'versteckte Seelenvorgänge aufdecken und bis zum Überdruß be-
weisen, daß der Mensch nidit weiß, was er tut, daß ein Unbewußtes
ihn zwingt, sich symbolisch zu offenbaren, daß dieses Symbolisieren
nicht dem absichtlichen Denken entspringt, sondern dem unbekannten
Wirken des Es. Denn welcher Mensch würde absichtlich unter den
Augen anderer Bewegungen ausführen, die seine sexuelle Erregung
verraten, die den heimlichen, stets versteckten Akt der Selbstbefrie-
digung öffentlich zur Schau stellen? Und doch spielen selbst die, die
das Symbol zu deuten verstehen, weiter am Ringe, sie müssen spielen.
Symbole werden nicht erfunden, sie sind da, gehören zum unver-
äußerlichen Gut des Menschen ; ja man darf sagen, daß alles bewußte
Denken und Handeln eine unentrinnbare Folge unbewußten Symboli-
sierens ist, daß der Mensch vom Symbol gelebt wird.
Ebenso menschlich unvermeidbar wie das Symbolsdiicksal ist der
Zwang zur Assoziation, der ja im Grunde dasselbe ist, da beim As-
soziieren stets Symbole aneinandergereiht werden. Schon aus dem
eben erwähnten Ringspiel ergibt sich, daß die unbewußte Symbolisie-
rung des Ringes und des Fingers als Weib und Mann eine augen-
fällige Darstellung des Beischlafes erzwingt. Geht man im einzelnen
Falle den dunklen Wegen nach, die von dem halb bewußten Wahr-
nehmen eines Eindruckes zu der Handlung des Auf- und Abschiebens
des Ringes führen, so findet man, daß blitzartig bestimmte Ideen
durch das Denken schießen, die sich bei anderen Individuen in an-
deren fällen wiederholen. Es finden zwangsläufige Assoziationen statt.
Auch die symbolische Verwendung des Ringes als Abzeichen der Ehe
ist durch unbewußte zwangsmäßige Assoziationen entstanden. Tief
eingreifende Beziehungen des Ringspieles zu uralten religiösen Vor-
stellungen und Sitten sowie zu widitigen Komplexen des persönlichen
Lebens tauchen bei soldienBetrachtungen auf und nötigen uns, unter Ver-
zicht auf die Illusion ichgewollter Planmäßigkeit den geheimnisvoll ver-
sdilungenen Pfaden der Assoziation nachzuspüren. Sehr bald erkennen wir
dann, daß sich die Auffassung des Eheringes als Fessel oder als Bund
ohne Anfang und Ende aus Verstimmungen oder romantischen Re-
gungen erklärt, die aus dem der Menschheit gemeinsamen Gut der Sym-
bole und Assoziationen ihre Äußerungen nehmen und nehmen müssen.
Wir begegnen solchem Assoziationszwang überall, auf Schritt und
Tritt. Man braucht bloß Augen und Ohren zu öffnen. Schon in der
Redewendung „Schritt und Tritt" finden Sie den Zwang : das Wort
Schritt fordert den Reim Tritt. Tummeln Sie sich ein wenig in der
Sprache : da haben Sie Liebe und Lust, Liebe und Leid. Da ist Lust
und Brust und Herz und Schmerz ; Wiege und Grab ; Leben und Tod ;
hin und her ; auf und ab ; Weinen und Lachen ; Angst und Schrecken ;
Sonne und Mond; Himmel und Hölle. Die Einfälle überstürzen sich,
und wenn Sie darüber nachdenken, wird Ihnen zu Mute, als ob plötz-
lich das Sprachgebäude vor Ihnen enstünde, als ob Säulen, Fassaden,
Dächer, Türme, Türen, Fenster und Wände wie aus Nebelmassen
sich unter Ihren Augen formten. Das Innerste wird Ihnen erschüttert,
das Unbegreifliche rüdct Ihnen näher und erdrückt sie fast.
Vorüber, Liebe, rasch vorbei! Wir dürfen nicht dabei verweilen.
Fassen Sie ein paar Dinge auf, etwa wie der Assoziationszwang den
Reim benutzt oder den Rhythmus oder Alliterationen, oder Gefühls-
folgen. - Alle Sprachen der Welt lassen die Bezeichnung des Erzeugers
mit dem verächtlichen Laut P beginnen, die der Gebärerin mit dem
billigenden Laut M. — Oder wie dieser Zwang mit dem Gegensatz
arbeitet, eine wichtige Sache, denn jedes Ding hat seinen Gegensatz
in sich, und das sollte niemand jemals vergessen. Sonst glaubt er gar,
es gäbe in Wahrheit ewige Liebe, unverbrüchliche Treue, unerschütter-
liche Hochachtung. Auch Assoziationen lügen zuweilen. Aber das
Leben ist ohne das Wissen um die Bedingtheit aller Erscheinungen
durch ihre Gegensätze nicht zu verstehen.
Es ist nicht leicht, Assoziationen zu finden, die unter allen Um-
ständen und überall gelten; denn das Leben isfbunt, muiUbei _der
56
Auswahl der Assoziation ist der individuelle Mensch und sein je-
weiliger Zustand mitbeteiligt. Aber es ist wohl anzunehmen, daß das
Gefühl des Zugwindes, sobald es unangenehm ist, den Gedanken
wachruft, das Fenster zu schließen, daß die Stickluft des Zimmers
einem jeden den Wunsch eingibt, das Fenster zu öffnen, daß der
Anblick von nebeneinander stehendem Brot und Butter das Wort
Butterbrot hervorruft. Und wer einen andern trinken sieht, dem pflegt
der Gedanke durdi den Kopf zu huschen solltest : du nicht auch trinken?
Der Volksmund, von der Kraft dumpfer Logik zur Schlußfolgerung
aus zahllosen halb verstandenen Beobachtungen getrieben, faßt das
tiefe Geheimnis der Assoziation in den derben Spruch : Wenn eine
Kuh schifft, schifft die andere. Und nun halten Sie einen Augenblick
ein und suchen Sie zu begreifen, welch ein unendliches Gebiet mensch-
lichen Lebens, menschlicher Kultur und Entwicklung in der Tatsache
liegt, daß aus irgendwelchen Gründen tausend und abertausendmal
vom Urinlassen Assoziationsbrücken zum Meer geschlagen wurden, bis
endlidi die Schiffahrt erzirungen war, bis der Mast im Boot als Symbol
der Manneskraft stand und die Ruder sich taktgemäß in der Bewegung
der Liebe regten. Oder suchen Sie den Weg nachzugehen, der vom
Vogel zum Vögeln führt, dieser Weg, der von der Erektion, der Auf-
hebung des Sdiwergewichtes, dem Schwebegefühl der höchsten Lust
dem durch die Luft schießenden und spritzenden Urinstrahl und Samen
zu dem beflügelten Eros und Todesgott führt, der zu dem Glauben
an Engel und zur Erfindung des Flugzeuges hinleitet. Des Menschen
Es ist ein wunderlich Ding.
Am wunderlichsten sind die Wege wissenschaftlichen Denkens.
Wir sprechen in der Medizin längst von Assoziationsbewegungen und
die Psychologie lehrt eifrig dieses und jenes von den Assoziationen.
Als aber Freud und die um ihn sind und waren, mit der Beob-
achtung der Assoziationen Ernst machten, sie aus dem Triebleben des
Menschen ableiteten und bewiesen, daß Trieb und Assoziation Ur-
phänomene menschlichen Lebens und Grundsteine alles Wissens und
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Denkens, aller Wissenschaft sind, ging ein Geschrei des Hasses durch
die Länder und man tat so, als ob jemand das Gebäude der Wissen-
schaft einreißen wollte, weil er feststellt, auf welchem Boden es er-
richtet ist. Ängstliche Seelen. Die Fundamente der Wissenschaft sind
dauernder als Granit und ihre Wände, Räume und Treppen bauen
sich von selbst wieder, wenn hie und da ein wenig kindisch gefügtes
Mauerwerk einstürzt.
Wollen Sie einmal mit mir assoziieren ? Ich begegnete heute einem
kleinen Mäddien mit roter Kapuze. Es sah midi erstaunt an, nicht
unfreundlich, denke ich, aber erstaunt : denn ich trug der Kälte wegen
eine schwarze Pelzmütze tief über die Ohren gezogen. Irgend etwas
muß mich bei diesem Blick des Kindes getroffen haben; ich sah
plötzlich mich selbst als sechs- oder siebenjährigen Jungen mit einem
roten Baschlik. Rotkäppchen fiel mir ein und dann schoß mir der Vers
durch den Kopf: Ein Männlein steht im Walde so ganz allein; von
da ging es zum Zwerg und seiner Kapuze und zum Kapuziner und
schließlich ward mir bewußt, daß ich schon eine Weile durch die
Kapuzinerstraße ging. Die Assoziationen liefen also in sich selbst
zurück wie ein Ring. Warum aber taten sie es und wie kamen sie in
solcher Folge ? Durch die Kapuzinerstraße mußte ich gehen, das war
gegeben. Dem Kind begegnete idi zufällig, daß ich aber auf das Kind
achtete und daß sein Anblick in mir solche Gedankengänge weckte
wie war das zu erklären? Als ich von Hause wegging, zogen zwei
Frauenhände meine Pelzmütze tief über die Ohren und ein Frauen-
mund sagte : „So Pat, nun wirst du nicht frieren." Mit solchen Worten
band mir meine Mutter vor vielen Jahren den Baschlik um den Kopf.
Die Mutter erzählte auch vom Rotkäppchen und dort stand es
leibhaftig vor mir. Rotkäppchen, das kennt ein jeder. Das rote
Köpfchen guckt bei jedem Urinlassen neugierig aus seinem Vor-
hautmantel heraus, und wenn die Liebe kommt, reckt es den Kopf
nach den Blumen der W 7 iese, steht wie der Pilz, wie das Männlein
im Walde mit roter Kapuze auf einem Bein, und der Wolf, in den
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es hineingerät, um nadi neun Monden wieder aus seinem Baudi ge-
schnitten zu werden, ist ein Symbol kindlicher Empfängnis- und
Geburtstheorien. Sie werden sich besinnen, daß Sie einst selbst an
dieses Aufschneiden des Bauches geglaubt haben. Freilich, dessen
werden Sie sich nicht mein* erinnern, daß Sie auch einmal fest überzeugt
davon waren, daß alle Menschen, auch die Frauen, solch Ding mit
rotem Käppchen hätten, daß es ihnen aber abgenommen würde und
sie es irgendwie essen müßten, um Kinder daraus wachsen zu lassen.
Bei uns Assoziationsmenschen wird diese Theorie in den Kastrations-
komplex eingereiht, von dem Sie noch allerlei hören werden. Vom
Käppchen und dem Humperdinckschen Pilz geht es leicht über zum
Zwerg und seiner Kapuze und von da ist es nicht weit bis zum Mönch
und Kapuziner. In beiden Ideen klingt der Kastrationskomplex noch
nach : denn der uralte Zwerg mit langem Bart ist runzlige Alters-
impotenz und der Möndi versinnbildlicht die freiwillig unfreiwillige
Entsagung. Soweit sind die Dinge wohl klar, wie aber kommt die
Kastrationsidee in meinen Kopf? Der Ausgangspunkt von allem, be-
sinnen Sie sich nur, war eine Szene, die an meine Mutter erinnerte und
das Schlußglied war die Kapuzinerstraße. In jener Kapuzinerstraße lag ich
vor vielen Jahren krank an einem Nierenleiden, todeskrank, und wenn
ich recht die Tiefen meines Unbewußten erforsche, glaube ich, daß jene
Wassersucht aus dem Gespenst der Onanieangst entstand, die letzten
Endes mit irgend welchen Regungen zusammenhängt, die meiner Mutter
galten, wenn sie mir sorglidi das Zwerglein aus seiner Höhle nahm, um
es Urin spritzen zu lassen. Idi vermute es, ich weiß es nicht. Aber der
einsam stehende Pilz mit der roten Kappe, der giftige Fliegenpilz weist
auf die Onanie hin, und der rote Baschlik auf den Inzestwunsch.
Wundern Sie sich über die gewundenen Wege, die meine Sucht,
Assoziationen zu deuten, geht? Es ist nur der Beginn, denn nun
wage idi zu behaupten, daß das Märdien aus dem Assoziations- und
Symbolisierungszwang entstand, entstehen mußte, weil das Rätsel der
Begattung, Empfängnis, Geburt und des Mädchentums die Menschen-
59
■
seele mit Affekten quälte, bis sie dichterisch gestaltete, was unbe-
greiflidi ist; wage zu behaupten, daß das Lieddien vom Männlein
im Walde bis in die Einzelheiten dem Phänomen der Schambehaarung
und der Erektion entnommen ist, aus unbewußten Assoziationen, daß
der Glaube an Zwerge ebenso aus der Assoziation Wald, Sdiamhaar,
Ersdilaffung, runzliger Zwerg entstehen mußte und daß das Kloster-
leben mitsamt dem Kuttenkleid eine unbewußte Folge der Flucht vor
dem Mutterinzest ist. So weit gehe ich mit meinem Glauben an die
Assoziation und das Symbol und noch viel weiter.
Darf ich noch ein Beispiel vom Assoziationszwang geben ? Es ist
wichtig, weil es ein wenig in die Sprache des Unbewußten, in den
Traum einführt, ein Lebensgebiet des Es, das uns Ärzten manches
Rätsel aufgibt. Es ist ein kurzer Traum, ein Traum eines einzigen
Wortes, des Wortes „Haus". Die Dame, die ihn träumte, kam vom
Worte „Haus« auf das Wort „Eßzimmer" und von da auf „Eßbesteck«
und dann auf „Operationsbesteck«. Vor einer schweren Operation,
einer Operation der Leber nach Talma stand ihr Mann. Sie war in
Sorge um ihn. Von dem Namen Talma ging sie über auf Talmi, das
sie auf ihr Eßbestedt bezog: es sei nicht Silber, sondern Christoffie.
Talmi sei auch ihre Ehe, denn ihr Mann, der der Operation nach
Talma entgegenging, war von jeher impotent. Talmi, falsch sei sie
gegen mich, der ich sie behandelte. Es kam heraus, daß sie mich be-
logen hatte, daß sie wirklich ein Talmibesteck war.
An all dem ist nichts Besonderes; höchstens der Wunsch, den
Talmigatten los zu werden und einen echt silbernen statt seiner zu
erwerben, ist noch erwähnenswert. Aber die ganze Erzählung mit
ihrer raschen Assoziationsfolge hatte ein merkwürdiges Resultat. Jene
Frau war seit zwei Tagen von einer großen Angst gequält, ihr Herz
jagte in raschen Schlägen und ihr Bauch war von Luft gebläht. Etwa
zwanzig Minuten hatte sie gebraucht, um zu dem Worte „Haus« zu
assoziieren. Als sie zu Ende erzählt hatte, war der Leib weich, das
Herz ganz ruhig und die Angst war fort.
60
Was soll idi davon denken? War ihre Angst, ihre akute Herz-
neurose, die Blühung ihres Darms, ihres „Eßzimmers", Angst um den
kranken Mann, Gewissensbisse wegen des Todeswunsdies gegen ihn,
war es, weil sie das alles verdrängte, nicht ins Bewußtsein kommen
ließ, oder bekam sie all diese Leiden, weil ihr Es sie zum Assoziieren
zwingen wollte, weil es ein tiefes Geheimnis emporzusducken suchte,
das von der Kindheit her verstedkt war ? All das mag gleichzeitig ge-
wirkt haben, für meine Behandlung aber, für das schwere Leiden, das
sie zu einem elenden Krüppel mit gichtischen Gliedern gemacht hatte,
scheint mir das wichtigste die letzte Beziehung zu sein, der Versuch
des Es, ein Kindheitsgeheimnis auf dem Wege der Assoziation aus-
zusprechen. Denn ein Jahr später kam sie auf jenen Traum zurück
und erst dann erzählte sie mir, daß das Wort Talmi allerdings mit
der Impotenz zusammenhing, aber nicht mit der ihres Mannes, sondern
mit ihrer eigenen, tief gefühlten, und daß die Operationsangst nicht
dem Manne galt, sondern dem eigenen Onaniekomplex, der ihr Ur-
sache der Unfruchtbarkeit, Ursache ihrer Erkrankung zu sein schien.
Seit dieser Erklärung verlief ihre Genesung glatt Soweit man von
Gesundheit sprechen kann, ist diese Frau gesund.
So viel von den Assoziationen.
Wenn ich Sie, liebe Freundin, nach alle dem, was ich eben aus-
einandergesetzt habe, noch darauf aufmerksam mache, daß ich für
mich persönlich das allgemein menschliche Recht unklarer Ausdrucks-
weise beanspruche, glaube ich ungefähr die Vorstellung geweckt zu
haben, daß sich dem Sprechen über das Es schwere Hindernisse ent-
gegenstellen. Als einzigen Weg zur Verständigung sah ich den Sprung
mitten in die Dinge hinein an.
Da ich nun einmal beim Definieren bin, will ich auch gleich ver-
suchen, Ihnen das Wort „Übertragung" zu erklären, das hie und da
in meinen Äußerungen vorgekommen ist
Sie erinnern sich, daß ich von dem Einfluß meines Vaters auf
mich erzählt habe, wie ich bewußt und unbewußt ihn nachahmte.
61
Zur Nachahmung bedarf es eines Interesses für das, was man nach-
ahmt, für den, den man nachahmt. Tatsächlich lebte In mir ein sehr
starkes Interesse an meinem Vater - lebt noch jetzt eine Bewunde-
rung, die durdi ihre Leidenschaftlichkeit diarakterisiert ist Mein
Vater starb, als ich 18 Jahre alt war. Der Hang zur leidenschaftlichen
Bewunderung blieb aber in mir, und da aus tausend und einem
Grunde, über die wir sprechen können, meine Begabung für Toten-
kultus gering ist, warf ich die freigewordene Leidenschaftlichkeit im
Bewundern auf das nunmehrige Haupt der Familie, auf meinen
ältesten Bruder, ich übertrug sie auf ihn. Denn so etwas nennt man
Übertragung. Es scheint aber, daß seine Persönlichkeit für die Bedürf-
nisse meiner jungen Seele nicht ausreichte, denn wenige Jahre später
entstand, ohne daß sich die Neigung zum Bruder verminderte, in mir
eine gleich intensive Bewunderung für meinen ärztlichen Lehrer
Sthweninger. Ein Teü der Affekte, die meinem Vater gegolten haben,
waren in diesen Jahren frei zu meiner Verfügung geblieben und
wurden nun auf Sdiweninger übertragen. Daß sie wirklich zu meiner
Verfügung standen, geht daraus hervor, daß idi während der Zeit
zwischen dem Tode des Vaters und dem Kennenlernen Schweningers
zu vielen Menschen in ein solches Bewunderungsverhältnis trat, es
dauerte aber immer bloß kurze Zeit, und dazwischen waren Pausen,
in denen meine so gerichteten Affekte anscheinend unbeschäftigt
waren oder sich auf Männer der Geschichte, auf Bücher, Kunstwerke
kurz alles mögliche bezogen.
Ich weiß nicht, ob ftinen jetzt schon klar geworden ist, welche
große Bedeutung der Begriff der Übertragung für meine Anschauun-
gen hat Ich darf also wohl die Sache, von einem anderen Ende be-
ginnend, nochmals auseinandersetzen. Vergessen Sie aber nicht, daß
ich über das Es spreche, daß also alles nicht so scharf umgrenzt ist,
wie es dem Wortlaut nach scheint, daß es sich um Dinge handelt, die
ineinander fließen und sich nur künstlich trennen lassen. Sie müssen
sich das Reden über das Es etwa vorstellen wie die Gradeinteilung
62
'
der Erdkugel. Man denkt sich Linien, die in der Längs- und Quer-
richtung verlaufen, und teilt danach die Erdoberfläche ein. Aber die
Fläche selbst kümmert sich darum nicht; wo östlich des 60. Längen-
grades Wasser ist, da ist auch westlich welches. Es sind eben Orien-
tierungswerkzeuge. Und für das Erdinnere lassen sich diese Linien
nur sehr bedingt zu Erkundungszwecken brauchen.
Unter solchem Vorbehalt möchte ich nun sagen, daß der Mensch
in sich ein gewisses Quantum Affektfähigkeit hat - Neigungs- oder
Abneigungsfähigkeiten, das spricht augenblicklich nicht mit. Ich weiß
auch nicht, ob dieses Quantum stets gleich groß ist, das weiß kein
Mensch und vermutlich wird es auch nie jemand erfahren. Aber kraft
meiner Autorität als Briefschreiber sdilage idi vor, anzunehmen, die
Gefühlsmenge, die dem Menschen zur Verfügung steht, sei stets gleich
groß. Was macht er damit?
Nun, über eins besteht kein Zweifel, den größten Teil dieser Ge-
fühlsmasse, beinahe alles verwendet er auf sich selbst ; ein im Ver-
gleich geringer, im I eben aber recht erheblicher Teil kann nach außen
hin gerichtet werden. Dieses Außen ist nun sehr verschieden; da
sind Personen, Gegenstände, örtlichkeiten, Daten, Gewohnheiten,
Phantasien, Tätigkeiten aller Art; kurz alles, was zum Leben gehört,
kann vom Menschen verwendet werden, um seine Neigung und Ab-
neigung unterzubringen. Das Wichtige ist, daß er die Objekte seiner
Gefühle wechseln kann; das heißt, eigentlich kann er es nicht, son-
dern sein Es zwingt ihn, sie zu wechseln. Aber es sieht so aus, als
ob er, sein Ich das tue. Nehmen Sie einen Säugling: es ist wahr-
scheinlich, daß er Neigung für Milch hat. Nach einigen Jahren ist ihm
Milch gleichgültig oder gar unangenehm geworden, er bevorzugt
Bouillon oder Kaffee oder Reisbrei oder was es sonst ist. Ja, wir
brauchen so lange Zeiträume nicht; jetzt eben ist er ganz Neigung
zum Trinken, zwei Minuten darauf ist er müde, wünscht zu schlafen
oder er wünscht zu schreien oder zu spielen. Er entzieht dem einen
Objekt, der Milch, seine Gunst und wendet sie dem anderen, dem
63
Schlaf, zu. Nun wiederholen sich aber bei ihm eine ganze Reihe von
Affekten immer wieder und er findet Geschmack gerade an diesen
Affekten, er sucht sich die Möglichkeit gerade dieses oder jenes Ge-
fühls stets von neuem zu verschaffen ; bestimmte Neigungen sind ihm
Lebensbedürfnisse, sie begleiten ihn durch sein ganzes Leben. Daliin
gehört etwa die Liebe zum Bett, zum Licht oder was Ihnen nodi ein-
fallen mag. Nun ist, wenigstens von den Lebewesen, die das Kind
umgeben, eines, das die Gefühlswelt des Kindes in höchstem Maße
auf sich zieht, das ist die Mutter. Ja man kann mit einem gewissen
Recht behaupten, daß diese Neigung zur Mutter - die immer auch
ihr Gegenteil, die Abneigung, bedingt - ähnlich unveränderlich ist
wie die zu sich selbst. Jedenfalls ist sie bestimmt die erste, da sie sich
schon im Mutterleibe ausbildet. Oder gehören Sie zu den absonder-
lichen Menschen, die annehmen, ungeborene Kinder hätten keine Ge-
fühlstätigkeit ? Ich hoffe doch nicht.
Nun also, auf dieses eine Wesen, die Mutter, häuft das Kind,
mindestens eine Zeitlang, so viel von seinem Gefühl, daß alle an-
deren Menschen nicht in Betracht kommen. Aber diese Neigung ist
wie jede Neigung, ja, mehr als jede andere reich an Enttäuschungen.
Sie wissen, die Gefühlswelt sieht die Dinge und Menschen anders, als
sie sind, sie macht sich ein Bild von dem Gegenstand der Neigung
und hebt dieses Bild, nicht eigentlich den Gegenstand. Ein solches
Bild - eine Imago nennen es die Leute, die diesen Dingen jüngst mit
vieler Mühe nachgegangen sind, - macht sich das Kind auch zu irgend
einer Zeit von seiner Mutter; vielleicht macht es sich auch verschie-
dene solche Bilder, wahrscheinlich macht es sie sich. Aber der Einfach-
heit halber wollen wir bei einem Bilde bleiben und es, weil es so
Brauch geworden ist, Mutterimago nennen. Nach dieser Mutterimago
strebt nun das Gefühlsleben des Menschen sein lebelang, so stark
strebt es danach, daß beispielsweise die Sehnsucht nach Schlaf, die
Sehnsucht nach dem Tode, nach Ruhe, nach Schutz sich gut als Sehn-
sucht nach der Mutterimago auffassen lassen, was ich in meinen
64
Briefen verwerten werde. Diese Iraago der Mutter hat gemeinsame
Züge, beispielsweise die, die ich eben erwähnte. Daneben bestehen
aber auch ganz persönliche individuelle Eigentümlichkeiten, die nur
der einen, vom individuellen Kinde erlebten Imago angehören. So
hat diese Imago etwa blondes Haar, sie trägt den Vornamen Anna,
sie hat eine etwas gerötete Nase oder ein Mal auf dem linken Arm,
ihre Brust ist voll und sie besitzt einen bestimmten Cerudi, sie geht
gebückt oder hat die Gewoluiheit, laut zu niesen, oder was es sonst
sein mag. Für dieses imaginierte, der Phantasie angehörende Wesen
behält sich das Es bestimmte Gefühlswerte vor, hat sie sozusagen auf
Lager. Nun nehmen Sie an, irgendwann begegnet dieser Mann -
oder diese Frau, das ist gleichgültig - einem Wesen, das Anna heißt,
das blond und voll ist, das laut niest, ist da nicht die Möglichkeit
gegeben, daß die schlummernde Neigung zur Mutterimago aufgerühr
wird? Und wenn die Umstände günstig sind, - wir werden auch
darüber uns gegegenseitig verständigen, - nimmt dieser Mann plötzlidi
alles, was er an Gefühl für die Mutterimago hat, und überträgt es
auf diese eine Anna. Sein Es zwingt ihn dazu, er muß es über-
tragen.
Haben Sie verstanden, was ich mit der Übertragung meine ? Fragen
Sie bitte, wenn es nicht der Fall ist. Denn wenn ich mich nicht klar
genug ausgedrückt habe, ist alles weitere Reden unnütz. Sie müssen
die Bedeutung der Übertragung in sich aufnehmen, sonst ist es un-
möglich, weiter über das Es zu reden.
Seien Sie gut und beantworten Sie diese Frage Ihrem treu er-
gebenen PATRIK TROLL.
7-
LIEBE FREUNDIN, DER LETZTE BRIEF IST IHNEN ZU TROCKEN.
Das ist er mir auch. Aber geben Sie das Kritisieren auf. Sie reden
doch nicht in mich hinein, was Sie gern hören möchten. Entschließen
Sie sich ein für allemal, in meinen Briefen nidit die Liebhabereien
5 G r o d d c e k, Das Buch vom Es 65
und Freuden Ihres Idis zu suchen, lesen Sie sie, wie man eine Reise-
besdireibung liest oder einen Detektivroman. Das Leben ist ernst
genug, und weder Lektüre nodi Studium nodi Arbeit noch irgend
etwas sonst sollte man absichtlich ernst auffassen.
Sie schelten auch über Mangel an Klarheit. Weder die Über-
tragung noch die Verdrängung sei Ihnen so lebendig geworden, wie
Sie und ich es wünschen. Es sind für Sie noch leere Worte.
Darin kann ich Ihnen nicht beistimmen. Darf ich Sie auf eine
Stelle in Ihrem letzten Brief hinweisen, die das Gegenteil beweist ?
Sie berichten von Ihrem Besuch bei Gessners, um dessen Komik ich
Sie übrigens beneide, und erzählen von einer jungen Studentin, die
den Zorn Schulvater Gessners nebst Familienzubehör auf sich lud,
weil sie dem allgewaltigen Lenker der Prima widersprochen hat und
sogar im Übereifer an der Zweckmäßigkeit des griechischen Unter-
richtes zu zweifeln wagte. „Ich muß hinterher zugeben," fahren Sie
fort, „daß sie recht ungezogen gegen den alten Herrn war, aber ich
weiß nicht, wie es kam, alles an ihr gefiel mir. Vielleicht war es, weil
sie mich an meine verstorbene Schwester erinnerte, — Sie wissen,
Suse starb mitten im Staatsexamen. Die konnte auch so sein, scharf,
beinahe bärbeißig, und wenn sie in Eifer war, verletzend. Zum Über-
fluß hatte das junge Ding bei Gessners eine Narbe über dem linken
Auge, genau wie meine Schwester Suse." Da haben Sie ja eine Über-
tragung reinsten Wassers. Weil irgend jemand Ähnlichkeit mit Ihrer
Schwester hat, mögen Sie sie gern, obwohl Sie selbst fühlen, daß das
nicht mit rechten Dingen zugeht. Und was das Netteste an der Sadie
ist, Sie geben in dem Briefe, ohne es zu wissen, das Material, wie
die Übertragung zustande gekommen ist. Oder irre ich mich, stammt
der Topasring, von dessen Verlust und Wiederfinden Sie kurz vorher,
ganz gegen Ihre Briefgewohnheiten, ausführlich berichten, nicht von
Ihrer Schwester ? Sie sind einfach schon, ehe Sie das junge Mädchen
sahen, in Diren Gedanken mit Suse beschäftigt gewesen, die Über-
tragung war vorbereitet.
66
Und nun die Verdrängung: Nachdem Sie schriftlich festgelegt
haben, Ihre ungezogene junge Freundin habe über dem linken Auge
eine Narbe, „genau wie meine Schwester Suse", fahren Sie fort: „kh
weiß übrigens nicht, ob Suse die Narbe links oder rechts hatte." Ja,
warum wissen Sie das nicht, bei einem Menschen, der Ihnen so nahe
stand, den Sie 20 Jahre täglich gesehen haben und der diese Narbe
Ihnen verdankt ? Es ist doch dieselbe, die Sie ihr als Kind „aus Ver-
sehen" beigebracht haben, mit der Schere, beim Spielen? Nach meinem
Dafürhalten ist es wohl nicht nur ein Versehen gewesen, - Sie er-
innern sich, wir sprachen schon einmal darüber und Sie gaben zu,
daß eine Absicht darin gelegen habe; eine Tante hatte die schönen
Augen Suses gelobt und Ihre Augen neckend mit denen der Haus-
katze verglichen. Daß Sie nicht wissen, ob Suses Narbe rechts oder
links gesessen hat, ist die Wirkung der Verdrängung. Das Attentat
auf die schönen Augen der Schwester ist Ihnen unangenehm gewesen,
schon des mütterlichen Entsetzens und der Vorwürfe halber. Sie haben
die Erinnerung daran fortzuschaffen versudit, haben sie verdrängt und
das ist Ihnen nur teilweise gelungen; nur die Erinnerung, wo die
Narbe saß, haben Sie aus dem Bewußtsein vertrieben. Ich kann Ihnen
aber sagen, daß die Narbe wirklich links gesessen ist. Woher ich es
weiß? Weil Sie mir erzählt haben, daß Sie seit dem Tode Ihrer
Schwester genau wie diese an einem linksseitigen Kopfschmerz leiden,
der vom Auge ausgeht, und weil Ihr linkes Auge ab und zu ein
wenig — es steht Ihnen gut, aber es ist doch wahr — ein wenig vom
rechten Wege abweicht, gleichsam hilfesuchend nach außen schielt. Sie
haben seinerzeit — durch Erfindung des Wortes „Versehen" - aus
dem Unrecht Recht zu machen versucht, die Wunde in Ihrer Phantasie
von der bösen, unrechten, linken Seite nach der guten, rechten ver-
schoben. Aber das Es läßt sich nicht betrügen; zum Zeichen, daß Sie
Böses taten, schwächte es den einen Augenmuskelnerv, warnte Sie
damit, nicht wieder vom Rechten abzubiegen. Und als die Schwester
starb, erbten Sie zur Strafe deren linksseitigen Kopfschmerz, der Ihnen
6* 67
immer so fürchterlich war. Sie sind damals als Kind nicht bestraft
worden, vermutlich haben Sie aus Angst vor der Rute so gezittert,
daß die Mutter Mitleid bekam ; aber das Es will seine Strafe haben,
und wenn es um die Freude des Leidens gebradit wird, rächt es sich
irgendwann, oft sehr spät, aber es rächt sich, und manche rätselhafte
Erkrankung gibt ihr Geheimnis preis, wenn man das Es der Kindheit
nach versäumten Schlägen fragt.
Darf ich Ihnen gleich noch ein Beispiel der Verdrängung aus
Ihrem Brief geben? Es ist sehr külin, wenn Sie wollen, an den Haaren
herbeigezogen, aber ich halte es für richtig. Ich sprach in meinem
letzten Brief von drei Dingen : der Übertragung, der Verdrängung
und dem Symbol. In Ihrer Antwort erwähnen Sie Übertragung und
Verdrängung, aber das Symbol lassen Sie fort. Und dieses Symbol war
ein Ring. Aber siehe da, statt das Symbol im Brief zu nennen, ver-
lieren Sie es in Gestalt Ihres Topasringes. Ist das nicht komisch? Nach
meinen Beredmungen - und Ihre Antwort scheint mir das zu be-
stätigen - haben Sie meinen Brief mit dem Ringspielscherz am selben
Tag erhalten, wo Sie den Ring der Schwester verloren. Nun seien Sie
einmal gut und wahrhaftig 1 Sollte Schwester Suse - sie stand doch
im Alter Ihnen am nächsten und mir ist es beinahe sidier, daß Sie
beide gemeinsam die sexuellen Aufklärungen sich, erworben haben,
über deren Anfänge man nichts weiß oder nichts wissen will - sollte
Suse nicht mit dem Spiel am Ringe des Weibes, mit dem Erlernen
der Selbstbefriedigung etwas zu tun haben ? Ich komme darauf, weil
Sie auf meine Ausfülxrungen über die Onanie so kurz und streng
geantwortet haben. Ich glaube, Sie sind vor lauter Sdiuldbewußtsein
ungerecht gegen diese harmlose Freude der Mensdicn. Aber bedenken
Sie doch, daß die Natur dem Kinde Geschwister und Gespielen gibt,
damit es von ihnen die Sexualität lernt.
Darf ich wieder auf jenes merkwürdige menschliche Erlebnis zu-
rückgreifen, bei dem ich neulich abgebrochen habe, auf die Ent-
bindung? Es ist mir aufgefallen, daß Sie meine Behauptung, der
68
Schmerz erhöhe die Wollust, ohne Erwiderung hingenommen haben
Idi erinnere midi eines lebhaften Streites mit Ihnen über die Lust
des Menschen am Wehtun und Wehleiden. Es war in der Leipziger
Straße in Berlin ; ein Drosdikenpferd war gestürzt und die Menschen-
masse hatte sich gestaut, Männer, Weiber, Kinder, gut gekleidete Leute
und solche im Arbeiterkittel ; sie alle verfolgten mit mehr oder minder
lauter Genugtuung die vergeblichen Anstrengungen des Tieres, sich
aufzurichten. Sic haben midi damals gefühlsroh geheißen, weil ich
solche Unfälle wünschenswert nannte und sogar so weit ging, das
Interesse der Damen an Sdiwurgerichtsverhandlungen gegen Mörder an
Bergwerksunglücken, Titanicunfällen erklärlich und natürlich zu finden.
Wir können, wenn es Ihnen recht ist, den Streit wieder auf-
nehmen ; vielleicht kommen wir diesmal zu einer Entscheidung.
Die beiden wichtigen Ereignisse des weiblidien Lebens, und weiter-
genommen des Lebens jedes Menschen, da ohne diese Ereignisse
niemand existieren würde, sind mit Schmerzen verbunden, der erste
Geschlechtsakt und die Entbindung. Die Übereinstimmung darin ist
so auffallend, daß ich mir nicht anders zu raten weiß, als einen Sinn
darin zu suchen. Über die Wollust der Geburtswehen läßt sich ja auf
Grund des Geschreis streiten, aber über den Lustcharakter der Braut-
nacht besteht kein Zwiespalt der Meinungen. Das ist's, wovon die
jungen Mädchen wachend und schlafend träumen, was der Knabe
und Mann sich in tausend Bildern vorstellt. Es gibt Mädchen, die
angeblich Angst vor dem Schmerz haben ; forsdien Sie nach, Sie
werden andere Gründe für diese Angst finden, Gründe der Gewissens-
not, die sich aus verdrängten Onaniekoraplexen und tief verborge-
nen Kindheitsvorstellungen vom Kampf der Eltern, Gewalttat des
Vaters und blutenden Wunden der Mutter zusammensetzen. Es gibt
Frauen, die nur mit Schaudern an die erste Nacht mit dem Manne
zurückdenken : fragen Sie nach, Sie werden auf die Enttäuschung
stoßen, darauf, daß alles hinter den Erwartungen, die man gehegt
hatte, zurückblicb, und in dunklerer Tiefe werden Sie wieder das
69
mütterliche Verbot der Geschlechtslust und die Angst vor der Ver-
wundung durdi den Mann finden. Es hat Zeiten gegeben, und zwar
Zeiten höchster Kultur, wie bei den Griechen, in denen der Mann
scheu der Entjungferung seines Weibes auswich und sie durch Sklaven
ausführen ließ, aber all das berührt den - alle Tiefen des Menschen
aufreizenden - Wunsch nach dem ersten Liebesakt nicht. Verschaffen
Sie dem ängstlichen Mädchen einen klugen Geliebten, der ihr das
Schuldgefühl wegspielt und sie in Ekstase zu bringen versteht, sie
wird den Schmerz jauchzend genießen, geben Sie der enttäuschten
Frau einen Spielgefährten, der, trotz des schon zerrissenen Hymens,
die Phantasie des Weibes so zu erregen weiß, daß sie den ersten
Akt noch einmal zu erleben glaubt, ihre Scheide wird sich verengen,
sie wird mit Wonne den Schmerz erleben, um den sie einmal be-
trogen wurde, ja sie wird selbst die Blutung hervorbringen, um sich
zu täuschen. Die Liebe ist eine seltsame Kunst, die nur zum Teil er-
lernt werden kann, und wenn irgend etwas, so wird sie vom Es re-
giert. Schauen Sie in die heimlichen Vorgänge der Ehe hinein, Sie
werden erstaunt sein, wie oft selbst lang verheiratete Menschen plötz-
lich eines Tages, ohne zu wissen woher es kommt, die Brautnacht
noch einmal erleben, nicht nur phantastisch, sondern mit allen Freuden
und Schrecken. Und auch der Mann, der nur mit Schaudern daran
denkt, den Geliebten Schmerz zuzufügen, wird es mit Freuden tun,
wenn die rechte Gefährtin ihn zu locken versteht.
Mit andern Worten, der Schmerz gehört zu diesem höchsten
Augenblick der Lust. Und alles, ausnahmslos alles, was gegen diesen
Satz zu sprechen scheint, ist begründet in der Angst, dem Schuld-
bewußtsein des Menschen, die in den Tiefen seines Wesens ruhen;
und je größer sie sind, um so gewaltsamer bricht es im Moment der
Erfüllung aller Wünsche hervor, verkleidet als Angst vor Schmerz;
in Wahrheit ist es Angst vor längst verdienter Strafe.
Es ist also nicht wahr, daß der Schmerz ein Hindernis der Lust
ist ; es ist aber wahr, daß er eine Bedingung der Lust ist Es ist also
70
i
.'
nicht wahr, daß der Wunsch, Schmerz zuzufügen, unnatürlich, pervers
ist. Es ist nicht wahr, was Sie über Sadismus und Masochismus ge-
lesen und gelernt haben. Diese beiden, Jedem Menschen ohne Aus-
nahme eingepflanzten, unentbehrlichen menschlichen Neigungen, die zu
seinem Wesen gehören, wie Haut und Haare, als Perversionen zu
brandmarken, ist die kolossale Dummheit eines Gelehrten gewesen.
Daß sie nachgeschwatzt wird, ist verständlich. Jahrtausende lang wurde
der Mensdi zur Heuchelei erzogen; sie ist ihm zweite Natur gewor-
den. Sadist ist jeder Mensch, Masochist ist jeder Mensch ; ein jeder
muß von Natur aus wünschen, Schmerz zuzufügen und Schmerz zu
erleiden: der Eros zwingt ihn dazu.
Denn das ist das Zweite : es ist nicht wahr, daß der eine Mensdi
Schmerzen geben, der andere empfangen will, daß der eine Sadist ist,
der andere Masochist. Jeder Mensch ist beides. Wollen Sie den Be-
weis dafür haben?
Es ist sehr leicht, von der Rohheit des Mannes zu sprechen und
von der Zartheit des Weibes und alle alten Schachteln männlichen
und weiblichen Geschlechts und alle Muckerseelen tun es unter dem
Beifall der Gleichgesinnten, zu denen wir uns, in tausend Stunden
der Heuchelei, alle rechnen müssen. Aber bringen Sie irgend ein
weibliches Wesen in mänadische Raserei, — nein, das ist gar nicht
nötig, würde sich auch, so sagt man, für Sie als Frau nicht schicken -
nein, geben Sie ihr nur die Freiheit, den Mut, sich gehen zu lassen,
wirklich und wahrhaftig zu lieben, ihre Seele nackt zu zeigen, und sie
wird beißen und kratzen wie ein Tier, sie wird weh tun und Wonne
dabei empfinden.
Besinnen Sie sich noch, wie Ihr Kind aussah, als es geboren war ?
verschwollen, zerquetscht, ein mißhandeltes Würmchen? Haben Sie
sich je gesagt: das tat ich? O nein, alle Mütter und die, die es
werden wollen, begnügen sich damit, mit den eigenen Schmerzen zu
prahlen; daß sie aber ein welirloses, armselig zartes Geschöpf mit
dem Kopf vornweg durch einen engen Gang hindurch quetschen,
71
■
stundenlang es hindurdipressen, als ob es nidit die Spur einer Empfin-
dung hätte, das kommt den Müttern nidit in den Sinn. Ja, sie haben
die Stirn, zu sagen, das Kind empfindet den Schmerz nicht. Aber
wenn der Vater oder sonst jemand das Neugeborene unsanft anfaßt,
schreien sie : „Du tust dem Kinde -weh", „der ungeschickte Peter",
und wenn es ohne Atem zur Welt kommt, klopft die Hebamme es
hinten drauf, bis es zum Beweis, daß es Schmerz empfindet, schreit.
Es ist nicht wahr, daß das Weib zart empfindet, die Rohheit ver-
aditet und haßt. Das tut sie nur, wenn andere roh sind. Die eigene
Rohheit nennt sie heilige Mutterliebe. Oder glauben Sie, daß irgend
ein Caligula oder irgend ein sonstiger Sadist so leidit und harmlos
diese ausgesuchte Folter, jemanden mit dem Sdiädel durch ein enges
Loch zu quetsdien, sich ausdenken würde? Ich habe einmal ein Kind
gesehen, das seinen Kopf durch ein Gitter gesteckt hatte und nun
weder vor noch zurüde konnte. Ich vergesse sein Schreien nicht.
Die Grausamkeit, der Sadismus, wenn Sie es so nennen wollen,
liegt den Trauen durchaus nicht fern; man braudit nicht Raben-
mutter zu sein, um die eigenen Kinder zu quälen. Es ist noch gar
nidit so lange her, daß Sie mir von Ihrer Freundin erzählten, mit
weldiem Vergnügen sie sich an dem erstaunt beleidigten Gesicht ihres
Kindes weidete, wenn sie ihm plötzlich die Brustwarze aus dem
saugenden Mündchen nahm. Ein Spiel, gewiß, leicht verständlidi und
von uns allen in dieser oder jener Form des Neckens kleiner Kinder
geübt. Aber es ist ein Spielen mit der Qual, und — ja ich muß Ihnen
erst sagen, was es bedeutet, obwohl Sie es sich selbst zusammen-
reimen müßten, wenn Sie sich der Symbole erinnerten. Die Mutter
ist während des Säugens der gebende Mann, das Kind das empfan-
gende Weib, oder um es deudicher auszudrücken: der saugende
Mund ist der weibliche Geschlechtsteil, der die Brustwarze als männ-
liches Glied in sich aufnimmt. Es besteht eine symbolische Verwandt-
schaft, eine sehr enge Verwandtschaft zwischen Saugakt und Begat-
tung, eine Symbolik, die im Dienst und zur Verstärkung der Bande
72
5*
zwischen Mutter und Kind gebraucht wird. Das Spiel Ihrer Freundin
ist - ich nehme an, ihr unbewußt - erotisch betont.
Und wie das Weib, dessen Feld angeblich das Leiden ist, ebenso
lüstern Schmerzen bereitet, so sucht der gewalttätige Mann den
Schmerz auf. Die Lust des Mannes ist die Mühe, die Qual der Auf-
gabe, die Lockung der Gefahr, der Kampf, und wenn Sie wollen, der
Krieg. Der Krieg im Sinne des Heraklit, der Krieg mit Menschen,
Dingen, Gedanken, und der Gegner, der ihn am schwersten leiden
läßt, die Aufgabe, die ihn fast erdrückt, die liebt er. Vor allem liebt
er das Weib, das ihm tausend Wunden sdilägt. Wundern Sie sich
doch nicht über den Mann, der einer herzlosen Kokette nachläuft,
wundern Sie sich über den, der es nidit tut. Und wo Sie einen Mann
heiß lieben sehen, ziehen Sie ruhig den Schluß, daß seine Geliebte
von Herzen grausam ist, im Tiefsten grausam, von jener Art grau-
sam, die gütig ersdieint und spielend verwundet.
Das alles klingt Ihnen paradox, scheint Ihnen echter Trollen-
scherz. Aber es sind Ihnen, während Sie nach der Widerlegung su-
chen, schon tausend Dinge eingefallen, die bestätigen, was ich sage.
Der Mensch wird empfangen im Schmerz - denn die wahre Emp-
fängnis ist die der ersten Nadit - und er wird geboren im Schmerz.
Und noch eins : er wird empfangen und geboren im Blut. Soll das
denn keinen Sinn haben?
Überlegen Sie es sich, Sic sind klug genug dazu. Vor allem ge-
wöhnen Sie sich an den Gedanken, daß der neugeborene Mensch
empfindet, ja daß er vermutlich tiefer empfindet, als der Erwadisene.
Und wenn Sie das erfaßt haben, betrachten Sie nochmals, was bei
der Geburt vor sidi geht. Wie sagt man doch : das Kind erblickt das
Lidit der Welt; und dieses Lidit liebt der Mensch; sucht es und
schafft es sich selbst im Dunkel der Nacht. Aus engem Gefängnis
kommt er hinaus in die Freiheit, und die Freiheit liebt der Mensch
über alles. Zum ersten Male atmet er, kostet er den Genuß, die Luft
des Lebens in sich zu ziehen ; sein ganzes Leben lang ist freies Atmen
»
73
für ihn das Schönste. Angst, Angst des Erstickens leidet er während
der Geburt, und Angst bleibt ;ihm all seine Lebtage als Begleiterin
jeder höchsten Freude, jeder, die sein Herz klopfen läßt. Schmerzen
empfindet er in dem Drängen nach Freiheit ; Schmerzen gibt er der
Mutter mit seinem dicken Schädel, und beides sucht er in ewig neuer
Wiederholung. Und das erste, was seine Sinne trifft, ist der Gerudi
des Blutes, vermischt mit den seltsam aufregenden Dünsten des
Frauenschoßes. Sie sind ja gelehrt, Sie wissen ja, daß in der Nase
ein Punkt ist, der in nahem Verhältnis zur Geschleditszone steht. Der
Säugling hat diesen Punkt so gut wie der ausgewachsene Mensch, und
Sie glauben nicht, wie weise die Natur das Geruchsvermögen des
Kindes ausnützt. Das Blut aber, das der Mensch vergießt, wenn er
geboren wird, dessen Wesen er mit dem ersten Atemzuge einatmet,
so daß es ihm unvergeßlich wird, ist das Blut der Mutter. Sollte er
diese Mutter nicht lieben? Sollte er nicht auch noch in anderem
Sinne, als man gewöhnlich nennt, ihr blutsverwandt sein ? Und tief
im Verborgenen lauert hinter dem allem noch etwas, was dieses Kind
mit götterstarken Händen an die Mutter bindet, die Schuld und der
Tod. Denn wer Blut vergießt, des Blut soll wieder vergossen werden.
Ach, liebe Freundin, die menschliche Sprache und das menschliche
Denken sind ein schwaches Werkzeug, wenn sie Kunde vom Unbe-
wußten geben sollen. Aber nachdenklich wird man bei den Worten :
Mutter und Kind. Die Mutter ist die Wiege und das Grab, gibt Le-
ben zum Sterben.
Und wenn ich nicht gewaltsam schließe, werde ich den Brief
nie beenden.
PATRIK TROLL.
8.
LIEBE FREUNDIN, ICH HABE NICHT DARAN GEZWEIFELT,
daß Sie mir in vielem Recht geben würden, ja, ich bin so kühn, an-
zunehmen, daß Sie mir nach und nach, wenn nicht in allen Einzel-
heiten, doch in den Hauptsachen beistimmen werden. Vorläufig
74
spotten Sie ja noch, sind der Meinung, drei Viertel meiner Behaup-
tungen entspringe meinem Widerspruchsgeist und von dem Rest sei
mindestens die Hälfte darauf beredinet, meine sadistische Seele zu
retten. „Um Ihnen Glauben zu schenken," schreiben Sie, „müßte man
die Überzeugung aufgeben, daß es unnatürliche Laster gibt, und daß,
was wir Perversionen zu nennen gewöhnt sind, Selbstbefriedigung,
Homosexualität, Sadismus, Sodomie und wie diese Dinge alle heißen
mögen, selbstverständliche Neigungen des Menschen, Allgemeingut
unsrer Seele sind."
Haben wir uns nicht schon einmal über das Wort „unnatürlich"
unterhalten? Für mich ist es der Ausdruck menschlichen Größen-
wahns, der sich selber als Herrn der Natur empfinden möchte. Man
teilt die Welt in zwei Teile ; was dem Menschen jeweilig paßt, ist
ihm natürlich, was ihm zuwider ist, nennt er unnatürlich. Haben Sie
schon einmal irgend etwas gesehen, was außerhalb der Natur liegt?
Denn das bedeutet doch das Wort unnatürlich. Ich und die Natur,
so denkt der Mensch, und es wird ihm bei dieser angemaßten Gott-
ähnlichkeit nicht einmal bange. Nein, hebe Spötterin, was ist, ist na-
türlich, wenn es Ihnen auch noch so regelwidrig vorkommt, noch so
sehr gegen die Naturgesetze verstößt. Diese Naturgesetze sind
Schöpfungen des Menschen, das sollte man nicht vergessen, und wenn
etwas nicht damit übereinstimmt, so ist das der Beweis, daß das
Naturgesetz falsch ist. Streichen Sie die Bezeichnung unnatürlich aus
Ihren Sprachgewohnheiten; Sie werden dann eine Dummheit weniger
sagen.
Und nun die Perversionen. Ein von mir hochverehrter Forscher
hat nachgewiesen, daß das Kind alle nur denkbaren perversen Nei-
gungen hat ; er sagt, das Kind ist multipel pervers. Gehen Sie einen
Schritt weiter und sagen Sie, jeder Mensch ist multipel pervers, jeder
Mensch hat jede perverse Neigung in sidi, so haben Sie meine An-
sicht. Aber dann ist es unnötig und unpraktisch, den Ausdruck per-
vers Weiter zu gebrauchen, weil dadurch der Eindruck geweckt wird,
75
i
als ob diese, jedem Menschen eigentümlichen, unveräußerlichen und
lebenslänglichen Neigungen etwas Ausnahmsweises, Sonderbares, Auf-
fallendes wären. Wenn Sie durchaus schimpfen wollen, brauchen Sie
doch das Wort Laster oder Schweinerei oder was Ihnen sonst zur
Verfügung steht Netter wäre es schon, Sie strebten dem Satz nach :
Nichts Menschliches sei uns fremd, ein Ideal, das wir freilich nie er-
reichen, das aber berechtigt ist und dem unsereiner als Arzt mit Haut
und Haaren sich verpfliditet fühlt. Wir werden noch öfter über diese
Neigungen, die Sie pervers nennen und die ich bei jedem Menschen
voraussetze, sprechen müssen, auch über die Gründe, warum der
Mensch in diesen Dingen so gegen sidi selbst lügt.
Einen schönen Triumph haben Sie mir gegönnt, auf den ich stolz
bin. Neulich haben Sie midi noch ruchlos gesdiolten, weil ich vom
Haß der Mutter gegen ihr Kind gesprochen habe, und heute erzählen
Sie mir - man merkt Ihnen Genugtuung dabei an - von der jungen
Frau Dahlmann, die bittere Tränen vergießt, weil schon das erste
Unwohlsein nach der Hochzeitsreise ausbleibt. Wie ansdiaulich Sie
beschreiben können ! Idi sah förmlich die verbissene Wut, mit der die
kleine Weltdame ihr Korsett anlegt und aus allen Kräften zuschnürt
um das junge Leben zu ersticken. Es ist ja auch traurig, wenn man
sich die ganze Brautzeit hindurch auf den Moment gefreut hat, wo
man als Gattin des Vorsitzenden an dem Arm dieses Eintagskönigs
in den Ballsaal eintritt, mit der Aussicht, am nädisten Tage vom
Kopf bis zu Füßen als die reizende Frau Dahlmann beschrieben zu wer-
den, es ist traurig, daß einem ein Tröpfchen Samen alles zerstört,
einen zur unförmigen Masse verwandelt.
Finden Sie es schlimm, daß die menschliche Eitelkeit und Ver-
gnügungssucht so groß sind? Daß ein kleiner Mordversuch eines
Tanzvergnügens halber in Szene gesetzt wird? Denken Sie sich diese
beiden mächtigen Hebel der Kultur weg, was würde aus Ihnen wer-
den? In kurzer Zeit wären Sie verlaust und verwanzt, bald würden
Sie das Fleisch mit den Fingern und Zähnen zerreißen und die Rü-
76
I
•
ben, die Sie aus der Erde zerren, roh verschlingen, Ihre Hände wür-
den Sie nicht mehr waschen und als Taschentuch Finger oder Zunge
gebraudien. Glauben Sie mir, meine Ansicht, daß auf dem Hang zur
Selbstbefriedigung - denn in deren Dienst stehen Schönheitssinn und
Reinlichkeit — die Welt ruht, ist nicht so dumm, wie Sie annehmen.
Mir ist die Abneigung der Mutter gegen ihr Kind sehr begreif-
lich. Daß es für die Frau heutzutage nidit angenehm ist, ein Kind zu
erwarten, habe ich neulidi wieder erlebt. Ich war in der Stadt und
etwa zwanzig Schritte vor mir ging eine hochschwangere Frau des
Mittelstandes; zwei Schulmädchen, 12— 13 jährig mochten sie sein, be-
gegneten ihr, musterten sie scharf, und kaum waren sie an ihr vor-
über, so sagte die eine höhere Tochter zur anderen, und kidierte das
diarak eristisdie alberne Backfischladien : „Hast du gesehen ? Den
dicken Bauch ? Die kriegt ein Kind." Und die andere erwiderte : „ Adi
laß doch die Schweinereien, ich mag nichts davon wissen." Die Frau
mußte die Worte gehört haben, sie drehte sich um, als ob sie etwas
sagen wollte, ging dann aber stumm weiter. Wenige Minuten später
- die Straße war einsam - kam ein Holzfuhrwerk angefahren. Der
Fuhrknecht grinste das Weibchen an und rief ihr zu : „Sie laufen
wohl Parade, um zu zeigen, daß der Mann noch bei Ihnen liegt." Es
wird den Frauen nicht leicht gemacht, das ist sicher. Der Ruhm großer
Fruchtbarkeit, der früher der kinderreidien Frau die Mühen zu
tragen half, gilt nichts mein*. Im Gegenteil, das Mädchen wächst in
der Angst vor dem Kinde auf. Recht betraditet, besteht die Erziehung
unsrer Töchter darin, daß wir sie vor zwei Dingen zu hüten suchen,
vor der geschleditlichen Ansteckung und vor dem unehelichen Kinde,
und wir wissen zu diesem Zwecke nichts anderes zu tun, als ihnen
die Geschlechtsliebe an sich als Sünde darzustellen und die Entbin-
dung als große Gefahr. Es gibt Leute, die allen Ernstes die Todes-
aussichten der Geburt in Vergleich mit denen der Weltkriegsschladiten
setzen. Das ist eine der Wahnsinnsäußerungen unsrer, von Ge-
wissensangst schwer belasteten Zeit, die sich immer tiefer in die Schuld
77
der Heudielei verstrickt, der Heuchelei auf dem lebenschaffenden Ge-
biet, und deshalb immer rascher zugrunde geht.
Der Wunsch des Mädchens nach dem Kinde entsteht in einer
Heftigkeit, die nur wenige wahrnehmen, schon zu einer Zeit, wo es
zwischen ehelich und unehelich noch nicht unterscheidet, und die ver-
steckten halben Andeutungen der Erwachsenen, die sich gegen das
uneheliche Kind richten, werden auf das Kind überhaupt bezogen,
vielleicht nicht von dem Verstände, aber sicher von dem, was unter-
halb des Verstandes liegt. Aber das sind ja Dinge, denen sich abhelfen
ließe, denen tatsächlich dieses und jenes Volk, diese und jene Zeit,
abzuhelfen sucht. Jedoch im Wesen" des Weibes, des Menschen liegen
Gründe zum Kinderhaß, die unabänderlich sind. Zunächst raubt das
Kind dem Weibe einen Teil der Schönheit, nicht nur während der
Schwangerschaft ; es bleibt auch nachher vieles zerstört, was nie wieder
gutzumachen ist. Eine Narbe im Gesicht kann die Schönheit der Züge
noch mehr hervorheben, und ich könnte mir denken, daß Ihre Schwester
Ihnen im tiefsten Grunde für die interessante Wunde am Auge dank-
bar gewesen ist. Aber hängende Brüste und ein welker Leib gelten
als häßlich und eine Kultur muß auf den Kinderreichtum gerichtet
sein, um sie zu schätzen.
Das Kind bringt Mühe, Sorge, Arbeit, vor allem verlangt es Ver-
zicht auf tausend Dinge, die lebenswert sind. Ich weiß, daß die Freuden
der Mutterschaft alle diese Leiden aufwiegen können, aber es ist doch
eben das Gegengewicht da, und wenn man sich solche Verhältnisse
vorstellen will, so darf man nicht an die Wage denken, bei der die
schwere Schale tief unten ruht, während die andere regungslos schwebt;
es ist vielmehr ein ständiges Abwägen, bei dem die wägende Hand
des täglichen Lebens eine Balleinladung, eine Reise nach Rom, einen
interessanten Freund mit plumper Gewalt in die Schale wirft, so daß
sie zeitweise niedersinkt. Es ist ein andauerndes Schwanken, ein
immer neu wiederholtes Verzichten, das seine Wunden und Schmerzen
bringt.
78
Immerhin ist es möglich, sich auf diesen Verzicht, diese Mühen
und Sorgen vorzubereiten, sich dagegen zu wappnen. Es gibt aber
Regungen, die die Mütter nicht klar kennen, die sie fühlen, aber nicht
laut werden lassen, deren giftige Widerhaken sie, um nur nichts von
dem Adel der Mütterlichkeit einzubüßen, tiefer und tiefer in sich hinein-
drücken.
Ich habe Sie einmal zu einer Entbindung mitgenommen. Besinnen
Sie sich nodi darauf? Geburtshelfer sein ist nicht mein Geschäft, aber
es war eine besondere Sache mit jener Frau, weshalb sie gerade von
mir entbunden sein wollte. Ich habe Ihnen damals nichts weiter darüber
erzählt, aber jetzt will ich es nachholen. Jene Frau wurde von mir
während der ganzen Schwangersdiaft behandelt; erst hatte sie Er-
brechen, dann kamen Schwindelanfälle» Blutungen, Schmerzen, dicke
Beine und was es sonst noch für Überraschungen während solcher Zeit
gibt. Das, worauf es mir im Augenblicke ankommt, war ihre entsetz-
liche Angst, daß sie ein Kind mit einem verkrüppelten Fuß bekommen
und selbst sterben werde. Sie wissen, das Kind kam ganz gesund zur
Welt, die Frau lebt auch noch ; aber noch lange blieb bei ihr die Idee,
dem Kinde müsse irgend was an den Beinen zustoßen. Sie berief
sich dabei, anscheinend mit Redit, auf die Tatsache, daß ihr ältestes
Kind einige Wochen nach der Geburt auf rätselhafte Weise eine Eite-
rung des Schleimbeutels am linken Kniegelenk bekommen hatte, die
recht unangenehm verlief, operiert werden mußte und eine tiefe, den
Gebrauch des Kniegelenks ein wenig hindernde Narbe zurückließ. Ich
muß Ihrem Gutdünken die Entscheidung überlassen, ob schon die Eite-
rung mit dem zusammenhing, was ich nun zu berichten habe; ich
meinerseits glaube es, wenn ich auch nicht angeben kann, auf welche
Weise die Mutter - unbewußt selbstverständlich - die Erkrankung
herbeigeführt hat. - Die Frau, von der ich erzähle, war das erste von
fünf Kindern. Mit den beiden ältesten vertrug sie sich gut, gegen das
vierte, dessen Beaufsichtigung ihr bei den kärglichen Lebensverhältnissen
der Eltern zeitweise übertragen wurde, hatte sie von vornherein eine
79
starke Abneigung, die stets die gleidie geblieben ist und auch jetzt
noch besteht. Als das fünfte Kind unterwegs war, änderte sich der
Charakter des Mädchens, sie schloß sich mehr an den Vater an, wurde
widerspenstig gegen die Mutter, quälte die jüngste Schwester, kurz,
wurde ein rechter Tunichtgut. Als ihr eines Tages befohlen wurde,
auf die Kleinste aufzupassen, geriet sie in Wut, heulte und stampfte
mit den Füßen, und als sie von der Mutter bestraft und zum Gehorsam
gezwungen wurde, hat sie sich zur Wiege gesetzt, die Kufen mit dem
Fuße wild geschaukelt, so daß das Kind anfing zu schreien und dazu
vor sidi hin gesagt : Verfluchte alte Hexe, verfludite alte Hexe. Eine
Stunde darauf hat die Mutter sich plötzlich zu Bett gelegt und sie zur
Hebamme gesdiickt. Dabei hat sie gesehen, daß die Mutter stark
blutete. Das Kind ist in derselben Nacht noch geboren worden, aber
die Mutter hat viele Monate im Bett hegen müssen und ist nie wieder
recht frisch geworden. In dem Mädchen aber wurde damals der Gedanke
wach und lebt noch jetzt in ihr, sie habe durdi ihren Fluch die Er-
krankung der Mutter herbeigeführt, sei schuld daran. Nun, das ist ein
Erlebnis, wie es häufig vorkommt, wichtig genug für die Beurteilung
der Schicksale, Charakterbildung, Krankheitsdisposition und Todesangst
dessen, dem es just zustößt, aber an sich reicht es nicht aus, um die
Angst vor einer Beinverkrüppelung des erwarteten Kindes zu erklären.
Das Stampfen mit den Füßen, das bösartige Treten der Wiege mit
der halbbewußten Absicht, die kleine Schwester herausfallen zu lassen,
gibt zwar Beziehungen ; sie sind aber allein nicht kräftig genug. Es ist
von einer andern Seite eine Verstärkung des Schuldkontos hinzu-
gekommen. In dem Dorf, in dem meine Wöchnerin aufwuchs, lebte
ein Idiot mit verkrüppelten Beinen, der, sobald die Sonne erschien,
vor dem Häuschen der Eltern in einen Stuhl gesetzt wurde und trotz
seines Alters von 18 Jahren wie ein dreijähriges Kind mit Steinen
und Klötzchen spielte. Seine Krücken hatte er neben sich, konnte sie
aber ohne Hilfe nicht gebrauchen und sdiien sie nur da zu haben, um
den Dorfkindern, die ihn weidlich neckten, damit zu drohen, wobei
80
*r* !
er gleichzeitig wilde, unverständliche Laute ausstieß. Die kleine Frieda,
- das ist der Name der Frau, deren Entbindung Sie mitgemacht
haben - die sonst das Muster eines artigen Kindes war, beteiligte
sich während ihrer bösen Zeit ein paarmal an den Hänseleien der
andern, bis eines Tages die Mutter dahinter kam, ihr eine große
Strafpredigt hielt und ihr sagte : der liebe Gott sieht alles und er
wird dich strafen, so daß du auch einmal solch ein verkrüppeltes Kind
bekommst. Wenige Tage darauf traten die Ereignisse ein, von denen
ich berichtete.
Jetzt liegt der Zusammenhang ziemlich klar zu Tage. In die Grund-
stimmung des Verdrusses über die Schwangerschaft der Mutter fallen
zwei böse Erlebnisse hinein, die Drohung mit der Strafe Gottes für
das Verspotten des Unglücks und die Erkrankung der Mutter, die als
Folge des Ausrufs : verfluchte alte Hexe aufgefaßt wird. Beides sind
für den Gläubigen - und Frieda ist streng katholisch erzogen worden
- schwere Sünden. Sie werden in die Tiefe der Seele zurückgedrängt
und erscheinen in der Form der Angst wieder, als die eigene Schwanger-
schaft eine äußerliche Verknüpfung an die Kindheitserlebnisse gibt.
Beiden Ereignissen gemeinsam ist, daß die Füße eine Rolle dabei
spielen, und dieses Ncbenumstandes bemäditigt sich, wie so oft, das
Schuldbewußtsein und schiebt ihn als Angst vor der Mißgeburt in den
Vordergrund, während die gleichzeitige Todesangst tiefer in der Ver-
drängung bleibt und scheinbar eher verschwindet ; nur scheinbar, denn
einige Jahre darauf ist sie in seltsam interessanter Form als Krebs-
angst von neuem, wiederum an die Verfludiung der Mutter anknüpfend
aufgetreten. Aber das gehört nicht hieher.
Ich muß, um Ihnen verstäncllidi zu machen, warum idi diese Ge-
schichte gerade jetzt erzähle, wo es sidi um den Haß der Mütter gegen
ein Kind handelt, auf etwas hinweisen, was ich erwähnt habe, aber
was vermudich Ihrer Aufmerksamkeit entgangen ist. Frieda hat sidi
während der Schwangerschaft nicht nur von der Mutter abgewendet,
sondern sich so auffallend an den Vater angesdilossen, daß sie es
6 Groddeck, Das Buch vom Es 81
selbst noch nach vielen Jahren hervorhebt. Das ist der Ödipuskomplex,
von dem Sie wohl sdion gehört haben. Sicherheitshalber ist es aber
wohl besser, ihn mit zwei Worten festzulegen. Man versteht darunter
die Leidenschaft des Kindes zu dem gegengeschlechdichen Elternteil,
des Sohnes zur Mutter, der Tochter zum Vater, vereint mit dem
Todeswunsch gegen den gleichgeschlechtlichen Elternteil, gegen den
Vater vom Sohne aus, gegen die Mutter von der Tochter aus. Mit
diesem Ödipuskomplex, der zu den unvermeidlichen Eigentümlichkeiten
des Menschenlebens gehört, werden wir uns noch beschäftigen müssen.
Hier kommt es nur auf die Tatsache an, daß Mutter und Tochter
stets und ohne Ausnahme Nebenbuhlerinnen sind und infolgedessen
auch den gegenseitigen Haß der Nebenbuhlerinnen haben. Der Aus-
druck : verfluchte alte Hexe, hat noch eine viel tiefere Begründung
als bloß Familienzuwachs. Die Hexe verhext den Geliebten, so ist es
im Märchen und ist es im Unbewußten des Mädchens. Der Begriff der
Hexe ist aus dem Ödipuskomplexe abgeleitet, die Hexe ist die Mutter,
die den Vater durch Zauberkünste an sich fesselt, obwohl er eigentlich
der Tochter gehört. Mit andern Worten: Mutter und Hexe sind für
das Es der märchendiditenden Menschheitsseele dasselbe.
Sie sehen, da kommt ein Stück Haß des Kindes gegen die Mutter
zum Vorschein, das erstaunlich ist, das nur einigermaßen sein Gegen-
gewicht in dem Glauben an die jungen schönen Hexen findet, die
rothaarigen gottlosen Dinger, der aus dem Haß der alternden Mutter
gegen die feurig leidenschaftliche, frisch menstruierte, das heißt rot-
haarige Tochter entsteht. Dieser Haß muß wahrlich stark sein, da er
solche Früchte hervorbringt. In Friedas Fluch hat sich die Qual lang-
Jähriger Eifersucht verdichtet, er ist der Maßstab der einen Seite ihrer
Gefühlsregungen gegen die Mutter, der Gefühlsregungen, die zur Wut
gesteigert worden sind durch die Schwangerschaft. Denn um schwanger
zu sein, muß die Mutter Liebkosungen vom Vater empfangen haben,
die die Tochter für sich beansprucht. Sie hat das Kind zu Unrecht
sich erzaubert, die Tochter darum betrogen.
82
Begreifen Sie nun, warum idi Ihnen Friedas Geschichte erzählte?
Sie ist typisch. In jeder Tochter flammt wahrend der Sdiwangerschaft
der Mutter die Eifersucht auf; sie wird nicht immer laut, aber sie ist
da. Und ob sie sich äußert oder tief im Verborgenen bleibt, stets
wird sie durch die Gewalt des moralischen Gebotes : Du sollst Vater
und Mutter ehren, sonst mußt du sterben, niedergedrückt, verdrängt,
das eine Mal mehr, das andere Mal weniger, immer aber mit dem
gleichen Erfolg, daß das Sdiuldbewußtsein entsteht.
Wie aber steht es mit dem Schuldbewußtsein ? Das verlangt Strafe
und zwar die Strafe in derselben Form, die die Schuld hat. Frieda
hat den Krüppel verspottet, also wird sie einen Krüppel zur Welt
bringen. Sie hat ihre Mutter verflucht und beschimpft, das eigene
Kind wird dasselbe mit ihr tun. Sie hat ihre Mutter gehaßt, das Kind,
das sie jetzt im Schöße trägt, wird es vergelten. Sie hat der Mutter
die Liebe des Vaters rauben wollen, dasselbe Los wird ihr das kom-
mende Kind bereiten. Auge um Auge, Zahn um Zahn.
Finden Sie es nicht verständlich, daß diese Frieda, die ilir Leben
und ihr Glück vom Kinde bedroht fühlt, dieses Kind nicht immer
liebt, daß, wenn die in der Tiefe von Kindheit her lagernden Gifte
durch die Tagesereignisse aufgerührt werden, sie das Kind haßt, die
junge Hexe, die schönere, aufblühende, der die Zukunft gehört?
Das Schuldbewußtsein, das jede Tochter der Mutter gegenüber
hat, zwingt ihr von vornherein die Fälligkeit zum Haß gegen das
eigene Kind auf; das ist so.
Vermutlich glauben Sie wieder, daß ich übertreibe, daß ich aus
einem einzelnen Fall allgemeine Schlußfolgerungen ziehe, wie es so
meine Art ist. Ach nein, liebe Freundin, diesmal ist es nicht über-
trieben. Den tiefsten Grund des Schuldbewußtseins, das unfehlbar
Angst und Abneigung erzwingen muß, habe ich noch nicht genannt,
aber neulich habe ich ihn erwähnt. Der liegt darin, daß das Kind bei
der Geburt, dadurdi, daß es geboren wird, der Mutter Blut vergießt.
Und wer Blut vergießt, des Blut soll wieder vergossen werden. Die
6 * 83
Frau, die guter Hoffnung ist, kann nicht anders, als das Kind im
Leibe fürditen, denn es ist der Radier. Und niemand ist gut genug,
den Radier immer zu lieben.
Idi habe dieses lange Schreiben unternommen, weil ich Ihnen gern
einen Begriff von der Verwicklung aller Beziehungen zwischen Mutter
und Kind geben wollte. Hoffendich haben Sie es nicht verstanden ;
sonst muß ich fürditen, daß ich Ihnen die dunkelsten Ecken nicht
gewiesen habe. Nach und nach werden wir uns aber wohl verständigen,
entweder darin, daß Sic alles abweisen; nun, dann haben wir
wenigstens eine Zeitlang korrespondiert, oder darin, daß Sie gleich
mir allen menschlichen Verhältnissen gegenüber vorsichtig werden,
duldsam und voll der Überzeugung, daß jedes Ding seine zwei
Seiten hat.
Darf idi noch mit zwei Worten auf Friedas Erlebnisse zurück-
kommen? Ich sagte Ihnen, daß sie, wie alle kleinen Mädchen, das
Kind der Mutter für sich beanspruchte ; nicht nur dies eine Mal,
sondern das Kind vom eigenen Vater zu empfangen, ist ein Wunsch,
der auf rätselhafte Weise während des ganzen Lebens einer Frau im
Unbewußten mitgeht. Und an diesen Wunsch der Blutschande heftet
sich das Wort : Idiot. Sie werden keine Frau finden, die nicht irgend-
wann von der Idee befallen wird, ihr Kind wird idiotisch zur Welt
kommen oder es wird verblöden. Denn der Glaube, daß dem Verkehr
mit dem Vater ein mißratenes Kind entspringen müsse, sitzt tief im
Gehirn des modernen Menschen. Die Tatsache, daß jener Krüppel
idiotisch war, hat dahin gewirkt, daß die verdrängten Gefühle jener
Zeit auch noch durch die dumpf empfundenen Wünsche und Ängste
der Blutschande vergiftet wurden.
Es fehlt noch etwas um, das Bild vollständig zu überblicken. Idi
habe Ihnen früher von der Symbolik der Geschlechtsteile gesprochen.
Nun, das deutlichste Symbol des weiblichen Organs, das sich schon in
dem Wort Gebärmutter kundgibt, ist die Mutter. Für das symboli-
sierende Es - und ich sagte Ihnen, das Es kann nicht anders als
84
symbolisieren - ist der weibliche Geschlechtsteil die Gebärerin, die
Mutter. Wenn Frieda ihrer Mutter fludit, so verflucht sie auch das
Symbol, ihr Geschlechtsorgan, ihr eigenes gebärendes Wesen, ihr Frau-
und Muttersein.
Habe idi nicht recht gehabt, als idi sagte, über das Es läßt sich
nur stammeln ? Ich mußte es sagen, muß es wieder sagen, sonst halten
Sie mich am Ende doch noch für einen Narren. Aber wenn auch, Sie
werden sehen, daß wenigstens Methode in der Narrheit ist.
Herzlidist Ihr
PATRIK TROLL.
•
9.
SIE SIND UNGERECHT, LIEBE FREUNDIN, ICH KANN NICKIS
dafür, daß das Leben verwickelt ist. Wenn Sie alles glatt verstehen
wollen, so rate ich Ihnen nochmals, nehmen Sie Lehrbücher zur Hand.
Da finden Sie die Dinge sdiön geordnet und klar auseinandergesetzt.
Nebel und Dunkelheit gibt es da nidit, oder wenn es sie gibt, geht
das tugendhafte Lehrbuch mit der Bemerkung daran vorbei: dort ist
es dunkel.
Die Schulwissenschaft ist wie ein Tapisseriewarenladen. Da liegt
ein Knäuel neben dem andern, Zwirn, Seide, Wolle, Baumwolle, in
allen Farben, und jedes Knäuel ist sorgfältig aufgewickelt; wenn Sie
das Ende des Fadens fassen, können Sie ihn rasch und ohne Mühe
abwickeln. Aber idi besinne mich aus meiner Kindheit, was für eine
Geschichte es war, wenn wir der Mutter über ihre Näh- und Strick-
sachen gekommen waren und das Garn verwirrt hatten. Das war eine
Mühe, die versdilungenen und verknoteten, verfitzten Fäden wieder
auseinander zu klauben. Manchmal blieb als einzige Rettung die Schere
übrig, die leicht den Knoten zerschnitt. Aber nun denken Sie sich die
ganze Welt voll solch Wirrwarr von Garn. Dann haben Sie - voraus-
gesetzt, daß Sie Phantasie genug haben, um es sich vorzustellen, und
nicht sofort ermattet sagen : nein, so etwas will ich nicht einmal
85
denken - dann haben Sie, sage ich, das Arbeitsfeld vor sidi, auf dem
der forschende Mensch tätig ist Dies Arbeitsfeld liegt hinter dem
Laden, man sieht es nicht. Niemand, der nicht dazu gezwungen ist,
begibt sich in diesen Raum, wo jeder ein Fädchenstüdc zwischen den
Fingern hat und emsig daran herumbastelt. Da gibt es Streit und Neid
und gegenseitiges Helfen und Verzweiflung, und nie findet einer, auch
nicht einer ein Ende. Nur ab und zu kommt ein Herrchen vorn aus
dem Laden und fordert ein Stück rote Seide oder schwarze Wolle,
weil eine Dame - vielleicht sind Sie es - gerade irgend etwas
Niedliches stricken will. Dann weist ein müder Mann, der eben von
der Aussichtslosigkeit seines Schaffens ermattet die Hände hat sinken
lassen, die paar Meter Garn, die er mühsam in Jahrzehnten aus dem
wirren Gewimmel herausgeholt hat, der Ladendiener holt seine Schere
vor, schneidet das glatte Stück heraus und wickelt es, während er
nach vorn geht, wundervoll zum Knäuel. Und Sie kaufen es und
glauben, ein Stück Menschheit zu kennen ; ja, ja.
Nun, die Werkstatt, in deren Verkaufsraum ich diene, - denn ich
gehöre nicht zu den geduldigen Leuten, die ihr lebelang an der Ver-
wirrung herumklauben, ich verkaufe Knäuel - also diese Werkstatt
ist schlecht beleuchtet und das Garn ist schlecht gesponnen und an
tausend Stellen schon zerschnitten und zerfetzt. Man gibt mir nur
immer kleine Stückchen, die muß ich zusammenknoten, muß selber
hie und da die Schere gebrauchen und, wenn es nachher zum Verkauf
kommt, ist alle Augenblicke der Faden zerrissen oder es ist Rot und
Schwarz zusammengebunden, Baumwolle und Seide, kurz es ist
eigentlich keine Verkaufsware. Daran kann ich nichts ändern. Aber
seltsam ist es, daß es immer noch Leute gibt, die so etwas kaufen;
kindische Leute offenbar, die an der Buntheit und Regellosigkeit
Gefallen finden. Und das Seltsamste ist, daß Sie zu diesen Leuten
gehören.
#
Nun, wo wollen wir heute anfangen ? Beim Kindchen, beim ganz
kleinen Kindchen, das noch im Bauch der Mutter schläft. Vergessen
86
mm^mmmmmmm
Sie nicht, es ist Phantasicwolle, die idi Ihnen anbiete. Besonders
merkwürdig im Leben des ungeborenen Kindes ist mir immer eine
Tatsache gewesen : die, daß es allein mit sich ist, nicht nur eine Welt
für sich hat, sondern eine Welt für sich ist. Wenn es ein Interesse
hat - und wir haben gar keinen Grund anzunehmen, daß es
interesselos, unverständig wäre, im Gegenteil, die anatomisdien und
physiologisdien Verhältnisse erzwingen die Annahme, daß das Kind
auch ungeboren denkt, und die Mütter bestätigen das aus den Walir-
nehmungen, die sie am Kinde in ihrem Leibe machen - wenn das
ungeborene Kind ein Interesse hat, so kann es im wesentlidien nur
das Interesse an sich selbst sein. Es denkt nur an sich, all seine
Affekte gehen auf den eigenen Mikrokosmos. Ist es zu verwundern,
daß diese von Beginn an geübte Gewohnheit, diese erzwungene Ge-
wohnheit dem Menschen sein ganzes Leben hindurch bleibt ? Denn
wer ehrlidi ist, der weiß, daß wir alles immer auf uns selbst be-
ziehen, daß es ein mehr oder minder schön anzuschauender Irrtum
ist, anzunehmen, wir leben für andere oder anderes. Das tun wir
niemals, nicht einen Augenblick, niemals. Und der, auf den sich die
Verkünder der edlen, ach so falschen und erdachten Gefühle der
Aufopferung, Selbstverleugnung, Nächstenliebe berufen, Christus
wußte das ; denn als höchstes Ideal, als ein unerreidibares Ideal sprach
er das Gebot aus : Liebe deinen Nächsten als dich selbst ; wohlgemerkt
nicht „mehr als dich selbst", sondern so wie du dich hebst. Er nennt
dieses Gebot gleich dem andern: Liebe Gott von ganzer Seele, von
ganzem Herzen, von ganzem Gemüte. Es fragt sidi, ob dieses Gebot
nicht in ganz andrem Sinne dem zweiten der Nächstenliebe gleich
ist, gewissermaßen mit ihm identisch ist, was ich glaube und worüber
wir später unsere Gedanken austauschen können. Jedenfalls aber
hielt er fest an der Überzeugung, daß der Mensch sich selbst am
meisten liebt, und das Geschwätz der guten Menschen nannte er
pharisäisch und heuchlerisch, was es auch ist. Heutigen Tages nennt
die Psychologie diesen Trieb bei Menschen zu sich selbst, diesen Trieb,
87
der ausschließlich ist und in dem Alleinsein des Kindes im Mutter-
lcibe wurzelt, Narzißmus. Sie wissen, Narzissus war in sich selbst ver-
liebt, ertrank in dem Bach, in dem er sein Spiegelbild sah ; eine er-
staunliche Umdichtung des Selbstbefriedigungstriebes.
Sie erinnern sidi, daß ich behauptete, das Objekt für die Liebes-
fähigkeiten des Menschen sei zunächst und fast aussdiließlich er selbst.
Der neunmonatige Verkehr mit sich selbst, zu dem die Natur den
Menschen während der vorgeburtlichen Zeit zwingt, ist ein achtbares
Mittel, diesen Zweck zu erreichen.
Haben Sie schon einmal versucht, sich in die Gedankengänge
eines ungeborenen Kindes hineinzuversetzen? Tun Sie es einmal.
Machen Sie sich ganz klein, ganz klein und kriechen Sie in den Bauch
zurück, aus dem Sie gekommen sind; es ist das gar nicht so eine
sinnlose Aufforderung, wie Sie meinen, und das Lächeln, mit dem Sie
meine Zumutung wegweisen, ist kindlich freundlich, ein Beweis, wie
vertraut Ihnen der Gedanke ist. Tatsächlich wird ja auch unser ganzes
Leben, ohne daß wir es wissen, von diesem Wunsch, in die Mutter
zu gelangen, geleitet. Ich möchte in dich hineinkriechen, wie oft hört
man dieses Wort! Nehmen wir an, es gelänge Ihnen, wieder in den
Mutterschoß zurückzukehren. Idi denke mir, es müßte einem dabei
zu Mute sein wie jemandem, der nach einem bunt verlebten Tage
voll schöner und finsterer Gedanken und Erlebnisse, voll Sorgen,
Mühe, Arbeit und Lust und Gefahr zu Bett geht, allmählich schläfrig
wird und mit dem angenehmen Empfinden, sidier und ungestört zu
sein, einschläft. Nur tausendfach schöner, tiefer, ruhiger muß dieses
Empfinden sein, vielleicht ähnlich dem, das hie und da ein sensitiver
Mensch beschreibt, wenn er von einer Ohnmacht erzählt, oder dem,
was wir so gern bei sachte in den Tod gleitenden Freunden als Ein-
schlummern voraussetzen.
Muß ich es noch ausdrücklich sagen, daß das Bett ein Symbol
des Mutterleibes ist, der Mutter selbst ? Ja, ich gehe in meinen Be-
hauptungen noch weiter. Sie besinnen sich, was ich Ihnen über das
i
IT -
symbolische Denken und Handeln des Menschen sdirieb, daß er dem
Willen des Symbols unterworfen ist und gehorsam tun muß, was
diese Sdiicksalskraft verlangt, daß er erfindet, was das Symbolisieren
erzwingt. Um den Sdiein unsrer Gottähnlichkeit zu wahren, preisen
wir freilich unsre Erfindungen als Werke unsers bewußten Denkens,
unsers Genius und vergessen ganz, daß die Spinne sidi im Netz ein
Werkzeug erfunden hat, das nicht minder genial ist als das Netz, mit
dem wir Fische fangen, und daß der Vogel Nester baut, die den Ver-
gleich mit unsern Bauten wohl aushalten. Es ist eben ein Irrtum, den
Verstand des Menschen zu preisen, ihm das Verdienst alles Gesdie-
hens zuzusdireiben, ein begreiflicher Irrtum, da er auf dem Allmadits-
gefühle des Menschen beruht. In Wahrheit sind wir Werkzeuge des
Es, das mit uns macht, was es will, und es ist schon des Verweilens
wert, gelegentlich dem dunklen Walten des Es nachzuspüren. Um es
kurz zu sagen : ich glaube, daß der Mensch das Bett erfinden mußte,
weil er von der Sehnsucht nach dem Mutterleibe nicht loskommt. Ich
glaube nidit, daß er es sich erdadit hat, um bequemer zu liegen,
gleichsam um seiner Faulheit zu frönen, sondern weil er seine
Mutter liebt. Ja, mir ist es wahrsdieinlicb, daß die Faulheit des
Menschen, die Freude am Bett, am langen Liegen in den hellen Tag
hinein der Beweis einer großen Liebe zur Mutter ist, daß die faulen
Menschen, die gerne sddafen, die besten Kinder sind. Und wenn Sie
bedenken, daß das Kind, je mehr es seine Mutter liebte, um so
eifriger streben muß, von ihr loszukommen, so werden Ihnen
Naturen wie Bismarck oder der alte Fritz, deren emsiger Heiß in
seltsamem Gegensatz zu ihrer großen Faulheit steht, begreiflich wer-
den. Ihr unablässiges Arbeiten ist eine Auflehnung gegen die Fessel
der Kindesliebe, die sie mitschleppen.
Diese Auflehnung ist begreiflich. Je wohler sidi das Kind im
Mutterleibe gefühlt hat, um so tiefer muß es den Schrecken des
Geborenseins empfinden, um so inniger muß es den Schoß lieben,
in dem es ruhte, um so stärker muß das Grauen vor diesem
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Paradiese der Faulheit sein, aus dem es noch einmal vertrieben wer-
den könnte.
Liebste Freundin, ich warne sie allen Ernstes, die Korrespondenz
mit mir fortzusetzen. Ich führe Sie, wenn Sie auf mich hören, so weit
weg von allem, was vernünftige Menschen meinen, daß es Ihnen
nachher schwer werden wird, den richtigen, gesunden Menschenverstand
wieder zu finden. So und so viele Gelehrte, historisch gebildete Leute,
haben das Seelenleben Bismardvs nach allen Richtungen hin durch-
forscht und sind zu dem Schluß gekommen, daß er sidi aus seiner
Mutter nicht viel gemacht habe. Er erwähnt sie kaum und, wo er es
tut, klingt ein Groll aus seinen Worten. Und nun komme ich daher
und behaupte, die Mutter ist der Mittelpunkt seines Lebens gewesen,
war das Wesen, das er am meisten geliebt hat. Und dafür bringe ich
nur die eine Tatsache als Beweis, daß er stets sich nach Ruhe sehnte
und doch vor der Untätigkeit floh, daß er die Arbeit haßte und doch
stets arbeitete, daß er gern schlafen wollte und schlecht schlief. Es ist
wirklich eine Zumutung, da Glauben zu erwarten. Aber gestatten Sie
mir, ehe Sie das Wort „albern" aussprechen, noch zwei, drei Dinge
aus Bismarcks Wesen herauszugreifen. Zunächst ist da das seltsame
Phänomen, das zu erwähnen gewissenhafte Beobachter nie verfehlen;
er sprach - seltsam bei einem Mann von solch massigem Körperbau -
mit hoher Stimme. Für unsereinen bedeutet das: etwas in diesem
Manne war Kind geblieben, stand der Welt gegenüber wie das Kind
der Mutter, eine Behauptung, die sich leicht aus den Wesenszügen des
„eisernen" Kanzlers, der in Wahrheit Nerven wie ein Knabe besaß,
stützen ließe. Es braucht aber der individuellen Charaktereigenschaften
nicht, um von jemandem, der solche hohe Stimmlage hat, zu sagen:
der ist kindlich und ein Muttersöhnchen.
Besinnen Sie sich noch, — ach es ist schon lange her — wie wir
zusammen im Deutschen Theater waren, um Joseph Kainz als Romeo
zu sehen ? Wie wir uns wunderten, daß seine Stimmlage in den Liebes-
szenen so hoch wurde, mit welchem seltsam knabenhaften Klang das
90
Wort Liebe von ihm ausgesprochen wurde ? Ich habe später oft daran
denken müssen, denn es gibt viele, die, so männlich sie sonst sind,
das eine Wort Liebe hoch aussprechen. Warum ? Weil bei dem einen
Worte plötzlich in ihnen diese erste, tiefste, unvergänglidie Liebe wieder
wach wird, die sie als Kind für die Mutter empfanden, weil sie damit
sagen wollen, sagen müssen, ohne es zu wollen : Ich liebe dich, wie ich die
Mutter liebte, und alle Liebe, die ich geben kann, ist Abglanz der
Liebe zu ihr. Es wird keiner leicht mit diesem Wesen Mutter fertig ;
bis an das Grab wiegt sie uns in ihren Armen.
Auch an einer anderen Stelle kommt das Mutterkind in Bismarck
zum Vorschein: er rauchte viel. Warum finden Sie es gleich komisch,
daß ich das Rauchen als einen Beweis der Kindlichkeit und des Hängens
an der Mutter anspreche ? Ist Ihnen noch nie in den Sinn gekommen,
wie ähnlich das Raudien dem Saugen an der Mutterbrust ist? Sie
haben Augen und sehen nicht. Achten Sie doch auf solch alltägliche
Dinge ; sie werden Ihnen manch Geheimnis offenbaren, nicht bloß das
eine, daß der Raudier Mutterkind ist.
Für mich ist kein Zweifel — und ich könnte noch viel darüber
plaudern : dieser starke Mensch war im Tiefsten von der Mutterimago
beherrscht. Sie kennen ja seine Gedanken und Erinnerungen. Ist es
Ihnen nicht aufgefallen, daß dieser Tatsachenmensch es für nötig hält,
einen Traum zu erzählen? einen Traum, wie er mit der Gerte den
Felsen sprengt, der ihm den Weg versperrt? Nicht der Traum ist das
Merkwürdige ; für jeden, der etwas sich mit Träumereien beschäftigt,
ist es klar, daß der Inzestwunsdi, der Ödipuskomplex darin verborgen
ist. Aber daß Bismarck ihn erzählt hat, das ist der Aufmerksamkeit
wert. Nahe am Grabe war er noch so in der Gewalt der Mutter, daß
er dies Geheimnis seines Lebens mitten in die Erzählung seiner größten
Taten hineinstellen mußte.
Sie sehen, liebe Freundin, mit ein wenig gutem Willen laßt sich
in jedes Menschen Leben die Wirkung der Mutterimago hineindeuten.
Und diesen guten Willen besitze ich. Ob das, was ich denke, richtig
91
■
ist, darüber mögen Sie je nach Ihrem Gutdünken urteilen. Aber es kommt
mir nicht darauf an, redit zu haben. Mir hegt daran, Urnen eine kleine
Regel in das Gedächtnis einzuprägen, weil ich finde, daß sie im Ver-
kehr mit sich und den Menschen nützlich ist: Wen man schilt, den
liebt man.
Aditen Sie darauf, worüber die Mensdien schelten, was sie ver-
achten, wovor sie sich ekeln. Hinter dem Schelten, der Verachtung,
dem Ekel, der Abneigung, steckt immer und ohne Ausnahme ein
schwerer, noch nicht abgeschlossener Konflikt. Sie werden nie in der
Annahme fehlgehen, daß der Mensdi, was er haßt, einmal sehr geliebt
hat und noch liebt, was er verachtet, bewundert hat und noch be-
wundert, wovor er sich ekelt, gierig gewünscht hat. Wer die Lüge
verabscheut, ist sicher ein Lügner gegen sich selbst, wer sich vorm
Schmutz ekelt, für den ist der Schmutz eine verführerische Gefahr,
und wer einen andern verachtet, der bewundert und beneidet ihn.
Und es hat eine tiefe Bedeutung, daß die Frauen - und auch die
Männer - sich vor Schlangen fürchten, denn es gibt eine Schlange, die
die Welt und das Weib regiert. Mit andern Worten : die Tiefen der
Seele, in denen die verdrängten Komplexe ruhen, verraten sich in den
Widerständen. Zwei Dinge muß beachten, wer sich mit dem Es befaßt,
die Übertragungen und die Widerstände. Und wer Kranke behandeln
will, mag er Chirurg oder Geburtshelfer oder praktischer Arzt sein,
hilft nur soweit, als es ihm gelingt, die Übertragungen des Kranken
auszunützen und die Widerstände zu lösen.
Ich habe nichts dagegen, wenn Sie dieser Regel gemäß beurteilen
und verurteilen Ihren allzeit getreuen
PATRIK TROLL.
10.
DANK FÜR DIE MAHNUNG, LIEBE FREUNDIN. ICH WERDE VER-
suchen, wieder festen Boden unter die Füße zu bekommen. Nur nicht
schon heute.
Ich muß Ihnen etwas erzählen. In freundlich einsamen Stunden
überfällt midi zuweilen eine Träumerei seltsamen Inhalts. Ich stelle
mir dann vor, daß ich, von Feinden verfolgt, einem Abgrund zueile,
dessen felsiger Rand wie ein weit vorspringendes Dach die jäh hinab-
führende Wand überragt. Lose um einen Baumstumpf geschlungen,
hängt ein langes Seil in die Tiefe. Daran gleite ich nieder und
sdiaukle mich hin und her, der Felswand zu und wieder weg davon,
in immer größeren Schwingungen. Hin und her, hin und her schwebe
ich über dem Abgrund, sorglich mit den Beinen den Körper von dem
Felsen abzustoßen, damit er nicht gequetscht wird. Es liegt ein ver-
führerischer Reiz in diesem Schaukeln und meine Phantasie dehnt es
in die Länge. Endlich aber gelange ich zum Ziel. Eine Höhle, von
der Natur gesdiaffen, liegt vor mir; sie ist aller Menschen Augen
verborgen, nur ich kenne sie, und in weitem, sanftem Schwünge fliege
ich in sie hinein und bin gerettet. Der Feind starrt von der Höhe
des Felsens in die schwindelnde Tiefe hinab und geht seinen Weg
zurück in der sicheren Annahme, daß ich unten zerschmettert hege.
Ich habe oft gedacht, daß Sie mich beneiden würden, wenn Sie
wüßten, wie süß die Wonne dieser Phantasie ist. Darf ich sie deuten?
Diese Höhle, deren Zugang nur ich allein kenne, ist der Leib der
Mutter. Der Feind, der mich verfolgt, und, in seinem Haß befriedigt,
midi zerschlagen im Abgrund wähnt, ist der Vater, der Mann dieser
Mutter, der sich ihr Herr zu sein dünkt und doch das nie betretene,
unbetretbare Reich ihres Schoßes nicht kennt. Letzten Endes will
dieser Traum im Wachen nichts anderes sagen, als was ich als Kind
zu antworten pflegte, wenn man mich fragte : wen willst du heiraten ?
Es kam mir gar nicht in den Sinn, daß ich irgend ein Weib heiraten
könnte, außer der Mutter. Und ich verdanke es wohl nur der trost-
losen Einsamkeit meiner Schul jähre, daß dieser tiefste Wunsch meines
Wesens zu einer schwer verständlichen Symbolphantasie niedergedrückt
wurde. Nur das nicht mitteilbare Wonnegefühl des Schaukeins verrät
noch die Glut des Affekts. Und die Tatsache, daß ich so gut wie
93
i
•
£
nichts mehr von der Zeit zwischen 12 und \J Jahren weiß, die ich
getrennt von meiner Mutter verleben mußte, beweist, welche Kämpfe
in mir stattgefunden haben. Es ist eine eigene Sache mit solcher Los-
lösung von der Mutter, und ich kann wohl sagen, daß das Schicksal
gnädig über mir gewaltet hat.
Das ist mir heute wieder einmal redit klar geworden. Ich habe
einen harten Strauß mit einem jungen Manne durchgefochten, der sich
durchaus von mir behandeln lassen wilL aber vor Angst bebt und
kaum ein Wort vorbringen kann, sobald er mich sieht. Er hat es fertig
gebracht, mich mit seinem Vater zu identifizieren, und wie ich es auch
anfangen mag, er bleibt der Meinung, - oder vielleicht sein Es bleibt
der Meinung - daß ich irgendwo ein großes Messer verborgen habe,
daß ich ihn packen und des Abzeichens seiner Mannheit berauben
werde. Und das alles, weil er seine Mutter, die längst tot ist, leiden-
schafdich geliebt hat. In diesem Menschen lebte einmal, - Jahre lang
oder nur für Augenblicke - lebt vielleicht noch der tobende Wunsch,
die eigene Mutter zur Geliebten zu nehmen, ihren Schoß zu besitzen,
Und aus diesem Wunsch, dieser Begierde der Blutschande wuchs die
Angst vor der Rache des Vaters, der mit dem vernichtenden Messer-
schnitt das geile Glied abschneidet.
Daß ein Kranker im Arzt seinen Vater sieht, ist erklärlich. Die
Übertragung des Affekts zu Vater oder Mutter auf den Arzt stellt
sich bei jeder Behandlung ein ; sie ist maßgebend für den Erfolg, und
je nachdem der Kranke mit seinem Gefühlsleben auf den Vater oder
auf die Mutter eingestellt war, wird er den starken oder den sanften
Arzt bevorzugen. Wir Ärzte tun gut daran, uns dieser Tatsache
bewußt zu bleiben ; denn drei Viertel unserer Erfolge, wenn nicht viel
mehr, beruhen auf der Fügung, die uns irgend welche Wesensähnlich-
keit mit den Eltern der Patienten gab. Und der größte Teil unsrcr
Mißerfolge ist auch auf solche Übertragungen zurückzuführen, was uns
einigermaßen über den Verdruß unsrer Eitelkeit trösten mag, den
ihr die Erkenntnis der Übertragung als des eigentlichen Arztes be-
94
J
reitet. „Olin all mein Verdienst und Würdigkeit", mit diesem Luther-
wort bleibt vertraut, wer mit sich selbst in Frieden leben will.
Darin ist also nichts Merkwürdiges, daß mein Patient in mir den
Vater sudit; aber daß er, der an die Mutterimago gefesselt ist, sidi
einen Vaterarzt auswählt, fällt auf, und die Schlußfolgerung ist erlaubt,
daß er, ohne es sich selbst klar gemacht zu haben, am Vater ebenso
hängt wie an der Mutter. Das gäbe eine gute Aussicht auf Erfolg.
Oder sein Es trieb ihn zu mir, weil er sidi durch eine mißlungene
Kur zum soundsovielten Male beim soundsovielten Lehrer und
Arzt beweisen will, daß der Vater ein armselig minderwertiges Ge-
sdiöpf ist. Dann ist freilich wenig Hoffnung, daß gerade ich ihm helfen
werde. Ich täte besser, ihm diesen Sachverhalt zu erklären und ihn
auf die Sudie nadi einem Arzte der mütterlichen Art zu schicken.
Aber idi bin ein unerziehbarer Optimist und nehme an, daß er trotz
seiner Angst im Innersten ernstlich an mein Übergewicht glaubt und
es liebt, wenn er audi gern ein bißdien Bosheit in die Behandlung
lüneinträgt. Solche Sdiabernack spielende Kranke sind nicht selten.
Immerhin ist der Sachverhalt zweifelhaft und erst der Ausgang der
Behandlung wird midi lehren, was den Kranken bewog, gerade zu mir
zu kommen.
Ich kenne ein Mittel, die verborgene Gesinnung eines Menschen
gegen mich, wie sie im Augenblicke da ist, ans Tageslicht zu ziehen,
und weil Sie ein artig liebes Weibchen sind und Humor genug be-
sitzen, um es ohne Verdrießlidikeit zu verwenden, will ich es Ihnen
verraten. Fragen Sie den, dessen Herz Sie kennenlernen möchten,
nach einem Schimpfwort. Und wenn er, wie zu erwarten steht, „Gans"
sagt, dürfen Sie es auf sich beziehen und ohne Ärger feststellen, daß
Sie ihm zuviel schnattern. Aber vergessen Sie nicht, daß Gans ge-
braten gut sdimeckt, daß es also ebensogut ein Kompliment, wie eine
Beschimpfung sein kann.
Nun, ich habe bei passender Gelegenheit meinen Kranken auch
nadi einem Schimpfwort gefragt und es kam, prompt, wie ich es er-
95
,
•■
wartet hatte, das Wort Ochse. Damit wäre ja die Trage gelöst : mein
junger Freund hält midi für dumm, für horndumm. Aber das kann
eine Empfindung des Augenblicks bei ihm sein, die - so hoffe idi -
vorübergehen wird. Was midi an dem Wort interessiert, ist etwas
andres. Wie inmitten der Dunkelheit ein aufzuckendes Lieht erhellt
es für einen Augenblick die Finsternis der Erkrankung. Der Odise
ist kastriert. Wenn ich, wie sich das für den wohlanständigen Arzt
geziemt, den bösartigen Hohn überhöre, der mich zum Eunuchen de-
gradiert, finde ich in dem Wort Ochse eine neue Erklärung für die
Angst meines Patienten, ja, es bringt mich sogar der allgemeingültigen
Lösung einer überaus wichtigen Frage näher, die wir in unserem
seltsamen Medizindeutsch „Kastrationskomplex" nennen. Und wenn
ich einmal diesen Kastrationskomplex in seinen Einzelheiten und seiner
Gesamtheit beherrsche, werde ich mich Doktor Allwissend nennen und
werde Ihnen von den vielen Millionen, die dann in meine Kasse
fließen werden, großmütig eine schenken. Das Wort Ochse verrät mir
nämlidi, daß mein Klient einmal den Wunsch und die Absidit gehabt
hat, seinen eigenen Vater zu kastrieren, aus dem Stier einen Odisen
zu machen, und daß er dieses frevelhaften Wunsches wegen nach dem
Satze: Auge um Auge, Zahn um Zahn, Schwanz um Schwanz, für
seinen eigenen Geschlechtsteil bange ist. Was mag ihn zu diesem
Wunsch bewogen haben ?
Sie sind rasch mit der Antwort bei der Hand, liebe Freundin,
und ich beneide Sie um diese entschlossene Raschheit. „Wenn", sagen
Sie, „dieser Mensch von der Begierde beherrscht ist, seine Mutter zur
Geliebten zu haben, kann er nicht dulden, daß ein andrer - der
Vater - sie besitzt, er muß den Vater töten, wie Ödipus den Laios,
oder er muß ihn kastrieren, zum ungefährlichen Haremssklaven
machen." Leider sind die Dinge im Leben nicht so einfadi, und Sie
müssen sich jetzt mitGeduld für eine lange Auseinandersetzung wappnen.
Mein Kranker gehört zu den Menschen, die doppelgeschleditlich
eingestellt sind, die ihre Affekte dem eigenen männlichen Gesdilechte
96
ebenso zuwenden wie dem weiblichen ; er ist, um mich wiederum
meiner geliebten Medizinsprache zu bedienen, zugleich homosexuell
und heterosexuell. Sie wissen, daß diese Doppelgesdilcditlichkeit für
die Kinder allgemeingültig ist. Aus meinem Privatwissen füge ich hinzu,
daß die doppelte Einstellung bei dem Erwachsenen eine Dauerhaftig-
keit des kindlidien Es beweist, die der Aufmerksamkeit wert ist. Bei
meinem Patienten wird die Sache noch dadurch kompliziert, daß er
sich beiden Gesdileditern gegenüber als Mann oder als Weib fühlen
kann, daß er also die verschiedensten Leidensdiaftsmöglidikeitcn hat.
Es kann also sehr gut sein, daß er seinen Vater nur deshalb kastrieren
will, um aus diesem Vater seine Geliebte zu machen, und daß ander-
seits seine Angst, die Geschlechtsteile könnten ihm vom Vater weg-
geschnitten werden, ein verdrängter Wunsch ist, die Frau des Vaters
zu sein.
Aber ich vergesse ganz, daß Sie ja gar nicht verstehen können,
was ich meine, wenn ich sage, ein Mensch will durch Wegschneiden
der männlidien Genitalien aus dem Mann ein Weib machen. Darf ich
Sie bitten, mit in die Kinderstube zu kommen? Auf der Waschkom-
mode sitzt Grete in ihrer dreijährigen Nacktheit und wartet auf das
Kindermädchen, das warmes Wasser zum Abendwaschen holt. Vor
ihr steht, mit neugierigen Augen zwischen die gespreizten Beinchen
guckend, der kleine Hans, tippt mit dem Finger auf den roten
klaffenden Spalt der Sdiwester und fragt: „Abgeschnitten?" „Nein,
immer so gewesen."
Wenn es mir nicht so unangenehm wäre, zu zitieren - in meiner
Familie war es Sitte und sowohl Mutter wie Brüder haben mich und
meine Eitelkeit tausendfach damit gequält, daß sie besser zitieren
konnten als ich armseliger Benjamin ; es fehlt audi nidit an argen
Blamagen, die idi bei falschem Zitieren auf mich geladen habe, -
wenn es mir nicht so dumm vorkäme, würde idi jetzt etwas vom
tiefen Sinn des kindischen Spiels sagen. Statt dessen will ich Ihnen
nüchtern mitteilen, was diese Cesdiichte vom Abgeschnittenen bedeutet.
7 Groddcck, Das Buch vom Es
97
Zu irgend einer Zeit - es ist merkwürdig, daß kaum einer sich be-
sinnen kann, wann das geschieht - und noch merkwürdiger ist es,
daß ich soviel mit Unterbrediungen meiner Sätze denke und schreibe.
Sie mögen daraus erfahren, wie schwer es mir wird, auf diese Dinge
einzugehen und ich überlasse es Ihnen, daraus Ihre Folgerungen über
meinen persönlichen Kastrationskomplex zu ziehen.
Also zu irgendeiner Zeit bemerkt das Knablein den Unterschied
beider Geschlechter. Bei sich und beim Vater und den Brüdern sieht
er ein Anhängsel, das ganz besonders lustig anzusehen und zum
Spielen ist. Bei Mutter und Schwester sieht er statt dessen ein Loch,
aus dem das rohe Fleisch, der Wunde ähnlich, hervorschimmert. Er
folgert daraus, dumpf und unbestimmt, wie es seinem jungen Gehirn
zukommt, daß einem Teil der Menschen das Schwänzchen, mi dem
sie geboren wurden, weggenommen wird, ausgerissen, eingestülpt, ab-
gecjuetsdit oder abgeschnitten wird, damit es auch Mädchen und
Frauen gibt ; denn die braucht der liebe Gott zum Kinderkriegen. Und
wiederum zu einer Zeit macht er in seiner seltsamen Verwirrtheit
diesen unerhörten Dingen gegenüber für sich aus, das Schwänzchen
wird abgeschnitten, denn die Mama macht ab und zu statt des hell-
gelben Pipis rotes Blut in das Töpfchen. Also wird ihr von Zeit zu
Zeit der Pipimadier, das Hähnchen, aus dem das Wasser spritzt, ab-
geschnitten, und zwar nadits vom Papa. Und von diesem Moment an
bekommt das Knäblein eine Art Verachtung für das weibliche Ge-
schlecht, eine Angst für seine eigene Mannheit und eine mitleidige
Sehnsucht, das Loch der Mama und weiterhin die Wunden andrer
Mädchen und Frauen mit seinem Hähnchen auszufüllen, sie zu be-
sdilafen.
Ach, hebe Freundin, ich bilde mir nicht ein, damit die Lösung
der ewig rätselhaften Frage nach der Liebe gefunden zu haben. Der
Schleier bleibt, an dem ich nur ein Eckchen zu lüften suche, und was
ich daliinter sehe, ist dunkel. Aber es ist wenigstens ein Versuch.
Und ich bilde mir auch nicht ein, daß der Knabe diese infantile Se-
98
/
xualtheorie - erschredten Sie nidit über den gelehrten Ausdrude —
klar denkt. Aber gerade weil er sie nidit klar denkt, nidit klar aus-
zudenken wagt, weil er fünf Minuten später wieder eine andere Theorie
aufstellt, um sie wieder zu verwerfen, kurz, weil er diese Dinge gar
nidit in seinem Bewußtsein aufspeichert, sondern in die Tiefen des
Unbewußten versenkt, gerade deshalb haben sie eine so unermeßlich
große Wirkung auf ihn. Denn was unser Leben und Wesen gestaltet,
ist nidit bloß der Inhalt unsers Bewußtseins, sondern in viel höherem
Grade unsers Unbewußten. Zwischen beiden, der Region des Be-
wußten und der des Unbewußten, ist ein Sieb und oben im Bewußten
bleiben nur die groben Dinge zurüde, der Sand für den Mörtel des
Lebens fällt in die Tiefe des Es, oben bleibt nur die Spreu, während
drunten das Meld für das Brot des Lebens gesammelt wird, drunten
im Unbewußten.
Herzliche Grüße und alles Gute
PATRIK TROLL.
IL
IHNEN ZU SCHREIBEN, BESTE FREUNDIN, IST ANGENEHM
Andre, denen ich die Geschichte von der Kastration erzähle, werden
bös, schelten mich und tun so, als ob idi an der Erbsünde und dem
Erbfludi schuld sei. Sie aber ziehen sofort die Parallele mit der
Sdiöpfungssage, und die Rippe Adams, aus der Eva gemacht wird, ist
Ihnen der Geschlechtsteil des Mannes. Sie haben recht und ich freue
mich.
Darf ich Sie noch auf Kleinigkeiten aufmerksam machen? Zu-
nächst eine Rippe ist hart und starr. Es ist also nidit der Penis
schlechdiin, aus dem das Weib wird, sondern der hartgewordene,
knochige, steife, der erigierte Phallus der Lust. Die Wollust gilt der
Menschenseele als böse, als strafbar. Der Wollust folgt die Strafe der
Kastration. Die Wollust macht aus dem Manne das Weib.
Madien Sie eine Pause im Lesen, liebe Schülerin, und träumen
Sie ein wenig darüber, was es für das Menschengeschlecht und seine
7* 99
Entwicklung bedeutet hat und noch bedeutet, daß es den stärksten
Trieb als Sünde empfindet, den Trieb, der unbezähmbar ist, vom
Willen nur verdrängt, niemals vernichtet werden kann, daß ein un-
vermeidlicher Naturvorgang wie die Erektion mit Sdiande und Scham
bedeckt ist. Aus der Verdrängung, aus dem Zwang, dieses und jenes
zu verdrängen, wurde die Welt, in der wir leben.
Darf ich Ilmen ein wenig helfen ? Was verdrängt wird, wird vom
Platze gedrängt; in andre Form gepreßt und umgewandelt; zum
Symbol gestaltet, erscheint es wieder : die Verschwendung wird zum
Durchfall, die Sparsamkeit zur Verstopfung, die Gebärlust zum Leib-
veh, der Geschlechtsakt zum Tanz, zur Melodie, zum Drama, baut
sidi vor aller Menschen Augen auf als Kirche, mit ragendem Mannes-
turm und geheimnisvollem Mutterschoß des Gewölbes, wird zum
1 ender der Lokomotive und zum rhythmischen Stampfen des Straßen-
pflasterers oder zum Takt des Axtschwungs beim Holzfäller. Lauschen
Sie dem Klang der Stimmen, dem Auf und Nieder im Tonfall, der
Schönheit des Sprachlauts, wie das heimlich wohltut und leise unver-
merkt alles erregt, lauschen Sie in Ihre tiefste Seele hinein und leug-
nen Sie noch, wagen Sie es noch, zu leugnen, daß alles, was gut ist,
Symbol der wogenden Menschenleiber im Himmel der Liebe ist ! Und
auch alles, was böse ist ! Was aber wird aus der Verdrängung der
Erektion, dieses Aufwärtsstrebens, das mit dem Fluch der Kastration
bedroht ist? Aufwärts gen Himmel reckt sich der Mensch, er hebt
sein Haupt, stellt sich auf eigene Füße, ragt empor und läßt die su-
chenden Augen über die Welt schweifen, umfaßt mit denkendem Hirn
alles, was ist, wächst und wird größer und steht ! Sieh nur, Liebe, er
wurde ein Mensch, zum Herren geworden durch Verdrängung und
Symbol. Ist es nicht schön ? Und warum klingt unserm Ohr schlecht
und Geschlecht so ähnlich ?
Vor dem Wesen und heimlidien Denken des Es kann man sich
fürchten, es staunend bewundern oder darüber lächeln. Auf die
Mischung dieser drei Empfindungen kommt es an. Wer sie in Har-
100
monie zusammenklingen läßt, den wird man lieben, denn er ist
liebenswert.
Wie aber kommt es, daß der Mensch die Tatsache der Erektion
als Sünde empfindet, daß er dumpf in sidi fühlt : nun wirst du zum
Weibe, nun sdineidet man dir das Lodi in den Bauch ? Manches
kennt unsereiner von der Mensdienseele, einiges davon läßt sidi
sagen, vieles wird nie bis zur mitteilbaren Klarheit gedacht, zwei Dinge
aber kann ich Ihnen sagen. Das eine ist, was wir zusammen erlebten
und was uns damals heiter und froh madite.
Wir hatten einen schönen Tag verlebt, die Sonne war warm ge-
wesen und der Wald grün, die Vögel hatten gesungen und der Lin-
denbaum summte von Bienen. Voll von der Frische der Welt kamen
wir zu Ihren Kindern gerade zur Zeit, um den kleinen Knaben zu
Bett zu bringen. Da fragte idi ihn : „Wen wirst du einmal heiraten ?"
Er sdilang die Arme um Ihren Mals und küßte Sie und sagte : „Die
Mama, nur die Mama." Nie vorher und nie später habe ich solchen
Ton des Liebesgeständnisses gehört. Und in Ihren Augen war plötzlidi
das wcidie Verschwimmen der Seligkeit, die völlige Hingabe ist. So
ist es mit allen Knaben: sie lieben ihre Mütter, nicht kindlich, un-
sdiuldig, rein, sondern heiß und leidenschaftlidi, durditränkt von
Sinnlichkeit, mit der ganzen Kraft wollüstiger Liebe; denn was ist
alle Sinnlichkeit des Erwachsenen gegen das Fühlen und Begehren
des Kindes? Diese heiße Glut aller Liebe, die wohl begründet ist
durdi jahrelanges gemeinsames körperliches Genießen von Mutter
und Kind, löst sich, unter dem Einfluß von Gesetz und Sitte und
unter dem Schatten des sündigen Bewußtseins im Gesicht der Mutter,
ihrer Lüge und Heudielei, in Schuldbewußtsein und Angst auf, und
hinter der Begierde blinkt das Messer hervor, das dem Knaben seine
Liebeswaffe abschneiden wird, ödipus.
Es gibt Völker, die dulden die Ehe von Bruder und Schwester,
es gibt Völker, deren Sitte die reife Tochter dem Vater auf das
Lager gibt, bevor der Gatte sie berühren darf. Aber niemals,
101
, .
so lange die Welt stand, niemals, so lange sie stehen wird, ist dem
Sohn gestattet, mit der Mutter zu schlafen. Die Blutschande mit der
Mutter gilt als das schwerste Verbrechen, schlimmer als Muttermord,
als Sünde der Sünden, als Sünde an sich. Warum ist das so? Geben
Sie Antwort! Freundin. Vielleicht weiß die Frau darüber mehr zu
sagen als der Mann.
Das also ist das eine : weil Jede Erektion Begierde nach der
Mutter ist, jede, nach dem Gesetze der Übertragung ausnahmslos
jede, darum ist sie von Angst vor der Kastration begleitet Womit du
sündigst, daran wirst du gestraft, das Weib mit Brustkrebs und
Gebärmutterkrebs, weil sie mit Brüsten und Unterleib sündigte,
der Mann mit Wunden, Blut und Verrücktheit, weil er Wunden
schlug und Böses dadite, ein jeder aber mit dem Gespenste der Ent-
mannung.
Das andre aber ist eine Erfahrung: auf jede Erektion folgt die
Erschlaffung. Und ist das nicht Entmannung? Diese Erschlaffung ist
die natürliche Kastration und ist eine symbolische Quelle der Angst.
Ist es nicht merkwürdig, daß die Menschen immer davon reden,
man könne sich durch Wollust selber zerstören? Und hat doch die
Natur durch symbolisdie Warnung der Erschlaffung eine unüberwind-
liche Schranke für jede Vergeudung erschaffen. Ist dieses Gerede nur
Angst, die dem Ödipuskomplex entspringt oder dem Onaniegespenst
oder sonst einer Seltsamkeit der Menschenseele, oder ist es nicht auch
vielleicht Neid? Der Neid des Impotenten, des Entbehrenden, der
Neid, den jeder Vater gegen seinen Sohn, die Mutter gegen ihre
Tochter, der Ältere gegen den Jüngeren hat?
Ich bin weit herumgeschweift und wollte doch von der Erschaffung
des Weibes aus Adams Rippe sprechen. Beachten Sie bitte: Adam ist
ursprünglich allein. Soll aus dem weichen Fleisch, das er mehr hat,
als dem Weibe spater gegönnt wird, eine harte Rippe werden, so muß
die Begierde, die die Erektion hervorruft, der Verliebtheit in sich
selbst entspringen, narzißtisch sein. Adam empfindet durch sich selbs
102
die Lust, die Befriedigung, die Verwandlung von Fleisch in Rippe ver-
schafft er sich selbst. Und die Erschaffung des Weibes, das Abschneiden
der Rippe, so daß die Wunde des Weibes entsteht, diese Kastration
ist letzten Endes die Strafe für die Onanie. Wie sollte der Mensch
aber, wenn er erst den Gedanken hatte : Onanie ist strafwürdig, sich
eine andere Strafe auswählen, um sich davor zu fürchten, als die
Kastration, da ja auf jeden Onanieakt unbedingt die symbolische
Kastration, die Erschlaffung folgen muß ?
Soweit ist die Sache leidlich klar. Aber nun bleibt die Frage,
warum der Mensch in der Onanie die Sünde sieht. Wenigstens eine
halbe Antwort darauf ist leicht zu finden. Denken Sie sich einen
kleinen Säugling, ein Knäblein. Zunächst muß es sich selbst kennen-
lernen, alles betasten, was betastbar ist, mit allem spielen, was zu ihm
gehört, mit seinem Ohr, seiner Nase, seinen Fingern, den Zehen.
Sollte er die kleine Troddel, die er unten am Bäuchlein hängen hat,
aus angeborner Moralität beim Selbstkennenlernen und Spielen weg-
lassen? Gewiß nicht. Was aber geschieht nun, wenn er spielt? Das
Zupfen am Ohr, an der Nase, am Mund, an den Fingern und Zehen
wird von der entzückten Mutter hervorgerufen, gefördert, in jeder
Weise begünstigt. Sobald aber das Kindchen an der Troddel spielt,
kommt eine große Hand, eine Hand, die von der Mythen sdiaffenden
Kraft des Menschenkindes in die Hand Gottes verwandelt wird, und
nimmt des Kindes Händchen fort. Vielleidit, sicher sogar, blickt dabei
das Gesicht dieses Menschen, der die große Hand hat, der Mutter
also, ernst, angstvoll, schuldbewußt. Wie tief muß das Erschrecken des
Kindes sein, wie ungeheuer der Eindruck, wenn stets bei derselben
Handlung, nur bei dieser einen einzigen Handlung die Gotteshand
hindernd kommt. Das alles gcsdiieht zu einer Zeit, wo das Kind noch
nicht spridit, ja, wo es das gesprodiene Wort noch nicht einmal ver-
steht. Es gräbt sich ein in die tiefste Tiefe der Seele, tiefer nodi als
Spredien, Gehen, Kauen, tiefer als die Bilder von Sonne und Mond,
von rund und eckig, von Vater und Mutter : du darfst nicht mit dem
103
Geschlechtsteil spielen, und gleich anschließend entsteht der Gedanke :
Alle Lust ist schlecht. Und vielleicht bringt die Erfahrung: wenn du
mit dem Geschlechtsteil spielst, wird dir etwas weggenommen, not-
wendig die weitere Idee : nicht nur das Händchen, auch das Schwänzchen
wüd dir genommen. Wir wissen ja nichts vom Kinde, wissen nidit,
wie weit es schon ein Persönlichkeitsgefühl hat, ob es mit dem Gefühl,
Hand und Bein gehören zu mir, geboren wird oder es erst erwerben
muß. Hat es schon von Beginn an das Empfinden, ein Idi zu sein,
. von der Umwelt abgegrenzt zu sein ? Wir wissen es nicht, wissen nur
das eine, daß es erst spät, erst mit drei Jahren beginnt, das Wörtlein
Ich zu gebrauchen. Ist es so überkühn, anzunehmen, daß es ursprüng-
lidi sich selbst zeitweise als fremd, als den Andern betrachtet, da der
Hans dodi nicht sagt : Ich will trinken, sondern Hans will trinken ?
Wir Menschen sind närrische Käuze, die solche Fragen gar nicht zu
stellen wagen, einfach weil unsre Eltern uns das viele Fragen ver-
boten haben.
Es bleibt noch eine Schwierigkeit bei der Sdiöpfungssage, auf die
ich kurz hinweisen möchte. Wir deuten beide die Entstehung aus der
Rippe als Umwandlung des Mannes in ein Weib durch die Kastration.
Dann fordert aber unser rationelles Denken zwei Adams, einen, der
Adam bleibt, einen, der Eva wird. Aber das ist nur ein dummer
rationalisierender Einwand. Denn wann hätte sich je die Dichtung
daran gestoßen, aus einer Person zwei zu machen oder aus zweien
eine ? Das Wesen des Dramas beruht darauf, daß der Dichter sich
selbst in zwei, ja in zwanzig Personen spaltet, der Traum verfährt so,
jeder Mensch tut dasselbe ; denn er nimmt in der Umwelt nur wahr,
was es selbst ist, er projiziert sich selbst fortwährend in die Dinge.
Das ist das Leben, das muß so sein, dazu zwingt uns das Es.
Verzeihung, Sie lieben solch Philosophieren nicht Und vielleicht haben
Sie recht Kehren wir in das Reich der sogenannten Tatsachen zurück !
Es ist nicht gut, daß der Mensch allein sei, ich will ihm eine
Gehilfin geben, sagt Gott der Herr, und macht ein Wesen, das dort,
104
wo der Mann einen Auswuchs hat, eine Öffnung besitzt, das sidi dort,
wo er fladi ist, zwei Brüste wölben läßt. Das ist also das Wesendidie
an ihrem Gehilfinsein. Es ist derselbe Gedanke, den das Kind hat:
damit geboren wird, muß aus dem Adam durdi Wegnehmen der
Rippe eine Eva werden. Ist solch eine Übereinstimmung von Volks-
und Kinderseele nicht beaditenswert ? Wenn Sie Lust haben, wollen
wir selbst Märchen und Mythen, Baustile und tedinische Leistungen
der Völker durdi forschen ; vielleicht finden wir allerhand Kindliches
darin. Das wäre nicht unwichtig ; es würde uns duldsam gegen die
Kindlein machen, von denen Christus sagt: Ihrer ist das Himmelreidi.
Ja vielleicht fänden wir auch unser längst verlorenes Staunen, unsre
Anbetung des Kindes wieder, was immerhin in unserm malthusiani-
schen Jahrhundert etwas bedeuten würde.
Aber achten Sie doch auf das Wort : Gehilfin. Es ist keine Rede
davon, daß der Mann umgewandelt wird in all seinem Wesen und
Stieben ; er bleibt trotz der Kastration derselbe, bleibt, was er war,
ein Wesen, das auf sidi selbst gerichtet ist, das sidi selbst liebt, das
seine eigene Lust sucht und findet. Nur jemand, der ihm dabei hilft,
ist entstanden, jemand, der ilun einen Teil seiner Lust wo anders als
an seinem Körper unterzubringen ermöglicht. Der Trieb zum Verkehr
mit sidi selbst bleibt, der Penis ist nidit verschwunden, er ist noch
da, Adam ist nicht verändert, er steht noch ebenso wie vordem unter
dem Zwang, sich selbst Lust zu verschaffen. Das ist eine seltsame Sache.
Wie? Sollte es nicht möglidi sein, daß all das, was die Weisen
und Toren sagen : die Onanie ist ein Ersatz des Geschleditsverkehrs,
entsteht aus dem Mangel eines Objekts, entsteht, weil die Begierde
des Mannes kein Weib zur Hand hat und deshalb zur Eigenhilfe
greift; sollte das alles falsch sein? Betrachten Sie die Tatsachen. Das
kleine Kind, das neugeborene, treibt Selbstbefriedigung ; das heran-
reifende Menschlein der Pubertät tut es Mieder und - seltsam zu
denken - der Greis und die Greisin greifen von neuem dazu. Und
zwisdien Kindheit und Alter liegt eine Zeit, da verschwindet die
105
V-
Onanie häufig und der Verkehr mit anderen Wesen erscheint. Sollte
etwa der Geschlechtsverkehr Ersatz der Onanie sein? Und ist es
wirklich so, wie es in der Bibel steht, daß der Geschlechtsverkehr nur
Gehilfe ist?
Ja, beste Freundin, so ist es. Es ist wirklich wahr, die Selbst-
befriedigung besteht ruhig weiter, trotz Liebe und Ehe, neben Liebe
und Ehe, sie hört nie auf, ist immer da und bleibt bis zum Tode.
Gehen Sie in Ihre Erinnerung hinein, Sie werden in vielen Tagen
und Nächten, im Liebesspiel mit dem Manne und im Leben Ihrer
Phantasie den Beweis finden. Und wenn Sie ihn gefunden haben,
werden Ihre Augen sich für tausend Phänomene öffnen, die deutlich
oder unklar ihre Zusammenhänge, ja ihre Abhängigkeit von der
Selbstbefriedigung zeigen. Und werden sidi hüten, die Onanie künftig
unnatürlich und lasterhaft zu nennen, wenn Sie sich auch nicht zwingen
können, sie als Schöpferin des Guten zu empfinden. Denn um so zu
empfinden, müßten Sie die Gotteshand, die Hand der Mutter, die
einst Ihr Spiel der Lust unterbrach, überwinden, innerlich überwinden.
Und das kann niemand.
Herzlichst
PATRIK TROLL.
12.
ICH VERSTEHE NICHT, LIEBE FREUNDIN, WELCHER TEUFEL
in Sie gefahren ist. Neulich schrieben Sie in heller Freude von Ihrer
Überzeugung, daß die Kastrationsideen beim Menschen immer und
immer nachweisbar sind und heute kommen Sie mit Einwänden. Aber
warum wundre ich mich? Diese Dinge werden bei allen Menschen in
tiefes Dunkel verdrängt, wieviel mehr also bei Ihnen, die Sie stolz
sind und stets waren. Die Belastung durch den Kastrationsgedanken
ist bei dem Weibe an sich schwerer als bei dem Manne. Bei ihm
gleicht die Tatsache, daß er noch Mann ist und das Szepter der
Männlichkeit, des Herrseins an seinem Leibe trägt, einigermaßen das
106
~-=
Gewicht der Kastration aus ; er hat Wünsche und Ängste, aber er
sieht doch mit eigenen Augen, daß er das Glied noch hat, für das er
sich bangt. Das Mäddien aber sagt sich beim Anblick ihres Mangels :
ich bin schon kastriert; meine einzige Hoffnung ist, daß die Wunde
vernarbt und ein neues Ende dieses Herrenfleiscbes daraus hervor-
wächst. Diese Hoffnung aufzugeben, sich mit dem Gefühl der eigenen
Minderwertigkeit abzufinden, ja dieses Gefühl in ein ehrliches Be-
kenntnis zum Weibsein, in den Stolz und die Liebe zum Weibsein
umzuwandeln, wie Sie es getan haben, erfordert heißeres Ringen, ehe
es zur Verdrängung kommt ; alles muß tiefer versenkt und verschüttet
werden und schon das leiseste Schwanken der verschüttenden Massen
bringt Umwälzungen hervor, die wir Männer nicht kennen. Man sieht
das, und Sie empfanden es selbst bei jeder Periode; die monadiche
Blutung, dieses Kainszeichen des Weibes, rührt den Kastrationskom-
plex auf, aus dem Sumpfe des Unbewußten steigen die verdrängten
Gifte empor und trüben im Verein mit vielen andern Dingen die
klare Naivität des Menschen.
Ist es nicht merkwürdig, daß Europäer bei dem Wort Periode,
Menstruation, Regel sofort an die Blutung denken ? ja, daß im allge-
meinen selbst dieses enge Interesse am Blut noch zu einem rohen
Denken an Schmutz und Gestank, versteckte Beschämung, Schmerz
und Kinderkriegen zusammengepreßt wird? Und hängt doch eine
Welt von Lebenswerten an diesem Phänomen des rhythmischen
Rausches.
Denn das ist das Wesendiche: der Rausch, die Brunst, die Ge-
schlechtslust des Weibes ist während dieser Bluttage hochgradig ge-
steigert, und wie das Tier, das gewiß nicht niederer als der Mensdi
ist, lockt die Frau auf irgendeine Weise in dieser Zeit den Mann zu sich ;
und die Umarmung während der Blutung ist die heißeste, glücklidiste,
wäre es vielmehr, wenn die Sitte nidit ihr Verbot dagegen gesetzt
hätte. Daß dem wirklich so ist, beweist uns eine seltsame Tatsadie :
über drei Viertel aller Vergewaltigungen finden während der Periode
107
I
statt. Mit andern Worten : irgendein geheimnisvolles Etwas am blu-
tenden Weibe zwingt den Mann in eine Raserei, die vor dem Ver-
brechen nicht mehr zurücksteckt. Eva verführt den Adam, so ist es,
war es and wird es immer bleiben. Sie muß ihn verführen, weil sie
günstig blutet, weil sie selbst verlangt. Die Mütter erzählen ihren
Töchtern, die Periode sei des Kinderkriegens wegen da. Das ist ein
seltsamer Irrtum, eine verhängnisvolle Täuschung. Wie denn die
Micht, die Phänomene des Eros auf einen Fortpflanzungstrieb zurück-
zuführen, eine der großen Albernheiten unseres Jahrhunderts ist.
Jeder blühende Apfelbaum, jede Blume und jedes Menschenwerk
widerlegt solche enge Deutung der Ziele Gottnaturs. Von den 20.000
befruduungsfähigen Keimen, mit denen das Mädchen geboren wird,
sind bei ihrer Mannbarkeit nur noch einige Hundert da und von
denen werden, wenn es hoch kommt, ein Dutzend befruditet, und
von den vielen Millionen Samentierchen des Mannes sterben unzählige
Scharen, ohne auch nur in den Schoß des Weibes zu gelangen. Es
wird viel geschwatzt unter den Menschen, und ich darf mich auch
unter die .Menschen rechnen.
Sehen Sie nicht die tollen Zusammenhänge, die wirren Fäden,
die von einem Komplex zum andern laufen: In der Mitte des I iebes-
lebens steht das Blut, die Lust am Blute. Was soll man tun, wenn
man in das Leben und Denken des Menschen hineinsieht ? Soll man
über sie lachen, sie verachten, sie schelten ? Vielleicht ist es besser,
sich der eigenen Torheit bewußt zu bleiben, Zöllner zu sein : Gott
sei mir Sünder gnädig! Aber sagen will ich es doch: Es ist nicht
wahr, daß Grausamkeit pervers ist. Alljährlich feiert die Christenheit
den Charfreitag, den Freudentag. Die Menschheit schuf sich einen
Gott, der litt, weil sie fühlte, daß der Schmerz der Weg zum Himmel
•st, weil das Leiden, die blutige Qual für ihr Empfinden göttlich ist.
Wurden Ihre Lippen nie wundgeküßt? War Ihre Haut nie blut-
unterlaufen vom heißen Saugen eines Mundes? Bissen Sie nie in
einen umschlingenden Arm und ward Ihnen nicht wohl, zerdrückt zu
108
werden ? Und dann kommen Sie mir mit der Narrheit, man dürfe
Kinder nidit sdilagen. Adi, liebste Freundin, das Kind will gesdilagcn
sein, es sehnt sidi danadi, es lechzt nach Keile, wie mein Vater es
nannte. Und in tausendfältiger List sucht es die Strafe herbeizufüliren.
Die Mütter beruhigen ihr Kind auf dem Arm mit sanften Schlägen,
und das Kind lächelt dazu ; sie hat es gewaschen auf der Wickelkom-
mode und küßt es auf die rosigen Bätkdien, die eben noch voll
Dreck waren, und als letzte höchste Freude gibt sie dem strampelnden
Wesen einen Klaps, den es krähend vor Freude empfängt.
Haben Sie sich nie mit Ihrem Liebsten gezankt ? Aber bedenken
Sie doch, wozu Sie es taten und wie alles verlief. Ein Stidi von hüben
und ein verletzendes Wort von drüben, und dann wird es scharfer,
beißend, Hohn, Zorn, Wut. Was wollten Sie doch damit, daß Sie den
Mann mutwillig in Harnisch brachten ? Sollte er wirklich, wie er es
tat, den Hut auf den Kopf setzen, den Stock in die Hand nehmen
und die Tür zuknallen ? Adi nein, er sollte eine Türe öffnen, die in
Ihr eigenes Leibeszimmer führt, er sollte sein Männlein einlassen, es
bedecken mit dem Hut des Mutterschoßes, es krönen mit Kranz und
Krone Ihres Mäddienleibcs, Natur hing ihm einen Stock an, den sollte
er bei Ihnen gebrauchen, sollte Sie sddagen und grausam lieben.
Nennen dodi alle Sprachen das Manneszeichen Rute. Die Grausamkeit
ist unlösbar mit der Liebe verknüpft, und das rote Blut ist der tiefste
Zauber der roten Liebe.
Ohne Periode gäbe es keine Liebe zum Weibe, wenigstens keine,
die das Wort wahr machte, daß das Weib dem Manne zur Gehilfin
gesdiaffen wurde. Und das ist das Wesentlidic. Denn zu Ihrem
Erstaunen und Ihrer Empörung werden Sic finden, daß sidi vieles,
wenn nicht alles im Menschenleben aus der Liebe ableiten läßt, und
die Tatsache, daß Eva nidit zum Kinderkriegen, sondern als Ge-
fährtin dem Adam beigegeben wurde, paßt mir, um dem Gesdirei
der bibelunkundigen Menge wenigstens ein Wort entgegenhalten zu
können.
109
1
So also liegen die Dinge für midi: idi nehme an, daß die
Penode des Weibes, insbesondere auch die Blutung ein Lockmittel
für den Mann ist Und damit stimmt wohl eine kleine Beobachtung
überein, die ich hie und da gemacht habe. Viele Frauen, die lange von
ihren Männern getrennt Maren, bekommen am Tage des Wiedersehens
die Periode. Sie denken, die räumliche Trennung habe doch vielleicht eine
Entfremdung herbeigeführt, und um die zu überwinden, bereitet ihr Es
den Zauber des Liebestrankes, der den Mann in ihre Arme führt
Sie wissen, ich hebe es, die Dinge auf den Kopf zu stellen, und
hier ist es mir hoffentlich gut gelungen. Aber um gerecht zu sein,
will ich Ihnen auch noch zwei andere Absichten des Es bei dieser
seltsamen Maßregel verraten, die bei Ihnen weniger Widerspruch fin-
den werden. Wenn eine Frau ihre Regel hat, kann sie nicht schwan-
ger sein. Das Es legt durch die Blutung dem Gatten lautes und be-
redtes Zeugnis für die Treue seines Weibes ab. „Siehe," spricht es,
«wenn jetzt ein Kind kommt, so stammt es von dir; denn als du
kamst, blutete ich.« Wenn ich nun boshaft wäre und die Männer auf-
hetzen wollte - aber diese Briefe sind ja nur für Ihre Augen be-
stimmt, ich kann Ihnen also meine kleine Bosheit mitteilen, ohne die
Ehegatten mißtrauisch zu machen. Das starke Betonen der Unschuld
ist immer verdächtig, es versteckt sich dahinter das Schuldbekenntnis.
Und wirklich, wenn ich in solchen Fällen nachforschte, fand ich den
Treubruch, der von dem roten Blute verborgen werden sollte. Freilich
nicht ein wirkliches Schlafen mit einem fremden Manne; ich besinne
mich nicht, das jemals erlebt zu haben; aber den Gedankentreubruch,
die halbverdrängte Sünde, die doppelt tief wirkt, weil sie vor der
Tat im Morast der Seele stecken blieb. Sie glauben gar nicht, liebste
Freundin, was für heimlichen Spaß solche Betrachtungen machen. Das
Leben erzielt Kontraste eigener Art Es weiß recht artig mit demsel-
ben Wort Unschuld zu beteuern und Schuld einzugestehen.
Ganz so ist auch die zweite Absicht des Es, von der ich sprach,
ein doppelsinniges Spiel. „Locke den Mann,« so spricht das Es zum
HO
Weibe, „locke ihn mit dem Blute deiner liebe!" Das Weib hordit
dieser Stimme, aber unschlüssig fragt es : Und wenn es mißglückt ?
„Ei," sagt das Es und lacht ein wenig, „dann hast du ja für deine
Eitelkeit die beste Entschuldigung. Denn wie sollte der Mann ein
Weib berühren wollen, das unrein ist ?" In der Tat, wie sollte er es
wollen, da es seit Jahrtausenden verboten ist? Wenn also die Um-
armung stürmisch wird, so ist es gut, doppelt gut, weil sie erfolgte,
trotzdem die Sitte sie verwirft, und bleibt sie aus, so geschieht es,
weil die Sitte sie verwirft.
Mit solcher Rückversicherung arbeitet das Es viel und mit Glück.
So läßt es an dem liebenden Mund, der sich nach dem Kusse sehnt,
ein entstellendes Ekzem erscheinen ; werde ich trotzdem geküßt, so ist
das Glück groß, bleibt der Kuß aus, so war es nicht Mangel an Liebe,
nur Abscheu vor dem Ekzem. Das ist einer der Gründe, warum der
Knabe in der Entwicklungszeit auf der Stirn Eiterbläschen trägt,
warum das Mädchen beim Ball auf ihrer nackten Schulter oder am
Brustansatz Pickel bekommt, die nebenbei auch noch den Blick zu
leiten wissen ; warum die Hand kalt und feucht wird, wenn sie sich
dem Geliebten entgegenstreckt; warum der Mund, der den Kuß be-
gehrt, übel riecht, warum Ausfluß aus den Geschlechtsteilen entsteht,
warum Frauen plötzlich häßlidi und launisch werden und Männer un-
geschickt und kindisch verlegen.
Und damit komme ich ganz nahe an das große Rätsel : Warum
verbot, wenn die Periode die Aufforderung zur Lust ist, unsere
Menschensitte - so viel ich weiß, überall zu allen Zeiten - den Ge-
schlechtsverkelir gerade während der Blutung?
Das ist nun schon das dritte Mal, daß idi in meinen Briefen von
Verbot rede, einmal war es das Onanie verbot, dann das des Inzestes
mit der Mutter und nun das des Geschlechtsverkehres während der
Periode. Wenn so den mächtigsten Trieben, dem der Selbstliebe, dem
zur Liebe zwischen Schöpfer und Geschöpf, und dem zu dem Ge-
schleditsverkclir selbst, starke Hindernisse entgegengesetzt werden,
111
darf man davon Wirkungen erwarten. Und in der Tat, aus diesen
drei Verboten sind Folgen erwachsen, deren Umfang kaum zu er-
messen ist. Wenn Sie gestatten, spiele ich ein wenig damit.
Da ist zunächst das älteste, am frühesten wirkende Verbot, das
der Onanie. Die einmal gekostete Lust verlangt nach neuer Lust, und
da der Weg zur Selbstlust versperrt ist, wirft sich der Trieb mit voller
Kraft auf ähnliche Lustempfindungen, die von fremder Hand, von der
Hand der Mutter beim Waschen und Baden, beim Urinentleeren und
sonstwie willig und unter der Begründung der Notwendigkeit und der
alles erlaubenden Heiligkeit der Mutterliebe gewährt werden. Die
erotische Bindung an die Mutter wird durch das Onanieverbot fester,
die Leidenschaft zur Mutter wädist. Je stärker sie wird, um so stär-
ker wird auch der Widerstand gegen diese rein körperlich geschlecht-
liche Liebe, bis er schließlich in dem ausdrücklichen Verbot der Blut-
schande mit der Mutter gipfelt. Ein neuer Ausweg wird gesucht, der
über die Symbolgleichung Mutter = Gebärmutter zum Drang nach der
Vereinigung mit irgend einem Weibe führt. Die rechte Zeit zu dieser
Vereinigung ist die Brunstzeit der Gebärmutter, die Periode. Aber
gerade in dieser Zeit tritt zwischen den Wunsch und die Erfüllung
ein Nein, das in vielen Kulturen, so in der hebräischen, Gesetzes-
kraft hat. Offenbar braucht Gottnatur solche Verbote, die, je nach
Bedürfnis, so oder so gestaltet werden. Unsere eigene Zeit hat zum
Beispiel, statt den Verkehr während der Blutung zu verbieten, die
Form gewählt, bestimmte Jahre, und zwar die der heißesten Leiden-
schaft, die Pubertätsjahre, durch das Strafgesetzbuch von jeder sexuel-
len Betätigung außer der Onanie auszuschließen. Vielleicht macht es
Ihnen Vergnügen, den Folgen solcher Verbote nachzudenken.
Denn eins ist klar: das Verbot kann wohl den Wunsch ver-
drängen, aus seiner Richtung drängen, aber es tötet ihn nicht. Es
zwingt ihn, nur anderswie Erfüllung zu suchen. Die findet er auch
in tausendfacher Weise, in jeder Lebenstätigkeit, die Sie sich aus-
denken mögen : in Erfindungen von Schornsteinen oder Dampf-
112
schiffen, im Gebrauch des Pfluges oder des Spatens, im Dichten und
Denken, in der Liebe zu Gott und Natur, im Verbrechen und der
herrischen Tat, im Wohltun und in der Bosheit, in Religion und
Gotteslästerung, im Beflecken des Tischtuches und im Zerschlagen
eines Glases, im Herzklopfen und Schwitzen, im Durst und Hunger,
Müdigkeit und Frisdie, Morphium und Temperenz, im Ehebruch und
im Keuschheitsgelübde, im Gehen, Stehen, Liegen, im Schmerz und in
der Freude, in Glück und Unzufriedenheit. Und damit doch endlidi
zum Vorschein kommt, daß ich Arzt bin, der verdrängte Wunsch er-
scheint in der Erkrankung, in jeder Art der Erkrankung, mag sie
organisdi oder funktionell sein, mag sie Lungenentzündung oder
Melancholie benannt werden. Das ist ein langes Kapitel, zu lang, um
es heute weiter zu führen.
Nur noch ein kleines Angclhäkdien will ich Ihnen zuwerfen, auf
das Sie hoffentlich anbeißen.
Was wird aus dem Wunsch des Mannes, mit dem Weibe während
der Periode zusammenzukommen ? Das, was ihn aufregt, ist das Blut.
Der Grausamkeitstrieb, der von Beginn an in ihm ist, wird auf-
lodern. Er erfindet Waffen, ersinnt Operationen, führt Kriege, er-
richtet Schlachthäuser, um Hekatomben von Rindern zu töten, be-
steigt Berge, fährt zur See, sucht den Nordpol oder das Innere Tibets,
Jagt, fischt, schlägt seine Kinder und donnert seine Frau an. Und was
wird aus dem Wunsche des Weibes? Sie knüpft sich eine Binde
zwisdien die Schenkel, treibt unbewußte Onanie unter dem allgemein
gebilligten Vorwande der Reinlichkeit. Und wenn sie reinlich ist, tut
sie die Binde aus Vorsicht schon einen Tag vorher an und trägt sie
aus Vorsidit einen Tag länger. Und wenn das nicht befriedigt, läßt
sie die Blutungen länger dauern oder häufiger erscheinen. Der Trieb
zur Selbstliebe bekommt freiere Bahn und erbaut durch die Begierde
des Weibes die Grundlagen unsrer Kultur, die Reinlichkeit und mit
ihr die Wasserleitungen, Bäder und Kanalisationen, die Hygiene und
die Seife, und weiterhin die Vorliebe für seelische Reinheit, geistigen
8 Groddeck, Das Buch vom Es
113
Adel, innere Harmonie des höher strebenden Menschen, während
der Mann als Anbeter des Blutes in die geheimnisvollen Eingeweide
der Welt eindringt und unablässig am Leben schafft
Es gibt seltsame Läufe im Leben, die mitunter wie Kreisläufe
aussehen. Aber letzten Endes bleibt uns Sterblichen nur eines : zu
staunen.
Herzlichst Ihr
PATRIK TROLL.
13-
ICH BIN IHNEN DANKBAR, LIEBE FREUNDIN, DASS SIE AUF
Kunstausdrücke und Definitionen verzichten. Es wird auch ohne sie
gehen, und ich laufe wenigstens nicht Gefahr, mich zu blamieren.
Denn im tiefsten Geheimnis will ich Ihnen anvertrauen, daß ich
Definitionen, mögen sie von anderen oder von mir stammen, oft
selber nicht verstehe.
Statt der Definitionen will ich Ihnen, Ihrem Wunsche gemäß,
etwas mehr von den Wirkungen des Verkehrsverbotes während der
Periode mitteilen. Und weil mich das Schicksal doch einmal zum Arzt-
sein bestimmt hat, soll es etwas Medizinisches sein. Seit einem Jahr-
hundert ungefähr, seit dem man auch die sehr männlichen mythi-
schen Symbole der Engel ins Weibliche umgestaltet hat, ist es Mode,
den Frauen einen Seelenadel anzudichten, der sich in Abscheu vor
aller Erotik äußert, sie als schmutzig empfindet und besonders die
»unreine" Zeit des Weibes, worunter man die Periode versteht, als
besdiämendes Geheimnis behandelt. Und diese Tollheit - denn wie
soll man anders eine Denkweise nennen, die den Frauen die Sinn-
lichkeit abspricht; als ob die Natur so dumm wäre, dem Teil der
Menschheit, der die Last der Schwangerschaft trägt, weniger Begierde
mitzugeben als dem andern ? Die Tollheit geht so weit, daß die von
Ihnen so hochgepriesenen Lehrbücher allen Ernstes von der Existenz
frigider Frauen spredien, Statistiken darüber veröffentlichen, die sich
auf die von der Zeitsitte erzwungene Heuchelei der Frauen gründen
114
und so das Weib, wissensdiaftlidi unwissend, immer tiefer in Lug
und Trug hineintreiben. Denn, denkt das arme, eingeängstigte Wesen,
das man junge Dame nennt, warum sollte idi, wenn es die Mutter
durchaus verlangt, der Vater es als selbstverständlich voraussetzt und
der Geliebte meine Reinheit anbetet, nidit so tun, als ob idi wirk-
lidi zwischen Kopf und Füßen nidits hätte ? Sie spielt die aufgezwun-
gene Rolle im allgemeinen mit Gesdii<k, ja sie strebt wirklich danach,
das Anerzogene als echt zu leben, und nur die Raserei der vierten
Wodie geht über ihre Kraft. Sie braudit eine Hilfe, ein Band ge-
wissermaßen, das die Maske festhält, und diese Hilfe findet sie in
der Erkrankung, zunädist im Kreuzsdimcrz. Das Vor- und Zurück-
bewegen des Kreuzes ist die Beischlafstätigkeit des Weibes; der
Kreuzsdurierz verbietet diese Bewegung, er verstärkt das Verbot der
Brunst.
Glauben Sie nur ja nidit, liebe Freundin, daß ich mit soldien kleinen
Bemerkungen irgendeine Frage zu lösen beabsiditige. Ich will Ihnen
nur begreiflich madien, was Ihnen so oft unbegreiflich schien, warum
ich immer wieder bei meinen Kranken nach dem Zweck ihrer Er-
krankung frage. Ich weiß nicht, ob die Erkrankung einen Zweck hat,
es ist mir auch gleidigültig. Aber ein soldies Fragen hat sich mir be-
währt, weil es auf irgendeine Weise das Es des Kranken in Bewegung
setzt und nidit selten zum Versdiwinden eines Symptoms beiträgt. Das
Verfahren ist ziemlich roh, pfusdierhaft, wenn Sie wollen, und ich bin
mir bewußt, daß jede Gelehrienbrille geringsdiätzig darüber hinweg-
sieht. Aber Sie haben midi danach gefragt und ich antworte.
Idi pflege im Laufe einer Behandlung zu irgend einer Zeit den
Kranken darauf aufmerksam zu machen, daß aus Menschensamen und
Menschenei stets ein Mensdi wird, nicht ein Hund, nicht eine Katze,
daß eine Kraft in diesen Keimen steckt, die imstande ist, eine Nase,
einen Finger, ein Gehirn zu formen, daß also diese Kraft, die so Er-
staunlidies leistet, wold auch einen Kopfsdimcrz oder einen Durdifall
oder einen geröteten Hals ersdiaffen kann, ja daß ich es nicht für zu
8* 115
kühn halte anzunehmen, daß sie auch eine Lungenentzündung oder
Gicht oder Krebs fabrizieren kann. Ich gehe sogar so weit, dem Kranken
gegenüber zu behaupten, diese Kraft tue das wirklich, mache den
Menschen nach ihrem Belieben krank zu bestimmten Zwecken, wähle
nach ihrem Belieben zu bestimmten Zwecken Ort, Zeit und Art der
Erkrankung aus. Und dabei kümmere ich mich gar nidit darum, ob
ich das, was ich behaupte, selber glaube oder nicht, ich behaupte es
einfach. Und dann frage ich den Kranken, wozu hast du eine Nase?
Zum Riechen, antwortet er mir. Also folgere ich, hat dein Es dir den
Schnupfen gegeben, daß du irgend etwas nicht riechen sollst. Suche,
was du nicht riechen solltest. Und ab und zu findet der Patient wirk-
lich einen Geruch, den er vermeiden wollte, und - Sie brauchen es
nicht zu glauben, aber ich glaube es - wenn er ihn gefunden hat,
verschwindet der Schnupfen.
Die Kreuzschmerzen bei der Periode erleichtern der Frau den
Widerstand gegen ihre Begierde, so behaupte ich. Aber damit soll
nicht gesagt sein, daß derlei Schmerzen nur diesem Zweck dienen. Sie
müssen bedenken, daß in dem Worte Kreuz das Mysterium der Christen-
heit steckt, daß dieses os sacrum, dieser heilige Knochen in sich das
Problem der Mutter birgt. Davon und von anderm will ich hier nicht
sprechen, lieber ein wenig weitergehen. Zuweilen genügt der Kreuz-
schmerz nicht, dann tritt warnend der Krampf und wehenartiger Schmerz
im Unterleibe hinzu, und reicht das nicht aus, so greift das Es zum
Kopfschmerz, um die Gedanken stiUzustellen, zu Migräne, Übelkeit
und Erbrechen. Sie stehen da mitten in seltsamen Symbolen ; denn
Übelkeit, Erbrechen, das Gefühl des Schädelplatzens sind Geburtssinn-
bilder in Kranklieitsform.
Sie verstehen, daß es unmöglich ist, klare Auseinandersetzungen
zu geben, wo alles so bunt ist. Aber eines darf ich wohl sagen : je
schwerer der innere Konflikt der Menschen ist, um so schwerer sind
die Erkrankungen, die ja symbolisch den Konflikt darstellen, und um-
gekehrt, je schwerer die Erkrankungen, um so heftiger ist die Begierde
116
und der Widerstand gegen die Begierde. Das gilt von allen Erkrankungen,
nidit nur von denen der Periode. Reidit die lcidite Form des Un-
wohlseins nidit aus, um den Konflikt zu lösen oder zu verdrängen, so
greift das Es zur schwereren, zum Fieber, das den Mensdien ins Haus
bannt, zur Lungenentzündung oder zum Beinbrudi, die ihn in das
Bett werfen, so daß der Kreis der Wahrnehmungen, die die Begierde
stärker reizen, kleiner wird, zur Olinmadit, die jeden Eindruck aus-
schließt, zur dironisdien Erkrankung, Lähmung, zum Krebs und der
Sdiwindsudit, die langsam die Kraft untergraben, und sdiließlich zum
Tode. Denn nur der stirbt, der sterben will, dem das Leben uner-
träglidi wurde.
Darf ioh wiederholen, was idi sagte ? Die Erkrankung hat einen
Zweck, sie soll den Konflikt lösen, verdrängen oder das Verdrängte
am Bewußtwerden verhindern ; sie soll für die Übertretung des Ver-
botes bestrafen, und das geht so weit, daß man aus der Art und dem
Ort und der Zeit der Erkrankung auf Art, Ort und Zeit der straf-
baren Sünde Rücksdilüsse madien kann. Wer den Arm bridit, hat mit
dem Arm gesündigt oder wollte damit sündigen, vielleidit morden,
vielleicht stehlen oder onanieren ; wer blind wird, will nidit mehr
sehen, hat mit den Augen gesündigt oder will mit ihnen sündigen ;
wer heiser ist, der hat ein Geheimnis und wagt es nicht laut zu
erzählen. DieErkrankung ist aber audi ein Symbol, eineDarstellung eines
inneren Vorgangs, ein Theaterspiel des Es, mit dem es verkündet,
was es mit der Zunge nicht auszusprechen vermag. Mit andern Worten,
die Erkrankung, jede Erkrankung, mag sie nervös oder organisch
genannt werden, und auch der Tod sind ebenso sinnvoll wie das
Klavierspiel oder das Anzünden eines Streichholzes oder das Übcr-
einanderschlagen der Beine. Sic sagen etwas vom Es aus, deudicher,
eindringlicher als die Sprache es vermag, ja als das ganze bewußte'
Leben es kann. Tat tvam asi.
Und wie seltsam sdierzt das Es! Ich nannte vorhin die Schwind-
sucht die Sudit zum Schwinden. Die Begierde soll schwinden, die
117
Begierde nach dem Aus und Ein, nach dem Hin und Her der Erotik,
das sich in der Atmung symbolisiert. Und mit der Begierde schwinden
die Lungen, diese Darsteller des Empfängnis- und Geburtssymbols,
schwindet der Leib, dieses Phallussymbol, muß schwinden, weil die
Begierde in der Erkrankung wächst, weil die Schuld durch die immer
wiederholte symbolische Samenverschwendung des Auswurfs sich ständig
vergrößert, weil die Sucht zu sdiwinden aus der Verdrängung dieser
ins Bewußtsein strebenden Symbole immer wieder neu entsteht, weil
das Es durch die Lungenerkrankung schöne Augen und Zähne, hitzende
Gifte entstehen läßt. Und das grausame Mordspiel des Es wird noch
toller, weil ihm ein Irrtum zugrunde liegt ; denn Sucht hat nichts mit
Sehnsudit zu tun, sondern mit siech. Aber das Es stellt sich, als ob
es über Etymologie nichts wüßte, hält sich wie der naive Griedie an
den Klang des Wortes und benutzt diesen Klang, um die Erkrankung
entstehen zu lassen und weiter zu führen.
Es wäre gar nicht so dumm, wenn die berufenen Leute der
Medizin weniger klug wären und plumper dächten, kindlicher folgerten.
Man täte damit vielleicht Besseres als mit der Erriditung von Lungen-
heilstätten und Beratungsstellen.
Rate ich recht, wenn ich annehme, daß Sie audi vom Krebs ein
kräftig Wörtlein hören mögen ? Wir sind allmählich mit Hilfe unsrer
Beflissenheit, uns von Anatomie, Physiologie, Bakteriologie und Sta-
tistik Ansichten vorschreiben zu lassen, so weit gekommen, daß nie-
mand mehr weiß, was er Krebs nennen soll und was nidit Die Folge
davon ist, daß das Wort Krebs ebenso wie das Wort Syphilis alle
Tage viel tausendmal gedrudit und gesprochen wird ; denn was hören
wohl die Menschen lieber als Gespenstergeschichten ? Und da man an
Gespenster nicht mehr glauben darf, geben die beiden, trotz oder
wegen der vielen Wissensdiaft so gut wie undefinierbaren Namen,
deren assoziative Verwandtschaft grausige Grotesken ersdiafft, einen
guten Ersatz fürs Gruseln. Nun gibt es ein Phänomen im Leben des
Es, das heißt die Angst, und die bemächtigt sich, weil sie aus Zeiten
118
stammt, die jenseits der Erinnerung liegen, der beiden Wörter, um
dem hohen Verstände einen Schabernack zu spielen und das Er-
scheinen der Angst seiner Dummheit erklärlich zu machen. Wenn Sie
noch die Onanieangst hinzurechnen, haben Sie ein in sich zusammen-
hängendes Gewirr von Angst, und das halbe Leben ist Angst.
Aber ich wollte Ihnen etwas von meiner Krebsweisheit erzählen
und merke, daß midi der Zorn vom Wege lockt. Gehen Sie hin zu
Ihrer Nadibarin und Freundin, bringen Sie sie auf das Thema Krebs
- sie wird bereitwillig darauf eingehen, denn sie hat wie alle Trauen
Krebsangst - und fragen Sie sie dann, was ihr zu dem Wortklang Krebs
einfällt. Sie wird Ihnen sofort antworten „Der Krebs geht rückwärts"
und nach einigem Zögern „er hat Sdieren". Und wenn Sie ebenso
frech wie idi am Sdileier des Wissenschaftsmysteriums gezerrt haben,
werden Sie daraus sdiließen : der oberflädilidier liegende Komplex,
aus dem die Krebsangst sich satt frißt, hat etwas mit der Rückwärts-
bewegung zu tun, und tiefer liegt etwas, was mit dem Begriff des
Schneidens zu tun hat. Das ist gar leicht zu erklären, der Mensch
geht eben, wenn er am Krebs erkrankt, an Kraft und Lebensmut
zurück und der Arzt schneidet, wenn er „in den Anfangsstadien" dazu
kommt. Aber bei näherem Eingehen auf die Frage werden Sie er-
fahren, daß die Rückwärtsbewegung im Assoziationszwang mitKindheits-
beobaditungen steht, die frühzeitig verdrängt im Unbewußten fort-
gewirkt haben. Der kleine Engel von Mädchen ist durdiaus nidit
unsdiuldig, wie man anzunehmen beliebt, durdiaus nicht rein, wie die
höheren Menschen es behaupten, genau so wenig wie es die Taube
ist, die man als Symbol der Reinheit und Unsdiuld uns vorführt,
während die Griechen sie der Liebesgöttin beigesellten; das Engelchen
sieht seltsame Bewegungen beim Hund und der Hündin, beim Hahn
und der Henne, und da es nicht dumm ist und aus dem albernen
Verhalten von Erzieherinnen und Müttern sdiließt, daß es vor einem
Geheimnis der Gesdilechtsliebe steht, kombiniert es damit das andre
ihm viel wichtigere Geheimnis des elterlidien Schlafzimmers.
119
So wie es hier die Tierlein tun, denkt es, treiben es audi Papa
und Mama zu den Zeiten, wo idi das merkwürdige Beben des Bettes
fühle und ihr gemeinsames Puff-Puff-Eisenbahnspielen höre. Mit
andern Worten, das Kind kommt auf die Idee, daß der Beisdilaf von
hinten stattfinde, und versenkt diese Idee in die Tiefe, bis sie auf
dem Assoziationswege Rückwärts und Krebs als Angst wieder empor-
steigt. Die Scheren aber — ich brauche es kaum noch zu sagen - führen
direkt und indirekt auf die große Angstfrage der Kastration, der Ver-
wandlung des ursprünglich männlich gedachten Weibes in ein weib-
liches Weib, dem der Penis abgeschnitten, zwischen dessen Beinen
ein zeitweise blutendes Loch geschnitten wurde. Auch dieser Gedanke
stützt sich auf eine Erfahrung, auf eine der ersten des Lebens, auf
das Abschneiden der Nabelschnur.
Von all den Theorien, die über den Krebs aufgestellt worden
sind, ist für midi im Laufe der Zeit nur eine übrig gebheben, die,
daß der Krebs unter bestimmten Erscheinungen zum Tode führt. Was
nicht zum Tode führt, ist kein Krebs, so meine ich. Sie können daraus
entnehmen, daß ich mir keine Hoffnung auf ein neues Verfahren zur
Krebsheilung mache. Aber bei all den vielen sogenannten Krebsfällen
lohnt es sich, auch einmal das Es des Menschen zu befragen.
Immer Ihr
PATRIK TROLL.
14.
LIEBE FREUNDIN, SIE HABEN ES RICHTIG AUFGEFASST, DER
Ödipuskomplex beherrscht des Menschen Leben. Aber ich weiß nicht
recht, wie ich Ihrem Verlangen mehr davon zu hören, nachkommen
soll. Die Sage selbst, wie Ödipus unschuldig-schuldig seinen Vater er-
schlägt und mit der Mutter in blutsdiänderisdiem Verkehr unselige
Kinder zeugt, kennen Sie doch oder finden Sie leicht in jeder Sagen-
sammlung. Daß der Inhalt der Sage: brünstige Leidenschaft des Sohnes
für die Mutter und mörderischer Haß gegen den Vater, typisch ist, für
120
alle Menschen aller Zeiten gültig ist, daß in dieser Sage sich ein tiefes
Geheimnis des Mensdiseins halb enthüllt, sagte ich schon. Und die
Anwendung auf Ihr eigenes Leben, auf meines oder auf das irgend
eines andern Menschen müssen Sie selbst machen. Ich kann Ihnen
höchstens ein paar Geschichten erzählen, vielleicht lesen Sie sich ein
wenig daraus heraus. Ungeduldig dürfen Sie aber nicht werden, das
Leben des Unbewußten ist sdiwer zu entziffern, und Sie wissen, mir
kommt es auf ein paar Irrtümer nicht an.
Vor mehr als zwanzig Jahren - ich war damals noch ein junger
Arzt, tollkühn in der festen Überzeugung, daß mir nichts fehlschlagen
werde - wurde mir ein Knabe gebracht, der an einer seltsamen
Hauterkrankung, Sklerodermie genannt, litt. Er war wegen der Aus-
dehnung seines Leidens, das sidx über große Teile des Bauches, der
Brust, der Arme und Beine erstreckte, von den Autoritäten als dem
Tode verfallen aufgegeben. Ich übernahm frohgemut die Behandlung
nadi den Grundsätzen, die idi von Schweninger gelernt hatte, und da
nach etwa einem Jahr die Sadie zum Stillstand kam, hielt ich es nidit
für einen Raub, Gott gleidi zu sein und meiner - ich darf es sagen
— mühseligen Arbeit die Genesung zuzuschreiben. Was man so Ge-
nesung nennt; wir Ärzte sind darin, wenn es sich um die Beur-
teilung unsrer eigenen Erfolge handelt, weitherzig. Letzten Endes
blieb noch genug zu wünschen übrig; abgesehen von den Narben,
die der Prozeß zurückgelassen hatte und die Sie sidi kaum groß ge-
nug vorstellen können, waren die Ellbogengelenke so kontrakt, daß
die Arme nicht vollständig ausgestreckt weiden konnten, und das eine
Bein war und blieb dünn wie ein Stock. Auch die Reizbarkeit des
Herzens, die sich gelegentlich in rasender Sdinelligkeit der Sdiläge
und in Angstzustanden äußerte, M-ie fast ununterbrochener Kopf-
sdimerz sowie eine Reihe von neurotisdien Beschwerden ließen sich
nicht beseitigen. Immerhin, der Knabe blieb am Leben, machte das
Gymnasium durch, war eine Reihe von Jahren Offizier und ging
dann zu einem akademisdien Beruf über. Von Zeit zu Zeit erschien
121
er für einige Wochen bei mir, um sich aufzufrischen. Inzwischen
wurde er seiner vielen Beschwerden halber von dem und jenem Arzte
behandelt, um schließlich bei einem bekannten Berliner Herrn, dessen
Namen Ihnen und mir Achtung einflößt, zu bleiben. Einige Jahre
hörte ich nichts von ihm, dann kam der Krieg und wenige Monate
später traf er wieder bei mir ein.
Diesmal sah das Krankheitsbild seltsam aus. Kurz nach Kriegs-
ausbrudi war Herr D. - so wollen wir ihn nennen - mit starkem
Schüttelfrost und Fieber bis zu 40° erkrankt. Das dauerte eine Weile,
ohne daß man dahinter kam, was eigentlich los war. Endlich schien
sich die Sache zu klären. Die Temperaturen sanken des Morgens
unter 36 , um gegen Abend auf 39 bis 40 zu steigen. Das Blut
wurde auf Malaria untersucht, einmal, sechsmal, ein paar Dutzend-
mal, Plasmodien wurden nicht gefunden und auch Chinin und Ar-
senik, die man vorsiditshalber gab, blieben wirkungslos. Inzwischen
wurde ohne Ergebnis nach Tuberkulose gefahndet und eine alte
Syphilisdiagnose, derentwegen er vor Jahren „antiluetisch" - wie
schön das klingt - behandelt worden war, wieder aufgewärmt. Der
berühmte „Wassermann" - Sie wissen wohl, was das ist, - ergab
ein zweifelhaftes Resultat und schließlich war man so klug wie zuvor.
Plötzlich war das Fieber fort, der völlig heruntergekommene Körper
fing an sich zu erholen, die Uniformen wurden instand gesetzt und
alles schien gut. Herr D. ging wieder aus, verfaßte ein Gesuch an
sein Ministerium, das ihn für unentbehrlich erklärt hatte, ihm die
freiwillige Teilnahme am Feldzug zu gestatten, erhielt die Erlaubnis
und erkrankte am selben Tage mit Fieber- und Halsschmerzen. Die
zugezogenen Ärzte schauten ihm in den Mund, fanden an Mandeln,
Zäpfchen und Rachenwand Geschwüre, und da das Fieber verschwand'
die Geschwüre aber weiter um sich griffen, ein verdäditiger Aus-
schlag erschien und einige Drüsen gefällig genug waren, angeschwollen
zu sein, stellten sie ein Rezidiv der angeblich früher überstandenen
Syphilis fest, was ich ihnen nicht verdenken kann. Die Wasser-
122
mannsdic Probe war freilich negativ, blieb es audi, aber - nun kurz
gesagt, es wurde Salvarsan und Quecksilber gegeben. Der Erfolg war
niederschmetternd. Statt einer Besserung trat von neuem das rätsel-
hafte Fieber auf, zeitweise begleitet von völliger Bewußtlosigkeit, der
Kranke verfiel mehr und mehr und sdiließlidi ließ er sich unter Aus-
nützung der letzten Kräfte zu mir transportieren.
Ich war damals in bezug auf die Abhängigkeit des organischen
Leidens vom Es meiner Sache nidit so sicher, wie ich es jetzt bin,
glaubte auch, von irgend weldien Bosheiten meines Unbewußten ver-
leitet, bei einem Menschen, der anderthalb Jahrzehnte lang von mir
in bestimmter Richtung behandelt worden war, von dieser Richtung
nicht abweichen zu können, ohne sein Vertrauen zu verlieren; kurz,
ich behandelte ihn, wie er es von mir gewohnt war, mit sehr heißen
lokalen Bädern, Massage, sorgfältiger Diät usw. Das schloß den Versuch
einer psydiisdien Beinflussung nicht aus, nur ging dieser Versuch in
der alten Richtung, dem Kranken durch die autoritative Suggestion
zu helfen. Zunädist erklärte ich mit voller Überzeugung und bestimmt
genug, um keinen Widerspruch aufkommen zu lassen, daß von Syphilis
keine Rede sein könne ; und dann zeigte idi dem Kranken, daß sein
Leiden mit seinem Wunsch, in das Feld zu gehen, zusammenhinge.
Er wehrte sich eine Zeitlang gegen diese Annahme, gab aber bald zu,
daß es so sein könne und erzählte mir ein paar Einzelheiten der
letzten Monate, die meine Ansicht bestätigten.
Die Sache schien gut zu verlaufen, die Kräfte hoben sich, Herr D.
begann in der Umgegend umherzustreifen und sprach wieder davon,
sich freiwillig zum Heeresdienst zu melden. Damit war es ihm ernst;
er stammte aus einer alten Offiziersfamilie und war selbst mit Passion
Offizier gewesen. Eines Tages trat wieder Fieber auf, wieder in der
alten Weise mit niedrigen Morgentemperaturen und überaus hohen
abendlichen Steigerungen, und gleidizeitig kamen auch von neuem die
merkwürdigen, Symptome, die deutlich den Charakter der Syphilis
trugen. Es bildete sidi ein Geschwür am Ellenbogen, dann, nachdem
123
das abgeheilt war, eins an dem Unterschenkel, dann kamen Geschwüre
im Hals, dann wieder am Ellenbogen und Unterschenkel und schließlich
am Penis. Dazwischen taudite ein roseolaartiger Ausschlag auf, kurz,
es geschahen allerlei Dinge, die mich schwankend madaten, ob nicht
doch etwa Syphilis da sei. Die Untersuchungen nach Wassermann, die
von der Universitätsklinik ausgeführt wurden, gaben widersprechende
Resultate, bald lautete das Urteil bestimmt negativ, bald hieß es, es
sei unbestimmt Das zog sich drei Monate lang hin. Plötzlich, und ohne
daß ich irgendwie finden konnte warum, verschwand die ganze Er-
krankung. Herr D. blühte auf, nahm von Tag zu Tag an Kraft und
Gewicht zu und alles war gut. Ich gab ihm die vorgeschriebenen
Impfungen gegen Pocken, Cholera und Typhus, er hing sich den Ruck-
sack auf den Rücken und verabschiedete sich von mir, um nach einer
dreitägigen Fußwanderung durch den Schwarzwald sofort sich bei seinem
Bezirkskommando zu melden. Am dritten Tage der Wanderung brach
das Fieber von neuem aus, Herr D. kehrte für einige Tage zu mir
zurück, ging dann aber nach Berlin, um dort unter andrer ärztlicher
Führung noch einmal sein Heil zu erproben.
Im Sommer 1916, fast 16 Monate später, kam er wieder. Er war
lange Zeit in Berlin behandelt worden, war dann nach Aachen zu
dem Gebrauch der dortigen Quellen geschickt worden, nach Sylt, in
das Gebirge, nach Nenndorf, und hatte schließlich wieder Wochen und
Monate schwer krank in Berlin gelegen. Sein Zustand war derselbe,
häufige stürmische Fieberanfälle, Geschwüre, Ohnmächten, Herz-
beschwerden usw. Mir fiel auf, daß sein altes Leiden der Sklerodermie
an einzelnen Stellen wieder eingesetzt hatte und daß die neurotischen
Symptome zugenommen hatten.
Inzwischen war mit mir selbst eine große Veränderung vor sich
gegangen. W T ährend meiner Lazarettätigkeit hatte ich oft die Wirkung
der Psychoanalyse auf die Heilung von Wunden und organischen Er-
krankungen gesehen, meine Privatpraxis hatte mir einreihe Erfolge
gebracht, ich hatte mir eine für mich brauchbare Technik angeeignet,
124
kurz ich trat an die Behandlung des Herrn D. mit dem festen Ent-
sdiluß heran, midi um Diagnose, physikalisdie oder medikamentöse
Therapie nidit zu kümmern, sondern ihn zu analysieren. Der Erfolg
kam, ein Symptom nadi dem andern versdiwand, nadi einem halben
Jahr ging Herr D. als Infanterieoffizier ins Feld, wo er zwei Monate
später fiel. Ob seine Genesung von Dauer gewesen wäre, vermag ich
nidit zu entscheiden, da der Tod dazwisdien getreten ist. Nach dem
jetzigen Stand meines Wissens glaube ich, daß die Behandlungszeit
zu kurz war und daß der Kranke wahrscheinlidi Rückfälle bekommen
hätte, wenn er länger gelebt hätte. Idi bin aber überzeugt, daß eine
vollständige Heilung bei ihm möglidi gewesen wäre. Die Frage ist
schließlich gleichgültig, ich erzähle Ihnen diese Geschichten nicht des
Erfolgs wegen, sondern um Ihnen einen Begriff von der Wirkung des
Ödipuskomplexes zu geben.
Über die Behandlung teile ich nur mit, daß sie nicht leidit war.
Immer von neuem tauditen Widerstände auf, die bald an meinen
Vornamen Patrik als den eines lügnerischen Iren anknüpften, bald
meine Gummisdiuhe oder eine liederlich geknüpfte Krawatte zum
Vorwand nahmen ; die Krawatte war ihm ein schlaff und lang herab-
hängender Hodensack, wie er ihn einst bei seinem alten Vater ge-
sehen hatte, die Gummisdiuhe rührten alten Ärger aus der Kindheit
auf. Dann wieder versdianzte er sich hinter meinem zweiten Vor-
namen Georg, der ihn an eine Romanfigur aus Robert dem Schiffs-
jungen erinnerte, an einen Verführer und Dieb ; dabei tauchte nach
und nach eine ganze Horde George auf, die alle schlechte Kerle
waren, bis endlich der eigentliche Übeltäter in der Gestalt eines
Mannes erschien, von dem D. als Gymnasiast eine Olirfeige bekom-
men hatte, ohne dafür Rechenschaft zu verlangen. Am längsten zu
schaffen machte ihm und mir eine meiner damaligen Sprechgewohn-
heiten; ich pflegte ab und zu die Worte „offen gestanden" zu ge-
brauchen oder auch „Ich muß Dinen offen gestehen". D. schloß daraus,
daß ich löge, eine Folgerung, die gar nicht so dumm war.
125
Der Widerstand des Kranken gegen den Arzt ist das Objekt
jeder Behandlung. Das Es wünscht durchaus nicht von vornherein
gesund zu werden, so sehr auch die Krankheit den Kranken plagt.
Im Gegenteil, das Bestehen der Krankheit beweist, trotz aller Ver-
zierungen, Klagen und Anstrengungen des bewußten Menschen, daß
dieser Mensch krank sein will. Das ist wichtig, Liebe. Ein Kranker
will krank sein und er wehrt sich gegen die Genesung, etwa wie ein
verzogenes kleines Mädchen, das seelengern zum Ball gehen möchte,
doch sich mit allerlei Getue dagegen wehrt hinzugehen. Es lohnt sich
immer, sich die Einwände, die solch ein Widerstand gegen den Arzt
hat, genau anzusehen; sie verraten allerlei üher den Kranken selbst.
So war es auch bei D. Die schlaffen Hoden und die Gummischuhe
des Weichlings erregten bei ihm Anstoß, weil er selber in hohem
Grade das Impotenzgefühl hatte. Das Lügen, wie er es in „Panik"
und „offen gestanden" angriff, verabscheute er wie alle ehrenhaften
Leute, aber wie alle ehrenhaften Leute belog er sich selbst - und
damit Andre - ununterbrochen. Mit den Vornamen hatte er es so
arg, weil er seinen, eigenen, „Heinrich" haßte ; er ließ sich statt dessen
von seinen Intimen Hans nennen, weil irgend ein Heldenvorfahr
seines Geschlechts diesen Namen geführt hatte. Auch darin fühlte er
die Lüge, denn sein dumpfes Gefühl vom Es belehrte ihn, daß er
durchaus kein Held war, daß seine Krankheit Schöpfung seines ängst-
lichen Unbewußten war. Georg schließlich war ihm unerträglich, weil
er einstmals wie der Dieb aus Robert dem Schiffsjungen - die Erin-
nerung daran kam unter heftigen Krankheitssymptomen und Fieber
- seinem Vater zwei Medaillen entwendet hatte. Medaille aber führte
ihn zu dem Wort Medaillon und ein Medaillon mit dem Bild seiner
Mutter trug sein Vater und diesem Medaillon galt in Wahrheit
sein Diebstahl. Er wollte dem Vater die Mutter stehlen, ödipus.
Noch eine Seltsamkeit muß ich erwähnen. D. trug eine ganze
Reihe von weit ausgreifenden Komplexen mit sich herum, die alle
letzten Endes mit dem Ödipuskomplex und mit der Impotenzidee
126
zusammenhingen. Wurde während der Behandlung der Ödipuskomplex
an irgend einer empfindlichen Stelle gepackt, so erschien das Fieber,
kam man der Impotenz zu nahe, so traten die Syphilissymptome her-
vor. D. gab mir dafür folgende Erklärung: Meine Mutter ist mir
im Laufe der Jahre ganz gleichgültig geworden. Das besdiämt mich
und ich suche, so oft ich genötigt bin, angestrengt an sie zu denken,
die alte Glut wieder anzufachen. Und weil das seelisch nidit gelingt,
entsteht die körperliche Hitze. Meinem Vater, der alt war, als er mich
zeugte, nach meiner Ansicht zu alt, schiebe ich alle Schuld meiner
Impotenz zu. Und da ich ihn, der längst tot ist, nicht persönlich be-
strafen kann, so strafe ich ihn im Sinnbild, im Erzeuger, in dem, der
erzeugt, in meinem eigenen Geschlechtsteil. Das hat den Vorteil, daß
ich mich selbst für die Lüge mitbestrafe ; denn nidit mein Vater,
sondern ich selber trage die Schuld meiner Impotenz. Und sdiließlich,
ein Syphilitiker darf impotent sein, es ist gut für ihn und die Frauen.
Sie sehen, D. hatte ein wenig Trollheit in sich; das hat mir an ihm
gefallen.
Und nun der Ödipuskomplex. Im Vordergrund steht die Leiden-
schaft für die Mutter. Die Masse der Einzelheiten lasse ich beiseite ;
als Probe gab ich Ihnen den Medaillendiebstahl, der symbolisch den
Raub der Mutter bedeutet. Statt kleiner Züge wähle idi einiges aus,
was Ihnen die tiefen Wirkungen des Es zeigen wird. Zunädist ist da
die andauernde Krankheit D.'s, die von Zeit zu Zeit zu schweren lang-
wierigen Erkrankungen ausartete. Der Kranke bedarf der Pflege, der
Kranke erzwingt sich die Pflege. Jede Erkrankung ist eine Wieder-
holung der Säuglingssituation, entspringt der Sehnsucht nach der Mutter,
Jeder Kranke ist ein Kind, jeder Mensch, der sich des Kranken an-
nimmt, wird zur Mutter. Die Kränklichkeit, die Häufigkeit und Dauer
der Erkrankungen sind ein Beweis, wie tief der Mensch noch an die
Mutterimago gefesselt ist. Sie können meist ohne die Gefahr eines
Irrtums in Ihren Schlüssen noch weitergehen: wenn jemand krank
wird, ist es wahrscheinlich, daß er irgendwie in nächster zeitlidier
127
Nähe des Krankheitsbeginnes überaus stark an die Mutterimago
erinnert wurde, an die Imago der ersten Säuglingswochen. Ja, ich
scheue mich nicht, auch hier das Wort „immer" hinzuzusetzen. Es ist
immer so. Und es gibt nicht leid* einen stärkeren Beweis für jemandes
Leidenschaft zur Mutter, für seine Abhängigkeit vom Ödipuskomplex,
als dauernde Kränklichkeit.
Diese Leidenschaft hat noch etwas Andres bei D. hervorgebradit,
was man nicht selten beobaditen kann. Der Herr, der Eigentümer der
Mutter ist der Vater. Will der Sohn Herr, Eigentümer, Geliebter der
Mutter werden, so muß er dem Vater ähnlich werden. Das ist D.'s
Fall. Ursprünglich - ich habe Kinderbilder von ihm gesehen - war
keine Rede von Ähnlichkeit mit dem Vater, auch sein Wesen hatte
nach Aussage der Mutter nichts mit dem Vater gemein. In den zwanzig
Jahren, die ich den Kranken gekannt habe, konnte man von Jahr zu
Jahr beobachten, wie in Gebärde, Haltung, Gewohnheiten, in Gesicht
und Körperbildung, im Denken und Wesen langsam eine Annäherung
an den Vater stattfand. Nicht das Es änderte sich, sondern darüber,
so daß nur noch hie und da der eigentliche Menschenkern zum Vor-
schein kam, bildete sich ein neues Es der Oberfläche oder wie Sie es
sonst nennen wollen und dieses neue Es - das ist das Beweisende -
schwand mit der fortschreitenden Genesung. Der echte D. kam wieder
zum Vorschein. Am deudichsten sprach sich die Anähnelung an den
Vater in dem frühzeitigen Altern D.'s aus. Schon mit 30 Jahren war
er vollkommen weiß. Ich habe dieses Ergrauen zugunsten der Vater-
maske mehrfach entstehen und audi wieder verschwinden sehen. Wie
es bei D. geworden wäre, weiß ich nicht. Er starb zu früh.
Ein drittes Merkmal seiner Leidenschaft zur Mutterimago war seine
Impotenz, wie denn beim Unvermögen des Mannes immer die erste
Frage sein muß : wie steht dieser Mensch zu seiner Mutter. D. hatte
die charakteristische Form der Impotenz, wie sie Freud beschrieben
hat; er teilte die Frauen in Damen und Huren ein. Der Dame, das
ist der Mutter gegenüber, war er impotent, mit der Hure vermochte
128
er in Geschlechtsverkehr zu treten. Aber das Bild der Mutter wirkte
mächtig in ihm und so erfand sein Es, um sidi gänzlich vor jedem
Inzest, selbst vor dem im Bilde der Dirne zu sdiützen, die syphilitische
Anstediung. Daß sidi jemand unter dem Druck des Ödipuskomplexes
bei irgendeinem Frauenzimmer infiziert, habe ich oft gesehen. Daß
aber diese Ansteckung vom Es erfunden und nun jahrelang im Theater
mit Syphilis- oder Trippersymptomen gespielt wird, sdieint selten zu
sein. Idi habe es bisher nur zweimal bestimmt gesehen, bei D. und
bei einer Frau.
Weiter, der Beginn der Erkrankung, - die ersten Symptome sind
immer beachtenswert, sie verraten viel von den Absichten des Es -
der Beginn der Erkrankung war die Sklerodermie des linken Beines, die
dann auf den rediten Arm übergriff. Was am linken Beine vor sich geht,
sagt mir in der närrischen Sprache, die idi mir zuredit gemacht habe :
dieser Mensdi wünscht einen bösen, unrediten, linken Weg zu gehen,
aber sein Es hindert ihn daran. - Wenn der redite Arm irgendwie
erkrankt, so bedeutet das : dieser redite Arm will etwas tun, woran
das Es Anstoß nimmt, deshalb wird er in seinem Tun gelähmt.
- Kurz vor dem Beginn des Beinleidens fällt ein wichtiges Erlebnis,
D.'s Mutter wurde schwanger. Er war damals 15 Jahre alt, will aber
nichts von dieser Schwangerschaft bemerkt haben ; das ist ein sicheres
Zeichen, daß tiefe Erschütterungen seines Wesens ihn zu verdrängen
nötigten. Dieser Kampf des Verdrängens fällt mitten in die Geschlechts-
entwicklung des Knaben und verbindet sich mit einem zweiten Ver-
drängungskonflikt sexueller Art. Denn ebenso, wie der Kranke be-
hauptete, von der Geburt seines Brüderdiens völlig überrascht worden
zu sein, behauptete er auch, daß er damals überhaupt keine Kennt-
nisse vom Geschleditsverkehr gehabt habe. Beides ist unmöglich. Das
letztere deshalb, weil der Knabe gerade zur selben Zeit eine
Kaninchenzucht betrieb und stundenlang den Geschleditsspielen der
Tiere zusah, ersteres weil er selbst sehr bald dahinterkam, daß er
schon während der Schwangerschaft die Mordideen hatte, von denen
9 G r o d d o c k, Das Buch vom Es 129
sofort die Rede sein wird. Aus der Idee, diesen spätgebornen Bruder
zu beseitigen, leitet sich nämlidi zum Teil das Übergreifen der Sklero-
dermie auf den rechten Arm her. Die Idee, unbequeme Menschen zu
töten, begleitet uns alle durch unser ganzes Leben und unter un-
günstigen Verhältnissen wird Wunsch und Abscheu zu töten so stark,
daß das Es sich entschließt, das Mordwerkzeug des Menschen, den
rechten Arm, lahm zu legen. Ich glaube, ich erzählte Ihnen schon,
weshalb diese Mordideen so verbreitet sind, zu Ihrem Nutz und
Frommen will ich es aber wiederholen: Das Kind lernt den Begriff
des Todes durch das Spiel kennen. Es schießt und sticht nach den
Erwachsenen, der fällt um und stellt sich tot, um kurz darauf zum
Leben zu erwachen. Ist es nicht seltsam, wie das Es der Kindesseele
die schwersten Probleme als Nichtigkeiten, als Spaß darzustellen weiß,
wie es aus dem Sterben ein Amüsement für das Kind zu macheu
versteht ? Und ist es ein Wunder, daß dieser mit den schönsten Er-
lebnissen des Kindesalters verwobene heitere Todeseindruck mit der
raschen Wiederbelebung sich in das Gemüt eingräbt und als be-
quemer Gedanke für später bereit liegt? Um zum Schluß zu kommen,
die Erkrankung des Beins und des Arms entstanden auf Grund
sexueller Kämpfe, die in den Bereich der Mutter-Kinderotik ge-
hörten.
Ich komme nun zu dem seltsamsten Teil dieser seltsamen Krank-
heit, zu der Art, wie die Syphilisidee aus dem Mutterkomplex ent-
sprang und wie sie gerade dieses Ursprungs wegen so mächtig werden
konnte, immer und immer wieder Syphilissymptome zu produzieren
so zu produzieren, daß alle behandelnden Ärzte, mich eingeschlossen
getäusdit wurden. Ich fragte D., ob er denn wisse, von wem er an-
gesteckt worden sei. „Ich weiß überhaupt nicht, ob ich angesteckt
worden bin," erwiderte er, „ich vermute es." „Und warum vemuten
Sie es ?" „Weil ich einmal mit einem Mädchen geschlechtlich verkehrt
habe, das einen Schleier trug.« Als er mir den Zweifel am Gesicht
ablas, fügte er hinzu : „Alle Straßendirnen, die einen Schleier tragen,
130
i
sind syphilitisch." Das «rar mir neu, idi begriff aber, daß der Ge-
danke nicht albern war, und fragte deshalb weiter: „Von diesem
Mäddien also glauben Sie angesteckt zu sein?" „Ja", sagte er, fuhr
aber gleich fort : „idi weiß es nicht, weiß es überhaupt nicht, ob ich
angesteckt worden bin. Später gewiß nicht, denn ich bin nie wieder
nüt einer Frau zusammengekommen. Ich hatte am andern Morgen
Angst, ging zum Arzt und ließ mich untersuchen. Er schickte midi
fort, ich solle in einigen Tagen wiederkommen, das tat ich, er schickte
mich wieder fort und so ging es eine ganze Zeit, bis er mir halb
lächelnd, hall) grob erklärte, ich sei ganz gesund, von einer An-
steckung sei keine Rede. Seitdem bin ich viele, viele Male von ver-
schiedenen Ärzten untersucht worden. Keiner hat etwas gefunden."
„Aber", sagte idi, „Sie sind doch, ehe Ihre Kriegskrankheit begann,
antiluetisdi behandelt worden." „Ja, auf meine Bitten. Idi glaubte,
meine Kopfschmerzen, mein krankes Bein, meine Arme, all das könne
nur von Syphilis herrühren. Ich habe alles, was über Sklerodermie
geschrieben worden ist, gelesen und einige bringen es mit Syphilis
zusammen." „Aber Sie waren damals 15 Jahre alt, als die Krankheit
begann." „Mit hereditärer Syphilis", unterbradi er midi. „Im Ernst
habe idi nie an eine Ansteckung geglaubt, aber ich dachte,
mein Vater sei syphilitisch gewesen." Er sdiwieg eine Zeit-
lang und dann sagte er: „Wenn idi mich redit besinne, trug das
Mädchen, von dem ich Ihnen vorhin sprach, gar keinen Schleier.
Im Gegenteil, ich weiß bestimmt, daß sie nicht das geringste Fleckdien
am ganzen Körper hatte. Ich habe sie nackt ausgezogen, habe die
ganze Nacht elektrisches Licht gebrannt, habe sie nackt vor dem
Spiegel gesehen, habe ihr Führungsbuch gelesen, kurz, es ist unmög-
lidi, daß sie krank war. Die Sache ist die, daß ich schreckliche Angst
hatte, hereditär syphilitisch zu sein. Deshalb ging ich zum Arzt, log
ihm die Geschichte von dem Schleier vor, weil ich ihm meinen Ver-
dacht meines Vaters wegen nicht mitteilen wollte, und habe sie dann
so oft erzälilt, daß ich sie schließlich selbst glaubte. Aber jetzt, bei
9* 181
aU dieser Analyserei, weiß ich bestimmt, daß idi das Mäddien nie für
syphilitisch gehalten habe und daß sie keinen Sdileier trug."
Das alles kam mir seltsam vor, genau so wie es Ihnen wohl auch
geht. Idi wollte und hoffte Klarheit zu gewinnen und fragte Herrn
D., was ihm zum Worte Sdüeier einfiele. Statt einer Antwort gab er
sofort zwei : „Der Witwenschleier und die Raffaelsdie Madonna mit
dem Schleier." Von diesen beiden Einfällen aus hat sich über Wochen
lünaus ein langes Assoziationsspiel hingezogen, von dem ich Ihnen
nur das kurze Resultat mitteile.
Der Witwenschleier führte sofort auf den Tod des Vaters und
auf die Trauerkleidung der Mutter. Es stellte sich heraus, daß D. im
Verlaufe seiner Verdrängungskämpfe gegen den Inzestwunsch seine
Mutter mit der Dirne identifiziert hatte, daß er dem Mädchen einen
schwarzen Schleier andichtete und sie in der Phantasie syphilitisch
machte, weil sein Unbewußtes glaubte, auf diese Weise leichter mit
dem Inzestwunsch fertig zu werden. Die Mutter sollte und mußte
aus seiner Erotik beseitigt werden; wer Syphilis hatte, den konnte
man nicht begelu-en ; also mußte die Mutter syphilitisch sein. Das
aber ging nicht, - wir werden gleich sehen weshalb - also mußte eine
Stellvertreterin gefunden werden, was mit Hilfe der Schleierassozia-
tion gelang, und zur Verstärkung der Abwehr wurde der Gedanke
ausgearbeitet, der Vater sei syphilitisch gewesen.
Daß sich der Kranke an den Gedanken der mütterlichen Syphilis
nicht herantraute, ist wohl jedem verständlich ; aber es kam bei D.
noch eine Idee hinzu, die in der Assoziation Madonna mit dem
Schleier zum Vorschein kommt. Mit dieser Assoziation macht D. seine
Mutter unnahbar, er gibt ihr die Unbeflecktheit, er schaltet damit den
Vater ganz aus und hat noch dazu den Vorteil, sich selbst für jung-
fräulich geboren, für göttlichen Ursprungs halten zu können. Das Un-
bewußte arbeitet mit erschreckenden Mitteln. Um den Inzestwunsch
zu verdrängen, vergöttlichte es die Mutter gleichsam im selben Atem-
zug, in dem es sie zur syphilitischen Dirne erniedrigte.
132
Sie haben hier, wenn Sie wollen, eine Bestätigung dessen, was
ich Ihnen so oft glaubhaft zu machen suchte, daß wir alle uns gött-
lichen Ursprung anmaßen, daß uns der Vater wirklich Gottvater ist
und die Mutter eine Gottesmutter. Es geht nidit andere, der Mensch
ist nun einmal so gemacht, daß er zu Zeiten das glauben muß, und
wenn heute die gesamte katholische Religion mitsamt der Jungfrau
Maria und dem Christkind versdiwände und es bliebe keine Erinne-
rung daran, nicht eine, so würde morgen ein neuer Mythus da sein,
mit derselben Vereinigung des Gottes mit der Menschin und der-
selben Geburt des Gottessohns. Religionen sind Sdiöpfungen des Es, und
das Es des Kindes kann weder den Gedanken des Liebesverkehrs zwischen
Vater und Mutter ertragen, nodi vermag es auf die Waffe der Heilig-
sprechung der Mutter im Kampf mit dem Inzestwunsch zu verzichten, noch
endlich kann es, da es - Fcrenczi lehrte es uns - vom Mutterleib her
sich für allmächtig hält, den Gedanken Gott gleich zu sein entbehren.
Religionen sind Sdiöpfungen des Es. Sdiauen Sie auf das Kreuz
mit seinen ausgebreiteten Armen und Sie werden mir beipflichten.
Der Gottessohn hängt und stirbt daran. Das Kreuz ist die Mutter,
und an unserer Mutter sterben wir alle, ödipus, ödipus. - Aber
beachten Sie wohl: wenn das Kreuz die Mutter ist, so fahren die
Nägel, die den Sohn an sie heften, audi ihr in das Fleisch, sie fühlt
denselben Sdimerz, dasselbe Leid wie der Sohn, und sie trägt auf
ihren starken Muttcrarmen sein Leiden, seinen Tod mit, fühlt ihn
mit. Mutter und Sohn, darin ist alle Trauer der Welt gesammelt, alle
Tränen und Klagen. Und der Dank, den die Mutter erntet, ist das
harte Wort : „Weib, was habe idi mit dir zu sdiaffcn ?" Es ist Men-
schenschicksal so, und das ist keine Mutter, die zürnt, weil der Sohn
sie zurückweist. Es muß so sein.
Noch ein tiefer, allgemein mensdilicher Konflikt, der mit einer
seiner Wurzeln sich vom Ödipuskomplex nährt, klingt in D.'s Kranken-
geschichte an, das ist die Frage der Homosexualität. Wenn er trunken
sei, so erzählte er mir, durdistreife er die Straßen Berlins, um auf
133
Päderasten zu fahnden, und wer es audi sei und wo er ihn auch
finde, er schlüge ihn halb tot. Das war die eine Mitteilung. In vino
veritas. Sie ist nur verständlich, wenn man sie mit der zweiten zu-
sammenhält, die einige Wochen darauf erfolgte. Ich traf den Kranken
eines Tages in hohem Fieber und er erzählte mir, daß er am vor-
hergehenden Abend durch den Wald gegangen sei, da habe er plötz-
lich die Idee gehabt, es würden Strolche über ihn herfallen, ihn
knebeln und durch den After mißbrauchen, um ihn dann mit nacktem,
geschändetem Hintern an einen Baum zu binden. Das sei eine häufige
Phantasie bei ihm und immer folge ihr Fieber. Angst ist Wunsch, da
ist kein Zweifel. Der Haß, mit dem D. in der Trunkenheit die Pä-
derasten verfolgt, ist verdrängte Homosexualität, die Angstphantasie ist
es, und die Höhe des Fiebers läßt ermessen, welche Glut dieser homo-
sexuelle Wunsch hat. Ich komme auf die Angelegenheit der Homo-
sexualität ein andermal zurüde. Hier möchte ich nur das eine sagen,
daß unter den verschiedenen Gründen, die zur Gleichgeschlechtlichkeit
führen, einer nie außer acht gelassen werden darf, das ist die Ver-
drängung des Mutterinzests. Der Mensch kämpft einen harten Kampf,
um sidi von der Erotik der Mutter zu lösen, und es ist kein Wunder,
wenn bei diesem Kampf alle bewußten Neigungen für das weibliche
Geschlecht mit in die Verdrängung gerissen werden, so daß sdiließ-
lich bei dem und jenem das Weib ganz aus der Sexualität ausge-
schlossen wird. In dem Falle des Herrn D., der Angst hat, einer
päderastischen Vergewaltigung zum Opfer zu fallen, offenbart sich
deutlich noch eine zweite Ursache der gleichgeschlechtlichen Liebe, die
er verdrängt hat, die Neigung zu seinem Vater. Denn nur daraus
kann diese Angst entsprungen sein, daß D. zu irgend einer Zeit
seines Lebens den heißen Wunsch gehabt hat, Weib zu sein, das
Weib seines Vaters. Bedenken Sie, liebe Freundin, woher perverse
Laster stammen, und Sie werden weniger hart urteilen.
Damit bin idi bei dem andern Teil des Ödipuskomplexes angelangt,
bei D.'s Verhältnis zu seinem Vater. Ich muß hier gleich auf etwas
134
aufmerksam madien, was für viele Menschen charakteristisch ist. D.
war fest davon überzeugt, daß es für ihn nichts Höheres, nichts mehr
Verehrungswürdiges, nichts mehr Geliebtes gäbe als seinen Vater,
während er an seiner Mutter alles und jedes tadelte und nidit im-
stande war, länger als wenige Stunden mit ihr zusammen zu sein.
Freilich, sein Vater war tot und seine Mutter lebte, und es ist bequem,
Tote zu vergöttern. Sei dem, wie ihm sei, D. glaubte, seinen Vater
mit aller Kraft zu lieben, sein Leben hatte den Haß gegen den
Vater verdrängt. Es läßt sich audi nicht abstreiten, daß er diesen
Vater in Wahrheit heiß liebte, sein homosexueller Komplex und seine
Anähnelung an den Vater bewiesen das zu deudich. Aber ebenso
stark haßte er ihn auch und vor allem beim Beginn seiner Erkran-
kung bestand ein lebhafter Konflikt zwisdien Neigung und Ab-
neigung.
Von den Erinnerungen jener Zeit, die sich bei der Analyse aus
dem Druck der Verdrängung lösten, greife idi zwei heraus. Die eine
ist, daß D. während der oben erwähnten Sdiwangerschaft seiner
Mutter sich angewöhnt hatte, stundenlang vor dem Ausgang einer
Gosse zu lauern, um daraus herauskommende Ratten zu erschießen.
Knabenspiel, denken Sie. Gewiß, aber warum schießen die Knaben
so gerne und warum schießt D. auf Ratten, die aus der Gosse kom-
men? Das Schießen, ich braudie es kaum zu sagen, ist der über-
mächtige Sexualitätsdrang der Pubertätszeit, der sich in der symboli-
schen Handlung Luft madit. Die Ratte aber, auf die D. sdiießt, ist
der Geschlechtsteil seines Vaters, den er in dem Augenblick mit dem
Tode bestraft, wo er aus der Gosse, der mütterlichen Scheide, heraus-
kommt. - Nein, es ist keine Deutung von mir, sie stammt von D.
Ich halte sie nur für richtig. Und auch der zweiten Angabe, die er
macht, stimme ich bei. Danach ist die Gosse wiederum die mütter-
liche Scheide, die Ratte aber ist das Kind, das sie erwartet. Neben
dem Wunsch, den Vater zu kastrieren, - denn das ist der Sinn des
Tötens der Ratte - sdiiebt sich der Mordwunsdi gegen das kom-
135
mendc Kind vor, beide Ideen sind durch verdrängende Gewalten in
symbolische Formen umgewandelt. Und in diese sdiweren, nur dumpf
empfundenen unterirdischen Kämpfe greift das Sdiicksal hinein und
läßt «den neugebornen Bruder nach wenigen Wochen sterben. Jetzt
hat das Schuldgefühl, dieser unheimliche Begleiter menschlichen
Lebens, ein Objekt, den Brudermord. Sie glauben nidit, liebste Freun-
din, wie bequem es für das Verdrängen ist, eine größere Schuld zu
finden. Dahinter läßt sich alles verstecken und dahinter wird tat-
sächlich alles versteckt. D. hat diese alberne Brudermordgeschichte
weidlich zugunsten des Sidiselbstbelügens ausgenützt. Und weil es
einmal menschlidie Natur ist, eigene Schuld an andren Menschen zu
bestrafen, hat D. von der Todesstunde seines Bruders an nicht mehr
auf Ratten gesdiossen, sondern auf Katzen, auf die Sinnbilder seiner
Mutter. Das Es geht seltsame Wege.
Ganz hat D. den Kastrationswunsdi gegen seinen Vater nicht mit
der Idee des Brudermords zudecken können, das beweist eine zweite
Erinnerung. Ich erzählte Ihnen, daß er zur Zeit jener Konflikte eine
Kaninchenzucht betrieb. Unter diesen Tieren war ein schneeweißes
Männchen. Mit dem führte D. ein seltsames Theater auf. All seinen
Kaninchenmännchen gestattete er, die Weibchen zu rammeln, genoß
es, ihnen zuzusehen ; nur jener weiße Rammler durfte nicht zu den
Weibchen gehen. Tat er es doch, so packte D. ihn bei den Ohren,
fesselte ihn, hängte ihn an einem Balken auf und sdilug ihn mit der
Reitpeitsche, solange er den Arm bewegen konnte. Es war der rechte
Arm, der Arm, der zuerst erkrankte, und er erkrankte gerade damals.
Diese Erinnerung ist unter dem stärksten Widerstand zum Vorschein
gekommen. Immer wieder wich der Kranke aus und brachte eine
Sammlung schwerer organischer Symptome zum Vorschein. Eines davon
war besonders kennzeichnend: die sklerodermatisdien Stellen des
rechten Ellbogens wurden schlimmer. Mit dem Tage, wo die Erinnerung
aus dem Unbewußten auftauchte, heilten sie wieder ab, heilten so
gründlich, daß der Kranke von nun an sein rechtes Ellbogengelenk
136
vollständig biegen und strecken konnte, was er seit zwei Jahrzehnten
trotz aller Behandlung nidit vermocht hatte. Und er tat es ohne Schmerz.
Fast hätte ich das wichtigste vergessen. Jener weißhaarige Rammler,
der von jeder Gesdüeditslust ferngehalten wurde und der die Peitsche
bekam, wenn er sich nidit zügelte, vertrat die Stelle des Vaters. Oder
hatten Sie es schon erraten?
Sind Sie müde? Nur Geduld, noch ein paar Striche, dann ist die
Skizze fertig. In das Gebiet des Vaterhasses gehört noch ein Zug
hinein, den Sie von Freud her kennen, wie denn D.'s Geschichte
manche Ähnlichkeit mit Freuds Rattenmannerzählung hat. D. war
gläubiger, man kann beinahe sagen buchstabengläubiger Mensch, aber
er hielt es mehr mit Gottvater als mit Gottsohn und betete täglich in
seiner Weise zu dieser von ihm selbst aus der Vaterimago erschaffenen
Gottheit Aber mitten in diese Gebete drängten sich plötzlich Schimpf-
worte, Flüche, gräßliche Gotteslästerungen. Der Haß gegen den Vater
brach sich Bahn. Sie müssen das bei Freud nachlesen, ich könnte nichts
Neues hinzufügen und das Alte nur durch mein Klugreden ver-
schlechtern.
Noch etwas muß ich zu dem Kanindienabenteuer hinzugeben. D.
hatte diesem weißen Rammler den Namen Hans gegeben : wie Sie
wissen, war das sein eigener Wunschname. Wenn er in dem weiß-
haarigen Tier seinen Vater sdilug, so sdilug er gleichzeitig sich selbst,
oder besser seinen Erzeuger, seinen Hans, den Hans, den er am
Bauche hängen hatte. Oder wissen Sie nicht, daß der Name Hans bei
jung und alt so beliebt ist, weil er sich auf Schwanz reimt? Und
weil man Hans mit Johannes dem Täufer zusammenbringt, der deutlich
genug in Taufe und Hinrichtung als männliches Glied gekennzeichnet
ist? Ich weiß nicht, ob es wahr ist, aber ein Engländer hat es mir
erzählt, daß man dort zu Lande das Gesdileditswerkzcug St. John
nennt und bei den Franzosen kommt ähnliches vor. Aber das hat mit
der Sache selbst nichts zu tun. D. meinte jedenfalls seinen Schwanz,
wenn er den Rammler Hans taufte, und wenn er ihn sdilug, so geschah
137
es, um ihn für die Onanie zu bestrafen. Ja, ja, die Onanie. Das ist
ein Stüdc Seltsamkeit.
Ich bin zu Ende, das heißt Wesentliches könnte ich nicht mehr
geben, und daß idi, wie Sie bemerkt haben werden, das allerwesent-
licfaste, die frühen Kindheitserinnerungen, fortgelassen habe, liegt daran,
daß ich sie nur zum geringem Teil kenne. Darauf, auf meine Un-
kenntnis, bezog sidj meine Äußerung oben, daß D. wahrscheinlich
wieder krank geworden wäre, wenn er weitergelebt hätte. Die Analyse
war nicht annähernd vollständig.
Zum Schluß will ich Ihnen wenigstens einen Grund angeben
warum sich D. vor dem Kriege fürchtete, obwohl er sich danach sehnte.
Er hatte die Vorstellung, daß er durch beide Augen geschossen werden
würde. Das beweist mir, - aus andern Erfahrungen mit Soldaten ziehe
ich den Schluß - daß er seine Mutter zu einer Zeit nackt gesehen
hat, in der er sich der Sünde, die darin liegt, bewußt war. Das Volk
sagt, wer seine Mutter nackt sieht, wird blind. Und Ödipus sticht
sidi die Augen aus.
Ich grüße Sie, Liebe, und bin immer Ihr
PATRIK TROLL.
15.
GEWISS, LIEBE FREUNDIN, ICH KÖNNTE IHNEN NOCH EINE
ganze Reihe ähnlicher Gesdiiditen wie die des Herrn D. aus dem
Bereiche des Ödipuskomplexes erzählen, und ich hatte Ihnen auch
versprochen es zu tun. Aber wozu ? Wenn Sie sich durch diese eine
Erzählung nicht beeinflussen lassen, werden mehrere es auch nicht so
rasch tun. Außerdem finden Sie in der Literatur der Psychoanalyse
solcher Geschichten die Hülle und Fülle. Ich will lieber versuchen, mich
gegen Ihre Einwände zu wehren, sonst wurzeln sich allerlei Vorurteile
in Ihnen fest und unser Briefwechsel wird sinnlos.
Sie begreifen nicht, sagen Sie, wie durch derlei Vorgänge, wie ich
sie Ihnen erzählt habe, körperliche Veränderungen im Menschen ent-
138
stehen können, wie er dadurch organisdi krank werden soll, und noch
weniger, wie er durch Aufdecken der Zusammenhänge gesund wird.
All diese Dinge, liebe Freundin, begreife ich auch nidit, aber ich sehe
sie, ich erlebe sie. Natürlich mache ich mir allerlei Gedanken darüber,
nur lassen sie sich schwerer mitteilen. Um eins aber möchte ich Sie
bitten, geben Sie in unserm Zwiegesprädi die Untersdieidung zwischen
„psychisch" und „organisch" auf. Das sind doch nur Bezeichnungen,
um sich über irgendwelche Besonderheiten des Lebens leichter zu ver-
ständigen, im Grunde ist beides dasselbe, beides denselben Haupt-
lebensgesetzen unterworfen, demselben Leben entsprungen. Ohne
Zweifel, ein Weinglas ist etwas andres als ein Wasserglas oder ein
Lampenzylinder, aber es ist doch Glas und all diese Glaswaren werden
vom Menschen hergestellt Ein Holzhaus ist verschieden von einem
Steinhaus. Siebezweifeln wohl aber selbst nicht, daß es lediglich eine
Zweckmäßigkeitsfrage, nicht eine Frage des Könnens ist, ob ein Bau-
meister ein Holzhaus oder ein Steinhaus baut. Genau so ist es mit
organischen, funktionellen, psydiisdien Erkrankungen. Das Es wählt
sehr selbstherrlich aus, was es für eine Erkrankung hervorbringen
will und richtet sich nicht nach unsern Namen. Idi glaube, wir ver-
stehen uns nun endlich oder wenigstens Sie verstehen mich und meine
klare Behauptung, daß für das Es ein Untersdiied zwischen organisch
und psychisch nicht besteht, und daß infolgedessen, wenn man das Es
überhaupt durch die Analyse beeinflussen kann, auch organische Krank-
heiten psychoanalytisch behandelt werden können und unter Umständen
müssen.
Körperlich, seelisch. Was für Gewalt hat ein Wort! Man dadite
sich einmal, — vielleicht denkt mancher es noch - daß es einen mensch-
lichen Körper gäbe, in dem wie in einer Wohnung die Seele hause.
Aber selbst wenn man das annimmt, der Körper an sidi erkrankt
nicht, da er ja ohne Seele tot ist. Totes wird nicht krank, wird
höchstens schadhaft. Nur Lebendiges erkrankt, und da kein Mensch
daran zweifelt, daß nur lebendig genannt wird, was Körper und
139
Seele zugleich ist - aber verzeihen Sie, das sind ja alles Dummheiten.
Wir wollen uns nicht über Wörter zanken. Es kommt hier, wo Sie
meine Meinung hören wollen, nur darauf an, daß ich verständlidi
ausdrücke, was idi meine. Und meine Meinung habe ich Ihnen deutlich
gesagt: für mich gibt es nur das Es. Wenn ich die Worte Körper und
Seele gebraudie, verstehe ich darunter Erscheinungsformen des Es,
wenn Sie wollen, Funktionen des Es. Selbständige oder gar gegen-
sätzliche Begriffe sind es für mich nicht. Verlassen wir das unerquick-
liche Thema jahrtausendlanger Verwirrung. Es gibt andre Dinge zu
besprechen.
Sie stoßen sich daran, daß ich dem Verdrängungsprozeß so große
Wirkungen beilege, madien mich darauf aufmerksam, daß es auch
Mißgeburten und embryonale Erkrankungen gibt und verlangen, daß
ich auch andere Vorgänge würdige. Darauf kann ich nur erwidern,
daß ich den Ausdruck „Verdrängen« bequem finde. Ob er für alles
ausreicht, interessiert midi nicht. Für mich hat er bisher ausgereicht,
auch für meine sehr oberflächliche Bekanntsdiaft mit dem Embryonal-
leben. Ich habe also keinen Grund, ihm etwas Neues hinzuzufügen
oder gar ihn beiseite zu legen.
Vielleicht ist es nützlich, ein wenig zu phantasieren, damit Sie
einen Begriff von der Ausdehnung solch eines Verdrängens bekommen.
Nehmen Sie an, zwei Kinder, ein Knabe und ein Mädchen, sind allein
im Eßzimmer. Die Mutter ist irgendwie in einem anderen Zimmer
beschäftigt oder schläft, kurz, die Kinder fühlen sich sicher, so sidier,
daß das ältere die Gelegenheit benützt, um sidi und das jüngere Kind
durch Augenschein von dem Unterschied der Geschlediter und von
der Vergnüglichkeit solcher Betrachtung zu unterrichten. Plötzlich tut
sich die Tür auf, die Kinder haben gerade noch Zeit auseinanderzu-
fahren, aber das Schuldbewußtsein läßt sich nicht verbergen. Und da
die Mutter, überzeugt von der kindlichen Unschuld ihrer Sprößlinge,
beide in der Nähe der Zuckerdose sieht, nimmt sie an, daß sie genascht
haben, schilt darüber und droht ihnen mit Schlägen, wenn es wieder
140
vorkommen sollte. Vielleidit wehren sich die Kinder gegen die Unter-
stellung des Nasdiens, vielleidit auch nicht. Jedenfalls ist kaum anzu-
nehmen, daß sie ihre eigentliche Sünde, die sie für viel schwerer
halten, eingestehen. Sie schweigen darüber, verdrängen sie. Beim Nach-
mittagskaffee wird die Mahnung von der Mutter wiederholt, das eine
schuldbewußtere Kind errötet und gibt so zu erkennen, daß es sich fin-
den verführenden Teil hält. Es verdrängt wiederum, was es gern ein-
gestehen mödite. Nach ein paar Tagen - die Mutter hat längst vergeben,
hat aber ihre Freude daran, das Kind zu quälen - fällt irgendein
Scherzwort irgendeiner Tante gegenüber. „Der Junge weiß, wo die
Zuckerdose steht", oder irgend etwas ähnliches. Und diese Tante macht
später auch eine Anspielung. Da haben Sie eine Kette von Verdrän-
gungen, wie sie wohl nidit allzu selten sich bilden mag. Nun sind die
Kinder versdiieden ; das eine nimmt es mit seinen Sünden leicht,
das andere sdiwer, und für ein drittes ist es fast unerträglich, daß
es gesündigt hat und vor allem, daß es die Sünde nidit gebeichtet
hat. Was bleibt ihm übrig? Es drückt und drückt auf die Sünde, drängt
sie aus dem Bewußtsein, stopft sie ins Unbewußte. Da liegt sie nun
vorläufig sehr oberflädiliob, aber nadi und nadi wird sie tiefer gedrückt,
tiefer und tiefer, bis schließlich die Erinnerung aus dem Bewußtsein
verschwunden ist. Damit sie aber ja nicht wieder zum Vorschein kommt,
werden Deckerinnerungen darüber gelegt, vor allem die, daß die
Mutter ungerecht gewesen ist, das Kind ohne Grund des Nasdiens
besdiuldigt und mit Schlägen bedroht hat. Nun geht es los oder
wenigstens es kann losgehen. Es hat sich ein Komplex gebildet, der
berülirungsempfindlidi ist, der nadi und nadi so sdilimm wird, daß
selbst die Annäherung an den Komplex sdion als furchtbar empfunden
wird. Nun sehen Sie sich, bitte, den Komplex an. Auf der Oberfläche
sind die Deckerinnerungen : der Zucker, das Naschen, die falsche An-
schuldigung, die Drohung mit Sdilägen, das Verschweigen und damit
das Lügen, das Rotwerden, weiterhin die Zuckerdose, der Eßtisch mit
seinen Stühlen, das Zimmer mit einer braunen Tapete und allerlei
141
Möbeln und Porzellan, das grüne Kleid der Mutter, das fünfjährige
Mäddien im schottischen Kleid mit Namen Gretchen usw. Tiefer liegt
dann das Gebiet der Sexualität. Unter Umständen wird schon jetzt die
Arbeit des Verdrängens schwierig. Aber es kann auch sein, daß diese
Arbeit sidx bis ins Unglaubliche steigert. Nehmen Sie das Wort Zucker,
es gehört in den Komplex, muß also möglichst vermieden werden.
Ist es irgend anders woher noch schuldbelastet, vielleicht durch ein
wirkliches Naschen, so ist der Wunsch des Verdrängens um so größer.
Aber es reißt dann auch andere Begriffe mit sich : süß, weiß etwa,
oder vierakig, dann greift es vielleidit auf andere Formen des Zuckers
über, auf den Zuckerhut, von dort auf den Hut selbst oder auf die
blaue Farbe der Umhüllung. Sie können das ganz nach Belieben ins
Unendliche ausdehnen und, verlassen Sie sich darauf, nicht allzu
selten dehnt das Unbewußte seine Verdrängungsarbeit mit Hilfe der
Assoziation ins Unendliche aus. Auf der Flucht vor dem süßen Zucker
entsteht seelische Bitterkeit, oder es wird süßliche Sentimentalität als
Ersatz benützt, eine übergroße Sorgfalt, nie fremdes Eigentum sich
anzueignen, gliedert sich an das Wort „Naschen«, daneben aber auch
das kindlidie Vergnügen am harndosen Betrug, die pharisäische
Gerechtigkeitsliebe stellen sich ein, die Worte Sdiläge, Schlagen, Schlacht,
Rute, Gertrud, Ruth, Strafe, Birke, Besen geraten mit in den Komplex,'
verfehmt und doch lockend, denn die eingebüßte Sünde verlangt nach
Strafe, noch nach Jahrzehnten schreit sie nach Sddägen. Die braune
Tapete wird unerträglich, grüne und schottische Kleider werden es, der
Name Gretchen erregt Übelkeiten und so geht es fort. Und dann
kommt noch das ungeheure Gebiet der Sexualität hinzu.
Vielleicht denken Sie, ich übertreibe oder ich erzähle Ihnen irgend-
einen ausgefallenen, seltenen Lebenslauf eines Hysterischen. Ach nein,
solche Komplexe schleppen wir alle mit uns herum. Gehen Sie nur in
Ihr Inneres, Sie werden da manches finden, manche unerklärliche Ab-
neigung, manche seelische Erschütterung, die im Vergleich zu ihrer
momentanen Veranlassung unbegreiflich stark ist, manchen Zank
142
manche Sorge und Verstimmung, die nur verständlich wird, wenn Sie
den Komplex betrachten, aus dem sie stammt. Wie werden Ihnen die
Augen aufgehen, wenn Sie gelernt haben, die Brücke zwischen der
Gegenwart und der Kindheit zu schlagen, wenn Sie begriffen haben,
daß wir Kinder sind und bleiben und daß wir verdrängen, unablässig
verdrängen. Und daß wir, gerade weil wir verdrängen und nicht ver-
nichten, gezwungen sind, bestimmte Lebenserscheinungen immer
von neuem herbeizuführen, gezwungen sind zu wiederholen, zu
wiederholen. Glauben Sie mir, es ist seltsam, wie oft sich der Wunsdi
wiederholt. In seinem Innern sitzt ein Kobold, der zwingt ihn zur
Wiederholung.
Von diesem Wiederholungszwang müßte ich Ihnen mehr er-
zählen, aber ich bin bei den Verdrängungen und bin Ihnen nodi
die Erklärung schuldig, wie ich mir die Wirkung des Vcrdrängens als
Ursache organischer Leiden denke. Denn daß allerhand psychische Be-
schwerden daraus entstehen können, werden Sie auch ohne meine
Erläuterungen begreifen. Was ich Ihnen nun sagen werde, sind
wiederum Phantasien. Sie können sie ernst nehmen, Sie können dar-
über lachen, beides berührt mich nicht. Für midi ist die Frage, wie
organische Leiden entstehen, unlösbar. Ich bin Arzt und als solcher
interessiert es mich nur, daß bei der Lösung der Verdrängung Besserung
eintritt.
Darf ich Sie bitten, meinen Auseinandersetzungen ein kleines Ex-
periment vorangehen zu lassen. Denken Sie, bitte, an irgend etwas,
was Sie sehr interessiert, etwa daran, ob Sie sich einen neuen Hut
anschaffen sollen oder nicht. Und nun versuchen Sie plötzlich, den Ge-
danken an den Hut zu unterdrücken. Wenn Sie es sich recht schön
ausgemalt hatten, wie Ihnen der Hut stehen wird und wie Sie darum
beneidet werden, wird es Ihnen nicht möglich sein, den Gedanken
daran zu unterdrücken, oline die Bauchmuskulatur zusammenzuziehen.
Vielleicht beteiligen sich auch andere Muskelgruppen an der Anstrengung
des Unterdrückens, die obere Baudipartie tut es sicher; sie wird bei
143
jeder, audi der geringsten Anspannung zur Mitarbeit verwendet. Die
Folge davon ist unbedingt eine Schwankung im Kreislauf, wenn diese
Schwankung audi noch so gering ist. Und diese Schwankung teilt sich
mit Hilfe der sympathischen Nerven anderen Gebieten des Organismus
mit, zunächst wohl denen, die direkt benachbart sind, dem Darm, dem
Magen, der Leber, dem Herzen, den Atmungsorganen. Sie können
sich die Schwankung so gering denken, *ie Sie wollen, da ist sie dodi.
Und weil sie da ist, und weil sie auf allerlei Organe übergreift, setzen
sofort eine Menge chemischer Prozesse ein, von denen selbst der
Gelehrteste nicht das mindeste versteht. Nur daß diese Prozesse statt-
finden, das weiß er, weiß es um so besser, je mehr er sich mit
Psychologie beschäftigt hat. Nun denken Sie sich diesen anscheinend
so unbedeutenden Vorgang zehnmal im Laufe des Tages wiederholt.
Das bedeutet schon etwas. Aber lassen Sie ihn zwanzigmal in der
Stunde auftreten, dann haben Sie einen soldien Hexensabbath von
mechanischem und chemischem Durcheinander, daß es schon nicht mehr
schön ist. Und verstärken Sie die Intensität und die Dauer der An-
strengung. Nehmen Sie an, daß solche Anstrengung stundenlang, tage-
lang dauert, daß nur kurze Augenblicke des Losgelassenseins der
Bauchpartien dazwischen sind. Sollte es Ihnen noch immer schwer
fallen, einen Zusammenhang zwischen Verdrängen und organischem
Erkranken zu phantasieren?
Vermutlich haben Sie noch nicht viele Menschenbäuche nadct ge-
sehen. Aber mir ist das oft zuteil geworden. Und da läßt sich oft
etwas Seltsames feststellen. Quer über die obere Bauchhälfte vieler
Menschen geht eine strichförmige Falte, eine langgedehnte Runzel. Die
kommt vom Verdrängen. Oder es finden sich rote Äderchen oder der
Bauch ist aufgetrieben oder was es sonst noch ist. Denken Sie sich
doch nur, daß jahrelang, jahrzehntelang ein Mensch herumläuft, der
sich vorm Treppengehen ängstigt. Die Treppe ist ein Geschlechtssymbol
und es gibt zahllose Menschen, die von dem Gedanken des Fallens
auf der Treppe verfolgt werden. Oder denken Sie sich jemanden, der
144
undeutlich fühlt, daß ein Hut ein Gesdileditssymbol ist, oder ein
Knopf, oder das Sdireiben. Soldie Leute müssen dauernd, fast unauf-
hörlich verdrängen, müssen Bauch, Brust, Arme, Nieren, Herz, Gehirn
dauernd mit Kreislaufschwankungen, mit chemischen Überraschungen,
mit chemischen Vergiftungen heimsuchen. Nein, Liebe, ich finde es
nicht im geringsten sonderbar, daß das Verdrängen - oder irgend-
welche andren psychischen Geschehnisse - organische Leiden herbei-
führen. Im Gegenteil, ich finde es sonderbar, daß solche Leiden ver-
hältnismäßig so selten sind. Und ein Staunen, ein ehrfürditiges Staunen
vor dem Es des Mensdien erfüllt midi, daß es imstande ist, alles, was
geschieht, zum Besten zu lenken.
Nehmen Sie ein Auge! Wenn es sieht, gehen allerlei Prozesse in
ihm vor. Wenn ihm aber verboten ist, zu sehen, und es sieht doch,
wagt es aber nicht, seine Eindrücke dem Gehirn zu übermitteln, was
mag dann wohl in ihm vorgehen ? Wäre es nicht denkbar, daß es,
wenn es tausendmal am Tage gezwungen ist, etwas, was es sieht, zu
übersehen, sdiließlicb7die Sache satt bekommt und sagt : das kann ich
bequemer haben ; wenn ich durdiaus nicht sehen soll, werde idi kurz-
siditig, verlängere meine Adise, und wenn das nicht ausreicht, lasse
idi Blut in die Netzhaut treten und werde blind ? Wir wissen so wenig
vom Auge. Gönnen Sie mir also den Spaß, zu phantasieren.
Sind Sie aus dem, was ich schrieb, klug geworden? Aber Sie
müssen es mit Nachsicht lesen, beileibe nicht kritisch. Im Gegenteil,
Sie sollten sich hinsetzen und noch ein Dutzend oder drei Dutzend
solcher Phantasiegebäude sich selbst zureditbauen. Was ich gab, war
nur ein Beispiel, ein Erfinden übermütiger Laune. Achten Sie nicht
auf die Form, auch nicht auf den Gedanken. Mir kommt es auf die Denk-
weise an, darauf, daß Sie den Verstand beiseiteschieben und schwärmen.
Habe ich von der Entstehung der Erkrankungen gesprochen, so
muß idi wohl auch ein Wort über die Behandlung sagen. Als ich vor
Jahren meiner Eitelkeit so viel abgerungen hatte, daß sie mir gestattete,
zum ersten Male an Freud zu schreiben, antwortete er mir etwa Fol-
io G r o d d e c k, Da9 Buch vom Es "«
gendes: Wenn Sie begriffen haben, was Übertragung und Widerstand
sind, können Sie ruhig an die psychoanalytisdie Behandlung Kranker
herangehen. Also Übertragung und Widerstand, das sind die Angriffs-
punkte der Behandlung. Ich glaube, über das, was ich unter Über-
tragung verstehe, habe ich midi deutlich genug ausgedrückt. Bis zu
einem gewissen Grade kann der Arzt sie herbeiführen, zum mindesten
kann er und soll er die einmal entstandene Übertragung zu erhalten
und zu lenken suchen. Aber das Wesentliche, das übertragen selber
ist ein Reaktionsvorgang im Kranken, in der Hauptsache ist es dem
Einfluß des Arztes entzogen. So bleibt schließlich als Hauptarbeit der
Behandlung das Beseitigen und Überwinden des Widerstandes. Freud
hat einmal das Bewußtsein des Menschen mit einem Salon vergüten,
m dem allerlei Leute empfangen werden. Im Vorraum, hinter der
verschlossenen Tür im Unbewußten staut sich die verdrängte Masse
psychischer Wesenheiten und an der Tür steht ein Wächter, der in
das Bewußtsein nur hineinläßt, was salonfähig ist. Danach können
die Widerstände von drei Stellen ausgehen, vom Salon, dem Bewußt-
sein aus, das bestimmte Dinge nidit einlassen will, vom Wächter aus,
einer Art Vermitder zwischen Bewußtem und Unbewußtem, der, in
hohem Grade vom Bewußtsein abhängig, doch immerhin eigenen
Willen besitzt und hie und da eigensinnig den Eintritt verwehrt,
obwohl das Bewußtsein die Erlaubnis gab, und vom Unbewußten
selbst, das keine Lust hat, sich in der anständig langweiligen Umgebung
des Salons aufzuhalten. So würde man also dazu kommen, in der
Behandlung diese drei Instanzen der Widerstandsmöglidikeiten zu
beachten. Und bei allen dreien wird man darauf gefaßt sein müssen,
allerlei seltsame Launen zu finden und Überraschungen zu erleben
Da aber nach meiner Meinung sowohl Bewußtsein wie Pförtner leisten
Endes willenlose Werkzeuge des Es sind, hat diese Unterscheidung
nur geringe Bedeutung.
Bei Gelegenheit der Geschichte des Herrn D. habe ich Ihnen ein
paar lärmen des Widerstandes mitgeteilt. In Wahrheit gibt es dieser
146
Formen Tausende und Abertausende. Man lernt darin nie aus, und
so wenig ich midi zum Anwalt des Mißtrauens eigne, so fest bin ich
doch davon überzeugt, daß man als Arzt immer und immer damit
rechnen muß : jetzt befindet sich der Kranke im Widerstände. Hinter
jeder Lebensform und Lebensäußerung verschanzt sich der Widerstand,
jedes Wort, jede Gebärde kann ihn verstecken oder verraten.
Wie soll man nun mit dem Widerstand fertig werden? Das ist
schwer zu sagen, Liebe. Ich glaube, das Wesentliche dabei ist, daß
man bei sich selber beginnt, daß man erst einmal in seine eigenen
Winkel und Ecken, Keller- und Speiseräume hineinguckt, Mut zu sich
selber, zu seiner eigenen Schlechtigkeit oder, wie ich lieber sagen
würde, Menschlichkeit findet. Wer nicht weiß, daß er selber hinter
jeder Hecke und Tür gestanden hat, und wer nicht zu sagen weiß,
was für Dreckhaufen hinter solch einer Hecke liegen und wie viele
Haufen er selber hingesetzt hat, der wird es nicht weit bringen. Das
erste Erfordernis ist also wohl Ehrlichkeit, Ehrlichkeit gegen sich selbst.
Bei sich selbst lernt man am besten die Widerstände kennen. Und
sich selbst lernt man am gründlichsten kennen, wenn man andre
analysiert. Wir Ärzte haben es gut, und ich wüßte nicht, welch andrer
Beruf mich locken könnte. Dann glaube ich, braucht unsereiner noch
zwei Dinge, Aufmerksamkeit und Geduld. Geduld vor allem, Geduld
noch einmal. Aber so etwas lernt sich.
Also sich selbst analysieren, das ist nötig. Leicht ist es nicht, aber
es zeigt uns unsre individuellen Widerstände und es dauert nicht
lange, so treten einem Erscheinungen entgegen, die zeigen, daß es
auch Widerstände ganzer Klassen, ganzer Völker, ja der gesamten
Menschheit gibt, Widerstände, die vielen, ja allen gemeinsam sind. So
ist mir heute wieder eine Form aufgefallen, die ich oft fand, die, daß
wir uns scheuen, bestimmte kindliche Ausdrücke zu brauchen, Aus-
drücke, die uns in unsrer Kindheit geläufig waren. Im Verkehr mit
Kindern und, merkwürdigerweise, im Liebesverkehr brauchen wir sie
unbedenklich, da sprechen wir ruhig vom „Wässerlein machen," vom
10*
147
„Hotto« oder „Wauwau« vom „Pipi«, „A a", „Popo«, aber unter Er-
wachsenen sind wir gern selber erwachsen, verleugnen unsre Kindes-
natur, und „scheißen«, „schiffen«, „Arsch« sind uns geläufiger. Großtun,
weite/- nichts.
Zum Schluß muß ich wohl auch noch ein Wort über die Wirkung
der Behandlung sagen. Nur leider weiß ich davon wenig. Ich habe
die vage Idee, daß die Erlösung des Verdrängten aus der Verdrängung
eme gewisse Bedeutung dabei hat. Ob das aber direkt der Heilungs-
vorgang ist, bezweifle ich. Vielleicht entsteht daduwh, daß irgend etwas
Verdrängtes in den Salon des Bewußtseins kommt, nur eine Bewegung
im Unbewußten und diese Bewegung bringt Heil oder Unheil. Dana*
wäre es nicht einmal nötig, daß das Verdrängte, was den Anstoß zur
Erkrankung gab, zum Vorschein käme. Es könnte ruhig im Unbewußten
bleiben, wenn nur Platz dafür geschaffen würde. Nach dem, was idi
bis jetzt über diese Dinge weiß, - i<h sagte es schon, es ist sehr wenig
- will es mir scheinen, daß es oft genügt, den Pförtner an der Tür
zu bearbeiten, daß er irgendeinen Namen in den Raum des Unbe-
wußten hineinschreit, etwa den Namen Wüllner. Ist unter den Nächst-
stehenden kein Mensch, der Wüllner heißt, so geben sie doch den
Namen nach hinten weiter, und wenn wirklich dieser Name nicht bis
zu dem eigendichen Träger dringt, so findet sich vielleicht irgendein
Müller, der den Ruf absichtlidi oder unabsichtlich mißversteht, sich
nach vorn zwängt und in das Bewußtsein eingeht.
Der Brief ist lang und des Schwatzens will kein Ende werden.
Adieu, Vielliebe, es ist Schlafenszeit Ich bin ein arg müder
_ TROLL.
16.
ES GEHT IHNEN ZU SEHR DURCHEINANDER? MIR AUCH
Aber das hilft doch nichts; das Es ist immer in Bewegung und nicht
eine Sekunde tritt Ruhe ein. Das wirbelt und süömt und wirft bald
dies, bald Jenes Stück Welt empor, der Oberfläche zu. Eben als ich
148
den Brief an Sie beginnen sollte, habe ich versucht, herauszubekommen,
was in mir vorging. Über die gröbsten Dinge bin ich nicht hinweg-
gekommen.
Hier ist es, was ich fand. In der rechten Hand habe ich den
Federhalter, mit der linken spiele ich an der Uhrkette. Der Blick ist
auf die Wand gegenüber gerichtet, auf eine holländisdie Radierung,
die Rembrandts Gemälde von der Besdineidung Jesu wiedergibt. Die
Füße stehen auf dem Boden, aber der rechte tritt mit der Ferse den
Takt zu einem Marsch, den unten die Kurkapelle spielt. Gleichzeitig
höre ich den Schrei eines Käuzchens, das Hupensignal eines Automobils
und das Rattern der elektrischen Bahn. Ich habe keinen bestimmten
Geruchseindruck, fühle aber, daß mein rechtes Nasenloch etwas ver-
stopft ist. Es juckt midi in der Gegend des rechten Schienbeines und
ich bin mir bewußt, daß ich rcdits an der Oberlippe etwa einen halben
Zentimeter oberhalb des Mundwinkels einen roten runden Fleck habe.
Die Stimmung ist unruhig und die Fingerspitzen sind kalt.
Gestatten Sie, liebe Freundin, daß idi mit dem Ende beginne. Die
Fingerspitzen sind kalt, das erschwert das Sdireiben, bedeutet also:
„Sei vorsichtig; du schreibst sonst Unsinn!" Und ähnlidi ist es mit der
Unruhe. Sie verstärkt die Mahnung, behutsam vorzugehen. Mein Es
ist der Ansicht, daß ich midi mit etwas anderm als Sdireiben be-
schäftigen sollte. Was das ist, weiß ich noch nicht. Vorläufig nehme
ich an, daß sich in der Zusammenziehung der Fingerspitzengefäße
und in der Rastlosigkeit der Stimmung das Gefühl äußert: Deine
Leserin wird nidit verstehen, was du ihr mitteilst. Du hättest sie
besser, methodischer vorbereiten sollen. Trotzdem ! Ich wage den
Sprung.
Daß ich an der Uhrkette spiele, wird Sie lächeln machen. Sie kennen
diese Gewohnheit, haben mich oft damit geneckt, aber wohl selbst
niemals gewußt, was sie sagt. Es ist ein Onaniesymbol, ähnlich dem
des Spielens mit dem Ring, von dem ich Ihnen neulich erzählte. Aber
die Kette hat ihre besonderen Eigentümlichkeiten. Der Ring ist ein
149
Weibessymbol und die Uhr, wie jede Maschine, ist es auch. Die Kette
ist es für meine Idee nicht ; vielmehr symbolisiert sie etwas, was vor
dem eigentlichen Geschlechtsakt, vor dem Spiel mit der Uhr liegt.
Meine linke Hand verrät Ihnen, daß ich mehr Freude an dem habe,
was vor der Vereinigung von Mann und Weib liegt, am Küssen,
Streidieln, Entkleiden, Spielen, am heimlich erregenden Lustgefühl,
an Dingen, die der Knabe liebt, und Sie wissen ja längst, daß ich ein
Knabe bin, wenigstens bin ich es auf der linken Seite, der Liebesseite,
die das Herz trägt. Was links ist, ist Liebe, was links ist, ist verboten,
von Erwachsenen getadelt : es ist nicht rechts, ist unrecht. Da haben Sie
einen neuen Anhaltspunkt für die Unruhe, die mich plagt, für die
kalten Fingerspitzen. Die rechte Hand, die Hand des Schaffens, der
Autorität, des Rechtes und des Guten, hat in ihrer Tätigkeit ernst-
haften Schreibens innegehalten, droht hinüber nach der linken, spiel-
lustigen Kinderhand, und aus rechts und links kommen Schwanken und
Unruhe, die das Befehlszentrum der Blutversorgung mobil machen und
die Finger erstarren lassen.
„Aber," beschwichtigt eine Stimme des Es die unwillige Rechte,
die mein Erwachsensein darstellt, „laß doch das Kind ; du siehst, es'
spielt mit der Kette, nicht mit der Uhr!* Damit will diese Stimme
sagen, daß die Uhr das Herz bedeutet, gemäß der Löweschen Ballade.
Diese Stimme findet das Spielen mit dem Herzen schlecht. Mir ist,
trotz ihres Tröstens, schlimm zu Mute, und sogleich erzählt mir auch
das Es der rechten Hand, wie verwerflich das Tun der linken ist.
„Sie braucht nur ein wenig stark zu spielen, dann zerrt sie die
Uhr heraus, läßt sie fallen, und ein Herz ist gebrochen."
Allerlei Erinnerungen schießen mir in Form von Mädchennamen
durch den Kopf, Anna, Marianne, Liese und mehr. Von allen den
Trägerinnen dieser Namen dachte ich einmal, daß ich ihnen durch
mein Spielen das Herz verletzt hätte. Aber plötzlich werde ich ruhig.
Ich weiß, seitdem ich ein wenig in die Tiefen der Mädchenseele
h.neinging, daß solch Spiel an sich hübsch ist und ihnen nur zur
150
Qual wurde, weil idi die Abenteuer ernst nahm, weil idi selbst ein
böses Gewissen hatte und sie es errieten. Weil der Mann vom Mäd-
chen voraussetzt, es müsse sich schämen, schämt es sich wirklich ; nicht
weil es Böses tat, nein, weil man von ihm eine moralische Reinheit
erwartet, die es nicht hat. Gott sei Dank nicht hat. Aber durch nichts wird
der Mensch tiefer verletzt, als wenn man ihn für edler hält, als er ist.
Trotz dieser Selbstverteidigung über das Spiel mit dem Herzen
bleibt die Tatsadie bestehen, daß ich den Federhalter nicht in Be-
wegung setze, und idi versuche, sie zu verstehen. Da kommen mir
Erinnerungen, wenn Sie es so nennen wollen. Menschen mit Sdireib-
krampf, die ich zu behandeln hatte, haben mir, ohne voneinander
zu wissen, mehrfach folgende Erklärung über das Schreiben gegeben :
„Die Feder ist der Geschlechtsteil des Mannes, das Papier das em-
pfangende Weib, die Tinte der Samen, der bei dem raschen Auf und
Ab des Sdireibens ausströmt. Mit andern Worten, das Schreiben ist
ein symbolischer Gesdileditsakt. Es ist aber auch, gleichzeitig das Sym-
bol der Onanie, des phantasierten Geschlechtsaktes." Daß die Er-
klärung richtig ist, geht für mich aus der Erscheinung hervor, daß
bei den Kranken der Schreibkrampf verschwand, sobald diese Zu-
sammenhänge von ihnen gefunden waren. Darf idi noch ein paar
spielerische Gedanken anreihen? Die deutsche Sdirift ist für den
Schreibkrampfigen schwieriger, weil sie das Auf und Ab viel deutli-
cher, heftiger, abgebrochener hat als die lateinische. Der dicke Feder-
halter ist leiditer zu brauchen als der dünne, der eher den Finger
oder den allzu schwachen Penis versinnbildlicht als der dicke. Der
Bleistift hat den Vorteil, daß der symbolische Samenverlust fortfällt,
die Schreibmaschine, daß in ihr wohl die Erotik in der Klaviatur,
dem Auf und Ab der Tasten enthalten ist, aber die Hand nidit
direkt den Penis faßt. Das alles entspricht den Vorgängen beim
Schreibkrampf, der vom Gebrauch des gewöhnlichen Federhalters über
den Bleistift und die lateinische Schrift zur Schreibmasdiinc und
schließlich zum Diktieren führt.
151
Bei alledem ist die Rolle des Tintenfasses nicht erwähnt, über
die mir die gefälligen Krankhcitssymptome auch Auskunft geben. Das
Tintenfaß mit seinem gähnenden Schlund, der in dunkelschwarze
Tiefen führt, ist ein Muttersymbol, stellt den Schoß der Gebärerin dar.
Plötzlidi steht wieder der Ödipuskomplex vor einem, das Verbot der
Blutschande. Und nun wird es lebendig von den Schreibteufelchen,
die aus dem Faß, dem schwarzen Bauch der Hölle hervorklettern und
enge Beziehungen zwischen dem Gedanken der Mutter und dem Reich
des Bösen ahnen lassen. Sie glauben gar nicht, beste Freundin, was
für seltsame Sprünge das Es macht, wenn es Launen hat, wie es dann
Erde und Himmel und Hölle mit dem Arm und Federhalter des
Kranken zusammenknotet und und wie es sdiließlich ein armselig
dürftiges Doktorhirn so verrückt macht, daß es ernstlich daran glaubt,
Tintenfaß, Mutterleib und Hölle seien nahe Verwandte.
Die Geschichte hat auch ihre Fortsetzung. Aus der Feder strömt
die Tinte, die das Papier befruchtet. Ist es beschrieben, falte ich es
zusammen, stecke es in das Kuvert, gebe es zur Post. Sie öffnen den
Brief, hoffentlich mit einem freundlichen Lächeln, und erraten mit
leisem Wiegen des Kopfes, daß ich Schwangersdiaft und Geburt in
diesem Vorgang schilderte. Und dann denken Sie an die vielen Men-
schen, die man schreibfaul schilt, und verstehen, warum es ihnen so schwer
fällt, zu schreiben. All diese Menschen haben im Innern ein unbewußtes
Verständnis für dieSymbolik und all diese Menschen leiden an der Angst
vor Entbindung und Kind. Zu guter Letzt fällt Ihnen unser gemeinsamer
Freund Rallot ein, der jeden seiner Briefe zehnmal vom Haus zum Brief-
kasten und vom Briefkasten wieder nach Hause trug, ehe er ihn auf die
Reise schickte, und es wird Ihnen verständlich, wie es mir gelang, ihn
In einer halben Stunde Unterhaltung von seinem Krankheitssymptom -
nicht etwa von seiner Krankheit - zu befreien. Erkenntnis ist ein gutes
Ding, und Ihr werdet sein wie Gott, wissend, was Gut und Böse.
Wenn ich nicht fürchtete, Sie zu ermüden, würde ich nun gerne
einen Ausflug in die Graphologie wagen, auch wohl dies und jenes
152
über die Buchstaben sagen. Ich kann Ihnen auch nicht versprechen,
daß ich nicht doch gelegentlich darauf zurückkommen werde ; heute
möchte ich Sie nur bitten, sich zu erinnern, daß wir als Kinder eine
Stunde lang a's oder o's und u's malen mußten und, um das zu er-
tragen, allerlei Figuren und Symbole in diese Zeichen hineinlegen
oder herauslesen mußten. Versuchen Sie, ein Kind zu sein, vielleidit
kommen Ihnen allerlei Gedanken über die Entstehung der Schrift,
und es fragt sidi dann, ob sie dümmer sind als die unsrer Gelehrten.
Nur mit Gelehrsamkeit ist noch niemand dem Es beigekommen und -
nun ja, ich halte wenig von der Wissenschaft.
Mir fallen noch ein paar Erlebnisse ein, die mit dem Selbstbe-
friedigungskomplex zu tun haben. Ich habe einmal mit einer guten
Freundin - Sie kennen sie nicht, aber sie gehört nidit zu den dum-
men Menschen - einen Streit gehabt, weil sie mir nidit glauben
wollte, daß die Krankheiten Sdiöpfungen des Es sind, vom Es ge-
wollt und herbeigeführt werden. „Nervosität, Hysterie, ja das will idi
zugeben. Aber auch organische Leiden?" „Audi organische Leiden,"
erwiderte ich, dann aber, ehe ich ihr noch meine Lieblingsrede halten
konnte, daß das Unterscheiden zwischen nervös und organisch bloß
eine Selbstanklage der Ärzte ist, mit der sie ausdrücken wollen : „Wir
wissen nicht viel über die chemischen, physikalischen, biologischen
Vorgänge der Nervosität ; nur das eine wissen wir, daß solche Vor-
gänge existieren, aber mit unsern Untersudiungen nidit aufzufinden
sind, wir brauchen also den Ausdruck ,nervös', um dem Publikum
unsre Unwissenheit deutlich zu machen, um uns solch unangenehmen
Beweis unsers Unvermögens vom Halse zu halten" - ehe ich das
noch sagen konnte, fragte sie weiter: „Auch Unglücksfälle?" „Ja, auch
Unglücksfälle." „Ich bin neugierig," sagte sie da, „zu hören, was mein
Es damit bezweckt hat, als es mich meinen rechten Arm brechen ließ."
„Wissen sie noch, wie der Unfall vor sich ging?" „Gewiß, in Berlin
in der Leipzigerstraße. Ich wollte in eine Kolonialwarenhandlung ge-
hen, glitt aus und brach mir den Arm." „Besinnen Sie sich, was Sie
153
damals gesehen haben können?« „Ja, vor dem Laden stand ein Korb
Spargel.« Plötzlich wurde meine Gegnerin nachdenklich. „Vielleicht
haben Sie recht«, meinte sie und erzählte mir dann eine Geschichte,
die ich nicht breittreten will, die sich aber um die Ähnlichkeit des
Spargels mit dem Penis und einen Wunsch der Verunglückten
drehte. Eine verdrängte Onaniephantasie, nichts weiter. Der Arm-
bruch war ein wohlgelungener Versuch, die schwankende Moral
zu stützen. Wer einen gebrochenen Arm hat, dem vergeht die Be-
gierde.
Ein anderes Erlebnis schien zunächst weit von dem Onaniekom-
plex wegzuführen. Eine Frau gleitet auf der glatt gefrornen Straße
aus und bricht sich den rechten Arm. Sie behauptet, in dem Moment
vor dem Ausgleiten eine Vision gehabt zu haben. Sie habe plötzlich
vor ,hren Augen die Gestalt einer Dame gesehen, im Straßenkostüm,
wie sie sie oft gesehen hatte, aber unter dem Hut sei kein lebendiges
Gesicht gewesen, sondern ein Totensdiädel. Es war nicht schwer zu
erraten, daß diese Vision einen Wunsch enthielt. Diese Dame war
einst ihre intimste Freundin gewesen, aber die Freundschaft hatte sich
in glühenden Haß verwandelt, der just in der Stunde des Unfalles
neue Nahrung gewonnen hatte. Die Annahme, daß es sich um eine
Selbstbestrafung für einen Mordwunsch handelte, wurde sofort be-
stätigt, da mir die Patientin erzählte, sie habe schon einmal eine
ähnliche Vision gehabt mit einer andern Frau, und in demselben
Augenblick sei jene Frau gestorben. Der Armbruch schien also genü-
gend motiviert; selbst für einen Seelensucher, wie ich es bin. Aber
der weitere Verlauf belehrte mich eines Besseren. Der Armbruch
heute glatt, jedoch noch drei Jahre lang traten von Zeit zu Zeit
Schmerzen auf, die bald mit Witterungswechsel, bald mit Überanstren-
gung begründet wurden. Allmählich kam ein ausgeprägter Onanie-
komplex zum Vorschein, in dessen Bereich die Mordphantasien ge-
zogen worden sind und der der Kranken so widerwärtig war, daß
sie es vorzog, die Mordvision davorzustehen und so eine FreiheU
154
von ihrem Selbstbefriedigungstriebe zu erlangen, ohne die Onanie
bewußt werden zu lassen.
Und damit bin ich zu einer bemerkenswerten Feststellung gelangt.
An meiner Uhrkettte hängt ein kleiner Totenschädel, das Geschenk
meiner lieben Freundin. Ich habe schon oft geglaubt, mit dem Onanie-
komplex fertig zu sein, ihn wenigstens für meine Person gelöst zu
haben. Solch ein kleiner Vorgang Jedoch wie der heute, wo ich beim
Spielen mit der Kette im Schreiben behindert bin, beweist mir, wie
tief ich noch darin stecke. Die Onanie ist mit dem Tode bedroht ; das
ergibt sich aus der seltsamen Ableitung des Namens von einem ganz
andern Vorgang, der eben nur des plötzlichen Todes wegen bemerkens-
wert ist. Der Totenschädel an meiner Kette warnt mich, er wiederholt
mir eindringlich die vielen Mahnungen der Onanienarren, daß man
erkrankt, verrückt wird, stirbt, wenn man den Trieb frei walten läßt.
Die Angst vor der Onanie frißt sich tief in die mensdiliche Seele
ein. Ich erzählte Ihnen schon, warum. Weil, ehe noch irgend etwas von
der Welt dem Kind bekannt wird, ehe es noch den Mann vom Weib
unterscheiden kann, ehe es weiß, was nah und fern ist, wenn es noch
nach dem Monde greift und den eigenen Kot für ein Spielzeug hält, die
Mutterhand drohend das wollüstige Spiel am Geschlechtsteil unterbridit.
Es gibt aber nodi eine andre Beziehung zwisdien Tod und
Wollust, die wichtiger ist als die Angst und die symbolisierende Be-
sonderheit des Es aufdringlich bekundet.
Für den harmlosen Menschen, der noch nicht vom Denken an-
gekränkelt ist, erscheint der Tod wie ein Fliehen der Seele aus dem
Körper, wie ein Aufgeben seiner selbst, ein Scheiden aus der Welt.
Nun, dieses Sterben, dieses Ausderweltheraustreten, dieses Auf-
geben des Ichs tritt für Momente auch im Leben ein, es tritt ein,
wenn der Mensch sich auflöst in Wollust, sinnlos, bewußtlos wird im
Genießen, wenn er, wie der Volksausdruck lautet, im andern stirbt.
Mit andern Worten, Tod und Liebe sind gleich. Sie wissen, der Grieche
gab dem Eros dieselben Züge wie dem Tode, gab dem einen die er-
155
hobene, erigierte, lebendige, dem andern die gesenkte, erschlaffte, tote
Fackel in die Hand, ein Zeichen, daß er die symbolische Gleichheit,
die Gleichheit vor dem Es kannte. Und wir alle kennen diese Gleicfa-
he,t ebenso. Für uns ist ebenso die Erektion das Leben, der leben-
spendende Samenerguß das Sterben in Frieden und die Erschlaffung
der Tod. Und je nachdem die Konstellation unsrer Gefühle bei der
Idee des Todes im Weibe ist, entsteht bei uns der Glaube an eine
Himmelfahrt ins Reich der Seligen oder an ein Versinken im Pfuhl
der Hölle; denn Himmel und Hölle sind abgeleitet vom Sterben des
Mannes in der Umarmung, vom Austreten seiner Seele in den Schoß
des Weibes, entweder mit der Hoffnung auf eine Auferstehung nach
dreimal drei Monaten im Kinde oder mit der Angst vor ungelöschten
Feuern der Begierde.
Tod und Liebe sind eins, da ist kein Zweifel. Ob aber je ein
Mensch zu diesem wahren Sterben, wo der Mann im Weibe, das Weib
im Manne aufgeht, gekommen ist, weiß ich nicht Ich halte es bei den
Kulturschichten von unsersgleichen für fast unmöglich, jedenfalls sind
es so seltene Erlebnisse, daß ich keine Mitteilungen darüber machen
kann. Vielleicht sind die Menschen, deren Phantasie sich den Vorgang
des Todes in der Umarmung ausmalt, der Möglichkeit eines solchen
symbolischen Sterbens am nächsten, und da wirklich Todesfälle in
dem Moment des höchsten Genusses vorkommen, darf man wohl an-
nehmen, daß bei solchen Ereignissen auch der symbolische Liebestod
durdilebt wird. Die Sehnsucht danach, die sich in Musik, Gedicht und
Redewendung ausspricht, ist allgemein verbreitet und gibt Anhalts-
punkte, um die Fäden zwischen Tod und Liebe, Grab und Wiege,
Mutter und Sohn, Kreuzigung und Auferstehung zu verfolgen.
Dicht an den symbolischen Tod gelangen wohl die, die den hyste-
rischen Krampfanfall durchleben, der Ja, wie der Augenschein lehrt,
eine Onaniephantasie ist.
Aber ich bin weit abgeirrt. Hoffentlich finden Sie sich zurecht
haben Geduld und gestatten mir, das nächstemal den Faden wieder'
156
aufzunehmen. Ich halte es für wichtig, daß Sie einmal kennen lernen,
was alles ich im Zögern des Schreibens vermute.
Herzlichst
Ihr
PATRIK TROLL.
17.
ES WUNDERT MICH NICHT, LIEBE FREUNDIN, DASS SIE MEINE
Ansichten nidit teilen. Ich bat Sie sdion einmal, meine Briefe wie eine
Reisebeschreibung zu lesen. Aber idi habe nicht verlangt, daß Sie
dieser Reisebesdireibung mehr Wert beilegten als der jenes Engländers,
der nach einem Aufenthalt von zwei Stunden in Calais behauptete,
die Franzosen seien rothaarig und sommersprossig, weil zufällig der
ihn bedienende Kellner so war.
Sie machen sich lustig darüber, daß ich dem Es eine Absiditlich-
keit zuschreibe, die Ausgleiten und Zerbrechen eines Gliedes herbei-
zuführen vermag. Ich bin auf diese Vermutung - mehr ist es nicht -
gekommen, weil sich damit arbeiten läßt. Für mich gibt es zwei Arten
von Ansichten: solche, die man zum Vergnügen hat, Luxusansichten
also, und solche, die man als Instrumente verwendet, Arbeitshypo-
thesen. Ob sie riditig oder falsch sind, ist für mich nebensächlich. Ich
halte es da mit der Antwort Christi auf die Frage des Pilatus : „Was
ist Wahrheit?" wie sie in einem der Apokryphen-Evangelien mitge-
teilt wird. „Wahrheit ist weder im Himmel nodi auf Erden noch
zwischen Himmel und Erde."
Im Laufe meiner Seelensudierei bin ich dazu gebracht worden,
midi lue und da mit dem Sdiwindel zu beschäftigen, und ich bin da,
ich möchte fast sagen, gegen meinen Willen gezwungen worden, anzu-
nehmen, daß Jeder Seh windelan fall eine Warnung des Es ist : „Gib
acht, sonst fällst du!" Wenn Sie die Sadie nachprüfen wollen, müssen
Sie nur gütigst im Auge behalten, daß es zwei Arten des FaUens
gibt, ein reales Fallen des Körpers und ein moralisches Fallen, dessen
157
Wesen in der Erzählung vom Sündenfall geschildert wird. Das Es
scheint außerstande zu sein, beide Arten scharf voneinander zu trennen
oder, ich will mkfa lieber so ausdrücken, es denkt bei dem einen Fallen'
sofort an das andre. Der Schwindelanfall bedeutet also stets eine
Warnung „ach beiden Seiten, er wird in realem und übertragen-
symbohschem Sinne gebrauch,. Und wenn das Es der Ansicht ist, daß
e.n emfacher Schwindel, ein Fehltritt, ein Stolpern, ein Rennen gegen
emen Laternenpfahl, ein Schmerz am Hühnerauge oder das Treten
auf emen scharfen Stein zu einer eindringlichen Mahnung nicht aus-
renkt, wirft es den Menschen zu Boden, schlägt ihn, ein Loch in den
d-deen Schädel, verletzt ihm das Auge oder bricht ihm ein Glied, das
U,ed, mit dem der Mensch sündigen will. Vielleicht schickt es ihn,
auch eme Krankheit, eine Gicht zum Beispiel, ich komme gleich darauf
zurück.
Vorläufig mödite ich nur hervorheben, daß nidat idi einen Mord-
gedanken, emen Ehebruchswunsch, ein Ausmalen des Diebstahles, eine
Onaniephantasie für Sünde halte, sondern das Es des betreffenden
Menschen. Idi bin weder Pfarrer noch Richter, sondern Arzt Gut und
Böse gehen mich nichts an, ich habe nicht zu urteilen, sondern kon-
statiere nur, daß das Es dieses oder jenes Mensdien dies oder das
für Sünde hält, so oder so richtet Was mich selbst anbetrifft, so be-
strebe ich mich, dem Satze zu folgen : „Richtet nicht, auf daß ihr nicht
gerichtet werdet!« Und ich dehne den Sinn dieses Wortes so weit aus,
daß ,di auch das Richteramt über mich selbst abzulehnen versuche und
meine Kranken dazu veranlasse, ebenfalls das Sithselbstrichten aufzu-
geben. Das klingt sehr fromm oder sehr frivol, je nachdem, was man
heraushören will, im Grunde ist es nur ein medizinischer Kunstgriff.
Daß Unheil daraus entstehen könnte, befürchte ich nicht Wenn ich
den Leuten sage - und ich tue das - „Sie müssen so werden, daß
ZllLr^ t Qkli(h :r heUen Mittag auf <** *>**» ***
stheTl T C H °7;^ ÖpfeQ Und — Haufen hinsetzen können,«
hegt der Ton auf dem Worte können. Daß der Kranke es niemals
158
tun wird, dafür sorgen Polizei und Sitte und seine seit Jahrhunderten
ihm anerzogene Angst. In dieser Beziehung fühle idi midi selir ruhig,
wenn Sie midi auch noch so oft Satan und Sittenverderber nennen.
Mit andern Worten, man mag sich noch so viele Mühe geben, das
Richten zu lassen, es gelingt nie. Immer und ewig fällt der Mensch
Werturteile, es gehört zu ihm wie seine Augen und seine Nase, Ja
weil er Augen und Nase hat, muß er immer und ewig sagen : Das
ist schlecht. Das braucht er, weil er sich selbst anbeten muß, der De-
mütigste tut es nodi, selbst Cluistus tat es noch am Kreuze mit den
Worten : „Gott! mein Gottl warum hast du mich verlassen?" und mit
den andern: „Es ist vollbracht!" Pharisäer zu sein, stets zu sagen:
„Ich danke dir, Herr, daß idi nicht bin wie jener!" ist menschlich. Aber
ebenso menschlich ist das: „Gott sei mir Sünder gnädig!" Der Mensch
hat wie alles zwei Seiten. Bald kehrt er die eine heraus, bald die
andre, da sind sie aber immer, alle beide. Da der Mensch an den
freien Willen glauben muß, da er sich aus bestimmten Teilen seines
Wesens ein Verdienst machen muß, so muß er auch eine Schuld er-
finden, bei sich, bei andern, bei Gott.
Idi werde Ihnen jetzt eine Gesdiichte erzählen, die Sie nidit glauben
werden. Mir aber macht sie Spaß, und weil in ihr vieles zusammen-
gedrängt ist, was ich Ihnen noch gar nicht oder nicht deutlich genug
vorgetragen habe, sollten Sic hören.
Vor einigen Jahren kam eine Dame in meine Behandlung, die
an chronischen Entzündungen der Gelenke litt. Die ersten Anfänge
der Krankheit lagen IS Jahre zurück. Damals begann in der Pubertäts-
zeit das rechte Bein zu schmerzen und zu schwellen. Als ich sie zuerst
sah, waren Handgelenke, Finger und Ellbogengelenke fast gebrauchs-
unfähig, so daß die Kranke gefüttert werden mußte, die Schenkel
konnten nur wenig auseinandergenommen werden, beide Beine waren
vollkommen steif, der Kopf konnte nicht gedreht und nicht gebeugt
werden, zwischen die Zähne konnte man die Finger nicht einführen,
weil die Kinnbackengelenke erkrankt waren, und die Kranke war nicht
159
imstande, die Arme bis zur Sdiulterhöhe zu heben. Kurz, sie war,
wie sie in einer Anwandlung von Galgenhumor sagte, unfähig, wenn
etwa der Kaiser angeritten käme, Hurra zu rufen und ihm zuzuwinken,
wie sie es als Kind getan hatte. Sie hatte zwei Jahre im Bett gelegen,
war gefüttert worden, alles in allem, ihr Zustand war trostlos. Und
wenn audi die Diagnose Gelenktuberkulosc, mit der man es bei ihr
Jahrelang probiert hatte, nicht zutraf, war man dodi berechtigt, von
einer Arthritis deformans schwerster Art zu sprechen. Die Kranke geht
jetzt wieder, ißt allein, arbeitet mit dem Spaten im Garten, steigt
Treppen, biegt die Beine ausreichend und dreht und beugt den Kopf,
wie sie will, kann die Beine spreizen, soweit sie Lust hat, und wenn
der Kaiser wirklich käme, würde sie Hurra rufen können. Mit andern
Worten, sie ist geheilt, wenn man eine völlige Leistungsfähigkeit Heilung
nennen darf. Auffallend ist noch jetzt eine seltsame Art, beim Gehen
das Hinterteil weit herauszustrecken, was beinahe aussieht, als ob sie
zum Sdilagen auffordern wollte. Und all diese Qualen hat sie gehabt,
weil ihr Vater Friedrich Wilhelm hieß und weil man ihr neckend gesagt
hatte, daß sie nicht das Kind ihrer Mutter, sondern hinter der Hecke
gefunden worden sei.
Ich komme damit auf das zu spredien, was meine Gesinnungs-
genossen in Freud den Familienroman nennen. Sie werden sich der
Zeiten Ihrer Kindheit erinnern, wo Sie sich lebhaft in Spiel oder Nach-
denken mit der Phantasie beschäftigten, daß Sie Ihren echten Eltern,
Leuten hohen Ranges, von Zigeunern gestohlen, daß Vater und Mutter,
bei denen Sie wohnten, nur Pflegeeltern seien. Solche und ähnliche
Gedanken hegt jedes Kind. Es sind im Grunde verdrängte Wünsche.
Solange man noch als Wickelkind das Haus kommandiert, ist man
mit seinen Angehörigen zufrieden, aber wenn die Erziehung mit ihren
berechtigten und unberechtigten Ansprüchen kommt und in unsre
lieben Gewohnheiten eingreift, finden wir unsere Eltern zu Zeiten gar
nicht wert, solch vorzügliches Kind zu haben. Sie werden von uns, die
wir trotz Indiehosenmachens und kindlicher Schwäche die Illusion
160
unsrer Bedeutung aufrecht haken wollen, zu Stiefeltern, Eseln und
Hexen degradiert, während wir uns selbst als gequälte Prinzen vor-
kommen. Das alles können Sie aus Sagen und Märchen selber heraus-
lesen, oder wenn Sie es bequemer haben wollen, in geistreidien Büdiern
der Freudschen Schule finden. Und da hören Sie denn audi, daß wir
alle ursprünglidi den Vater für das stärkste, beste, höchste Wesen
halten, daß wir aber allmählich sehen, wie er vor diesem oder jenem
bescheiden wird, wie er gar nicht der absolute Herr ist, den wir in
ihm sahen. Weil wir aber durchaus die Idee festhalten wollen, des
Höchsten Kinder zu sein, - denn Ehrfurdit ist ebenso wie Eitelkeit
ein Gefühl, das wir nidit aufgeben können - phantasieren wir uns den
Kinderraub, die Unterschiebung, unser Lebensmärchen zuredit. Und um
auch das noch zu erwähnen, weil uns zu guter Letzt auch der König nidit
erhaben genug ist, um unsre rastlose Sucht nach Größe zu stillen, dekre-
tieren wir, Gotteskinder zu sein, und erschaffen den Begriff Gottvater.
Ein soldier Familienroman lebte, ihr selbst unbewußt, in jener
Kranken, von der ich Ihnen erzählen will. Ihr Es hat dazu zwei Namen
benutzt, den ihres Vaters Friedrich Wilhelm und den eigenen Augusta.
Als Ergänzung hat es noch die Kindertheorie herangezogen, daß das
Mädchen durch Kastration aus dem Knaben entsteht. Der Gedanken-
gang ist folgender gewesen : Ich stamme ab von Friedrich Wilhelm,
dem damaligen Kronprinzen, späteren Kaiser Friedrich, bin eigentlidi
ein Knabe, Thronerbe und nunmehr rechtmäßiger Kaiser, mit Namen
Wilhelm. Man hat midi gleich nach der Geburt entführt und an meiner
Stelle ein Hexenkind in die königliche Wiege gelegt, das herangewachsen
die Kaiserkrone als Wilhelm II. an sich riß, widerrechtlich und zu meinem
Sdiadcn. Mich selbst hat man hinter einer Hecke ausgesetzt und, um
mir jede Hoffnung zu nehmen, durdi Abschneiden der Geschlechtsteile
zum Mädchen gemacht. Als einziges Zeichen meiner Würde gab man
mir den Namen Augusta, die Erhabene.
Man kann die Anfänge dieser unbewußten Phantasien leidlich
genau bestimmen. Sie müssen spätestens in dem Jahre 1888 entstanden
11 Groddeck, Das Buch vom Es.
161
]
sein, also in einer Zeit, in der die Kranke nodi nidit vier Jahre alt
war. Denn die Idee, aus der Hohenzollern-Familie zu stammen, gründet
sich auf den Namen Friedrich Wilhelm, den der erträumte Vater nur
als Kronprinz führte. Das Reden über seine Krebserkrankung, mit
der die Vierjährige wohl kaum etwas andres anzufangen wußte, als
an das Wort Krebs die Idee der Schere, des Schneidens, der Kastration
anzuknüpfen, fällt dabei ins Gewicht. Es verknüpft sich mit den per-
sönlichen Erfahrungen des Nägel- und Haarabschneidens, dessen Be-
ziehungen zu dem Kastrationskomplex sidi noch aus dem Anschauen
und Vorlesenhören des Struwwelpeters verstärkten ; steht doch in diesem
ewigen Buch auch noch die Geschichte von Konrad dem Daumenlutscher,
eine Geschichte, die alte Sehnsüchte nach der Mutterbrust und quälende
Erinnerungen an die Entwöhnung, diese unentrinnbare Kastration von
der Mutter, weckt.
Ich deute das alles kurz an, damit Sie selber ein wenig nachdenken.
Denn nur durch eignes Nachdenken können Sie sich davon überzeugen,
wie gerade in dem Alter zwischen drei und vier Jahren der Boden
für eine Phantasie vorbereitet ist, die so ungeheuerlich wirkt wie die
meiner Patientin. Hören Sie nur zu : Das Es dieses Menschen ist über-
zeugt oder vielmehr will sich überzeugen, daß es das Es eines recht-
mäßigen Kaisers ist Der Träger der Krone schaut nicht nach rechts
und nach links, er urteilt ohne Seitenblidce, er beugt sein Haupt vor
keiner Macht der Erde. „Also,« befiehlt das Es den Säften und Kräften
des von ihm gebannten Menschen, „stellt mir den Kopf fest, mauert
seine Wirbel ein. Schließt ihm die Kinnbacken, daß er nicht Hurra
schreien kann; er hat es schon einmal getan, dem Usurpator, dem
untergeschobenen Hexenkind zugejubelt und zugewinkt. Lahmt ihm
die Schultern, damit er nie wieder mit erhobenem Arm dem falschen
Kaiser huldigen kann; die Beine müssen steif werden, nie darf dieser
erhabene Kaiser vor irgendwem knien. Die Schenkel preßt zusammen,
so daß niemals ein Mann zwischen ihnen liegen kann. Denn das wäre
das Gelingen des teuflischen Plans, wenn dieser Körper, den gemeiner
162
Haß und erbärmlicher Neid aus einem männlichen in einen weiblichen
verwandelt hat, ein Kind gebären müßte. Es wäre die Vereitelung
aller Hoffnungen. Haltet ihn an, den Unterleib zurückzuziehen, damit
niemand den Eingang findet, warnt ihn vor der Wölbung des Bauchs,
zwingt ihn zum Gehen und Stehen mit rückwärts gepreßtem Kreuz.
Noch ist kein Grund dazu vorhanden, anzunehmen, daß das
tückisch geraubte Mannesabzeichen nicht wieder wachsen könnte,
daß dieser Kaiser nidit wirklich Mann werden könnte. Zeigt dem
Entmannten, ihr Säfte und Kräfte, daß es möglich ist, schlaffe
Glieder steif werden zu lassen, bringt ihm den Begriff der Erektion,
des Steifwerdens dadurch bei, daß ihr die Beine verhindert, sich zu
biegen, zu erschlaffen, lehrt ihn im Symbol zu zeigen, daß er ein
Mann ist."
Ich kann mir vorstellen, verehrte Freundin, wie unwillig Sie aus-
rufen : „Welcher Unsinn !" Und dann kommen Sie wohl gar auf die
Idee, daß ich Ihnen die Größenwahnideen einer Verrückten erzähle.
Das müssen Sie nicht denken. Die Kranke ist geistig ebenso gesund
wie Sie ; was ich Ihnen erzählte, sind einige Ideen, - längst nicht alle
- die ein Es dazu bringen können, Gidit entstehen zu lassen, einen
Menschen zu lähmen. Wenn meine Mitteilungen Sie jedoch dazu
brächten, einige wenige Überlegungen über die Entstehung von Geistes-
krankheiten daran anzuknüpfen, würde Ihnen klar werden, daß der
Verrückte, vorurteilslos betrachtet, gar nicht so verrückt ist, wie es im
ersten Augenblick den Anschein hat, daß seine fixen Ideen solche sind,
wie wir sie alle haben, haben müssen, weil sich auf ihnen das Menschen-
geschehen aufbaut Warum aber bei dem einen das Es aus solchen
Ideen die Religion von Gottvater, bei dem andern die Gicht, bei dem
dritten die Verrücktheit macht, warum es bei wieder andern die
Gründung von Königreichen, Zepter und Krone, bei Bräuten den
Brautkranz, bei uns allen das Streben nach Vervollkommnung, den
Ehrgeiz und das Heldentum entstehen ließ, das sind Fragen, die Sie
in langweiligen Stunden beschäftigen mögen.
n*
163
Sie müssen nicht glauben, daß ich dieses Königsmärchen so glatt
in der Seele meiner Klientin fand, wie ich es dargestellt habe. Es war
in tausend Fetzen zerrissen, die in den Fingern, der Nase, den
Eingeweiden und dem Unterleib verborgen waren. Wir haben sie
gemeinsam zusammengeflidit, haben vieles mit Absidit, noch mehr aus
Dummheit nicht gefunden oder fortgelassen. Ja, ich muß am Sdüusse
noch eingestehen, daß ich alles Dunkle - und gerade das ist das
Wesentliche - beiseite geschoben habe. Denn - aber Sie müssen wieder
vergessen, was ich jetzt sage - letzten Endes ist alles, was man vom Es
zu wissen glaubt, nur bedingt richtig, nur richtig in dem Moment, wo
das Es in Wort, Gebärde, Symptom sich äußert. Schon in der nächsten
Minute ist die Wahrheit fort und nidit mehr zu finden, weder im
Himmel noch auf Eiden, nodi zwischen Himmel und Erde.
PATRIK TROLL.
18.
ALS GELEHRIGE SCHÜLERIN VERLANGEN SIE, LIEBE FREUNDIN,
Auskunft, warum ich, statt meine Ideen über das Spiel mit der Uhr-
kette weiter mitzuteilen, Geschichten erzähle, die gar nicht dazugehören.
Ich kann Ihnen dafür eine komische Erklärung geben. Neulich, als ich
diese kleine Selbstanalyse begann, schrieb ich Ihnen : „In der rechten
Hand halte ich den Federhalter, mit der linken spiele ich an der
Uhrkette," und fühlte im Anschluß daran aus, daß beides Onanie-
komplexe sind. Dann fuhr ich fort: „Mein Blick ist auf die Wand
gegenüber gerichtet, auf eine holländische Radierung, die Rembrandts
Gemälde von der Beschneidung Jesu wiedergibt." Das ist gar nicht
wahr; die Radierung ist nach dem Gemälde von Jesu Darstellung im
Tempel in Gegenwart einer Menge Menschen gemacht. Ich hätte das
wissen müssen, wußte es auch tatsächlich, denn ich habe diese Radie-
rung viele, viele Male eingehend betrachtet Und doch zwang mich
mein Es, dieses Wissen zu vergessen und aus der Darstellung eine
Beschneidung zu machen. Warum ? Weil ich im Onaniekomplex be-
164
fangen war, weil die Onanie strafwürdig ist, weil sie mit Kastration
bestraft wird und weil die Bescfaneidung eine symbolische Kastration
ist. Mein Unterbewußtes verlangte als Reaktion auf die Onanie-Idee
die Idee der Kastration ; dagegen verwarf es mit Bestimmtheit die
Idee, daß das Kinddien Jesus im Tempel aller Augen dargestellt
würde ; denn dieses Knäblein ist wie jedes Knäblein ein Symbol des
männlichen Gliedes, der Tempel ein Symbol der Mutter. Wäre der
Gegenstand der Radierung bis in mein Bewußtsein gelangt, so hätte
das in der nahen Verbindung mit dem Uhrketten spiel und Feder-
halten bedeutet : „Du treibst dein Spiel mit dem symbolischen Knäblein
vor den Augen aller und verrätst ihnen sogar, daß letzten Endes
dieses Onaniespiel der Mutterimago gilt, wie sie Rembrandt in geheim-
nisvollem Helldunkel als Tempel symbolisiert hat." Das war auf Grund
des doppelten Verbots der Onanie und der Blutschande dem Un-
bewußten unerträglich und es zog vor, sofort die symbolische Bestrafung
heranzuziehen.
Daß der Ritus der Beschneidung wirklich etwas mit der Kastration
zu tun hat, möchte ich deshalb annehmen, weil seine Einführung mit
dem Namen Abrahams in Verbindung gebracht ist. Aus Abrahams
Leben wird die seltsame Erzählung vom Opfer Isaaks beriditet, wie
der Herr ihm befiehlt, seinen Sohn zu schlachten, wie er das gehorsam
ausführen will, aber im letzten Augenblick durch den Engel daran
verhindert wird ; an Isaaks Stelle wird der Widder geopfert. Wenn
Sie ein wenig guten Willen haben, können Sie aus dieser Geschichte
herauslesen, daß das Opfer des Sohnes ein Abschneiden des Penis,
der Ja im Symbol durch den Sohn vertreten wird, bedeutet Es würde
mit der Erzählung ausgedrückt werden, daß an Stelle der Selbst-
kastration des Gottesdieners, die ihre Ausläufer in dem Keuschheits-
gelübde der katholischen Priester hat, zu irgendeiner Zeit das Tier-
opfer getreten ist ; der Widder eignet sich für das Enträtseln der
Symbolik deshalb besonders, weil in der Schafzucht von Jeher die
Kastration üblich gewesen ist. Betrachtet man die Dinge so, so ist die
165
Erzählung von dem Besdineidungsbunde zwischen Jehovah und
Abraham nur eine Wiederholung des symbolischen Märchens in andrer
Form, eine Verdoppelung, wie sie häufig in der Bibel und anderwärts
zu finden ist Die Beschneidung würde danach der symbolische Rest
der gottesdienstlichen Entmannung sein. Aber sei dem, wie ihm wolle,
für mein Unbewußtes - und das kommt ja bei der Verwechselung
von Besdineidung und Darstellung aliein in Betracht - sind Be-
schneidung und Kastration nahe verwandt, ja identisch ; denn wie so
vielen Andern ist auch mir erst verhältnismäßig spät klar geworden,
daß ein Verschnittener, ein Eunuch, etwas andres ist als ein Be-
schnittener.
Übrigens haben diese Zusammenhänge zwischen Verschneidung
und Beschneidung eine besondere Bedeutung in der Freudschen Lehre,
so daß ich Ihnen empfehlen muß, Freuds Schrift von Totem und Tabu
zu lesen. Meinerseits möchte ich nur vorläufig eine kleine völker-
psychologische Phantasie zum besten geben, mit der Sie machen können,
was Sie wollen. Mir scheint, daß in den Zeiten, wo die Ehen noch
frühzeitig geschlossen wurden, der älteste Sohn ein ziemlich uner-
wünschter Mitbewohner des Heims für den Vater gewesen sein muß.
Die Altersunterschiede waren so gering, daß der Erstgeborene in allen
Dingen der geborene Nebenbuhler des Vaters war, ja daß er besonders
gefährlich für die nicht viel ältere Mutter werden mußte. Selbst jetzt
sind ja Vater und Sohn natürliche Rivalen und Feinde, auch wiederum
der Mutter wegen, die der eine als Frau besitzt, der andre mit seiner
heißesten Liebe begehrt. Damals aber, als die Überlegenheit des Alters
noch nicht so mitsprach, als die Leidenschaften und Triebe noch heißer
und ungebändigt waren, lag der Gedanke für den Vater nahe, den
unbequemen Sohn zu töten, ein Gedanke, der nun längst verdrängt
ist, sich aber oft und stark in mannigfachen Lebensbeziehungen und
Krankheitssymptomen geltend macht. Denn Vaterliebe sieht, näher
betrachtet, nicht weniger seltsam aus als Mutterliebe. Dann wäre an-
zunehmen, daß es ursprünglich Gewohnheit war, den ältesten Sohn
166
zu töten, und weil der Mensch nun einmal Sdiauspieler und Pharisäer
ist, hat man aus dem Verbrechen eine gottesdienstlidie Handlung ge-
madit und den Sohn geopfert. Das hatte neben der Verklärung ins
Edle noch den Vorteil, daß man ihn nach dem Morde aufessen konnte
und so die kindlidie Idee des Unbewußten, daß die Schwangersdiaft
aus dem Verzehren des Penis, des symbolischen Sohnes, entsteht, dar-
zustellen vermochte. Mit der allmählidien Verdrängung des Haßtriebes
verfiel man dann auf andere Methoden, zumal bei wachsendem Be-
dürfnis nach Arbeitskräften der einfache Mord unzweckmäßig war.
Man entledigte sich des Rivalen in der Liebe durch seine Entmannung,
braudite nichts mehr zu fürditen und hatte ohne viel Mühe einen
Sklaven gewonnen. Wenn die Bevölkerung zu dicht wurde, griff man
zu dem Mittel, die Erstgeborenen in die Fremde zu treiben, ein Ver-
fahren, das als ver sacrum noch aus historischen Zeiten bekannt ist.
Und schließlich, als der Ackerbau und das Zusammenfließen der
Stämme zu Völkern die Erhaltung der vollen Leistungsfähigkeit und
Wehrkraft aller Söhne erforderte, symbolisierte man den Mord und
erfand die Beschneidung.
Wollen Sie nun den phantastischen Ring schließen, so müssen Sie
die Sache auch von der Seite des Sohnes anpadten, der ja den Vater
nicht minder haßt als der Vater den Sohn. Der Mordwunsch gegen
den Vater setzt sich um in die Kastrationsidee, wie sie im Mythus
von Zeus und Kronos auftritt, und daraus wird dann die gottesdienst-
liche Entmannung des Priesters; denn wie der Penis symbolisch der
Sohn ist, so ist er auch der Erzeuger, der Vater, und seine Ver-
schneidung ist der Vatermord im Gleichnis.
Ich fürchte Sie zu ermüden, aber ich muß nochmals auf meine
Uhrkette zurückkommen. Neben dem Totenschädel, der daran befestigt
ist, hängt noch eine kleine Erdkugel. Bei der sprunghaften Laune
meiner Gedanken fällt mir ein, daß die Erde ein Symbol der Mutter
ist, daß also das Spielen damit einen Inzest im Gleichnis darstellt.
Und da der Totenkopf daneben droht, ist es erklärlich, daß meine
167
Feder stockte, weil sie den beiden Todsünden der Onanie und Blut-
schande nicht dienstbar werden wollte.
Wohin führen nun die Gehörseindrücke, von denen ich Ihnen
schrieb, die Marschmusik, der Käuzchenschrei, das Automobil und die
elektrische Bahn? Für den Marsch sind Takt und Rhythmus be-
zeichnend, und von dem Worte Rhythmus aus gehen die Gedanken
zu der Betrachtung über, daß jede Tätigkeit leiditer ausgeführt wird,
wenn man sie im Takte rhythmisch ordnet ; das weiß ein jedes Kind.
Vielleicht gibt auch das Kind Antwort, warum das so ist. Vielleicht
sind Takt und Rhythmus gute Bekannte, unentbehrliche Lebens-
gewohnheiten vom Mutterleibe an. Vermutlich ist das ungeborene
Kind auf eine kleine Zahl von Wahrnehmungen beschränkt und unter
denen nimmt die Empfindung für den Rhythmus und Takt den ersten
Platz ein. Das Kind schaukelt im Mutterleibe, bald schwächer, bald
stärker, je nach den Bewegungen der Mutter, je nach ihrer Gangart
und dem Tempo ihres Schrittes. Und ununterbrochen klopft in dem
Kinde das Herz, im Takt und im Rhythmus, seltsame Melodien, denen
das Kind lauscht, vielleicht mit den Ohren, sicher mit dem Gemein-
gefühl des Körpers, der die Erschütterung empfindet und im Unbe-
wußten verarbeitet.
Es wäre wohl lockend, hier ein paar Betrachtungen über dieses
Phänomen einzuschalten, wie dem Rhythmus nicht nur das bewußte
Tun des Menschen, seine Arbeit, seine Kunst, sein Gang und Handeln
unterworfen ist, sondern auch das Schlafen und Wachen, Atmen, Ver-
dauen, das Wadisen und Vergehen, ja alles und jedes. Es scheint,
daß das Es im Rhythmus ebenso sich äußert wie im Symbol, daß er
eine unbedingte Eigenschaft des Es ist, oder wenigstens, daß wir, um
das Es und sein Leben betrachten zu können, ihm rhythmische Eigen-
schaften zuschreiben müssen. Aber das führt mich zu weit ab und
lieber lenke ich Ihre Aufmerksamkeit darauf, daß mich der Marsch
auf Schwangerschaftsgedanken geführt hat, die schon vorher in der
Erwähnung der Erdkugel an meiner Uhrkette anklangen- Denn diese
168
Erdkugel — idi brauche es kaum zu sagen - ist durch das Wort von
der Mutter Erde und die Rundung der Kugel gewiß eine Andeutung
des hoffenden Mutterleibes.
Jetzt sehe ich auch ein, warum ich mit der Ferse den Takt dazu
trete, statt mit der Fußspitze. Die Ferse steht für jedweden von Kind-
heit an in unbewußter Beziehung zum Gebären. Denn wir alle werden
ja mit der Geschichte vom Sündenfall großgezogen. Lesen Sie sie doch
einmal. Das Auffallendste daran ist, daß sich nach dem Essen der
Frucht die beiden Menschen ihrer Nacktheit schämen. Das beweist,
daß es sich um eine symbolische Erzählung über die Sünde der
Geschlechtslust handelt Der Paradiesgarten, in dessen Mitte der Kaum
des Lebens und der Erkenntnis - erkennen ist der Ausdruck für
beschlafen - „steht", spricht für sich selber. Die Schlange ist ein ur-
altes, überall wiederkehrendes Phallussymbol : ihr Biß vergiftet, madit
schwanger. Die Frucht, die Eva reicht, die übrigens bezeichnender-
weise von den Jahrhunderten stets als Apfel, als Frucht der Liebes-
göttin, aufgefaßt worden ist, obwohl in der Bibel das Wort Apfel
nidit steht, diese Frucht, die sdiön anzuschauen und gut zu essen ist,
entspricht der Brust, dem Hoden, der Hinterbacke. Hat man diese
Zusammenhänge erfaßt, so ist sofort klar, daß der Fluch: Das Weib
wird der Schlange den Kopf zertreten und die Schlange wird das
Weib in die Ferse stechen, die Erschlaffung, den Tod des Gliedes
durch die Samenergießung und den Storchenbiß unsrer Kinderzeit,
die Geburt bedeutet. Daß ich die Ferse zum Takttreten benutzte,
zeigt, wie stark mein Unbewußtes in dem Gedankengang der Schwanger-
schaft befangen war. Aber zugleich auch in dem der Kastration. Denn
im Zertreten des Schlangenkopfes ist Erschlaffung und Kastration
gleichzeitig enthalten. Und dicht daneben drängt sich auch schon wieder
die Todesidee. Das Zertreten des Kopfes ist wie eine Enthauptung,
eine Todesart, die auf dem symbolisierenden Wege aus Gliederschlaffung
- Kastration sich entwickelt hat. Einen Kopf kürzer wird der Mensch,
einen Kopf kürzer das Glied, dessen Eichel nach der Begattung in
169
die Vorhaut zurückschlüpft. Sie können das alles, wenn es Ihnen
Freude macht, in den Sagen von David und Goliath, Judith und
Holofernes, Salome und Johannes dem Täufer weiter verfolgen.
Der Beischlaf ist ein Tod, der Tod am Weibe, eine Vorstellung,
die sich durch die Geschichte der Jahrtausende hinzieht. Und der Tod
schreit in meine Gehörswahrnehmungen scharf und schrill hinein mit
dem Käuzchenruf: „Komm mit, komm mit.« Dabei klingt wieder das
Motiv der Onanie in dem Automobilsignal an ; ist das Auto doch ein
bekanntes Sinnbild der Selbstbefriedigung, wenn es nicht gar seine
Erfindung dem Onanietriebe verdankt. Daß die elektrische Bahn -
wohl auf dem Assoziationswege der Reibungselektrizität und der
Menschenbeförderung - in sich das Onanie- und Schwangerschafts-
symbol vereinigt, läßt sich schon aus der Tatsache schließen, daß die
Trau, dieser symbol empfindliche, der Kunst nahe verwandte Mensch-
heitsteil, stets falsch vom elektrischen Wagen abspringt, - um zu fallen.
Nun klärt sich für mich auch eine andere Seite des Marsch-
problems. Vor vielen Jahren hörte ich diese Takte beim Rückweg vom
Begräbnis eines Offiziers. Mir hat das immer ausnehmend gefallen,
daß Soldaten, die eben den Kameraden in die Gruft versenkt haben,
mit fröhlichem Spiel ins Leben zurückkehren. So sollte es überall
sein. Sobald die Erde über der Leiche liegt, ist keine Zeit mehr für
Trauer: „Schließt die Reihen."
Finden Sie mich hart ? Ich finde es hart, von den Menschen zu
verlangen, daß sie drei Tage lang traurig sind ; ja, soweit ich die
Menschen kennengelernt habe, sind schon drei Tage unerträglich.
Die Toten haben immer Recht, heißt es im Sprichwort, im Grunde
haben sie immer Unrecht Und wenn man ein wenig nachforscht,
kommt man dahinter, daß die ganze Traurerei eitel Angst ist, Ge-
spensterfurcht, die auf derselben ethischen Höhe steht wie die Sitte,
den Toten mit den Füßen zuerst aus dem Hause zu tragen : er soll
nicht wiederkehren. Wir haben die Empfindung, daß der Geist des
Toten in der Nähe der Leiche weilt. Man muß weinen, sonst be.
170
leidigt man das Gespenst, und Gespenster sind rachsüchtig. Liegt der
Körper erst tief unter der Erde, so kann das Gespenst nicht mehr
hervor. Zur größeren Sicherheit wird ihm ein schwerer Stein auf die
Brust gewälzt ; die Redensart von dem Stein, der einem auf die
Brust drückt, beweist, wie überzeugt auch wir Modernen von dem
Weiterleben des Toten im Grabe sind; wir stellen uns vor, wie der
Grabstein auf ihm lastet, und übertragen dieses Gefühl auf uns
selbst, vermutlidi als Strafe für die grausame Einkerkerung unsrer
toten Verwandten. Sollte )edoch wirklich einmal ein Toter auferstehen,
so liegen in Gestalt von Kränzen Fußangeln auf seinem Grabe, die
ihn nicht entkommen lassen.
Ich will nicht ungerecht sein. Das Wort auferstehen beweist, daß
auch noch ein anderer Gedankengang bei der Wahl der drei Tage
mitgesprochen hat, ehe die Leiche beerdigt wird. Drei Tage sind die
Zeit der Auferstehung, und dreimal drei ist neun, die Zahl der
Schwangerschaft. Und die Hoffnung darauf, daß die Seele des Toten
inzwischen den Weg zum Himmel gefunden hat, wo sie freilich weit
entfernt und gut aufgehoben ist, hat auch einen Sinn.
Der Mensch trauert nicht um seine Toten, es ist nicht wahr. Und
wenn er im tiefsten Innern trauert, zeigt er es nicht. Aber selbst
dann ist es noch zweifelhaft, ob seine Trauer dem Toten gilt oder
ob das Es über irgend etwas andres traurig ist und den Todesfall
nur als Vorwand nimmt, um seine Trauer zu rationalisieren, vor der
Dame Moral zu begründen.
Sie glauben es nicht? So schlecht sind die Menschen nicht? Aber
warum nennen Sie es schledit? Sahen sie Je ein kleines Kind um
einen Toten trauern? Und sind etwa die Kinder schlecht? Meine
Mutter erzählte mir, daß ich nach dem Tode meines Großvaters -
ich war damals drei bis vier Jahre alt - händeklatschend um seinen
Sarg herumgesprungen bin und gerufen habe : „Da liegt mein Groß-
vater drin." Meine Mutter hielt mich deshalb nicht für schlecht, und
ich halte midi nicht für berechtigt, moralischer als sie zu sein.
171
Warum aber trauern die Menschen dann ein ganzes Jahr? Zum
Teil der Leute wegen, vor allem aber, um - nach Pharisäerart -vor
sich selbst zu prahlen, sidi selbst zu betrügen. Sie schwuren diesem
Toten und sidi selbst einmal zu, ewig treu zu sein, ihn nie zu ver-
gessen. Und wenige Stunden nadi dem Tode vergessen wir sdion.
Da ist es gut, sidi selbst zu erinnern, durdi sdiwarze Kleider, durdi
Traueranzeigen, durdi das Aufstellen von Bildern und das Tragen
vom Haar des Entschlafenen. Man kommt sidi gut vor, wenn man
trauert.
Darf idi Ihnen im geheimen einen kleinen Wink geben ? Sdiauen
Sie sidi zwei Jahre nadi dem Tode des Gatten oder der Gattin nadi
den vom Sdnnerz gebeugten Überlebenden um: entweder sind sie
audi tot, das ist nidit selten, oder die Witwe ward eine blühende,
zufriedene Dame und der Witwer ist wieder verheiratet
Ladien Sie nidit ! Es hat einen tiefen Sinn und ist wirklich wahr.
Stets Ihr
PATRIK TROLL.
19.
SIE HABEN WIEDER ALLERLEI AUSZUSETZEN. DAS PASST
mir nicht und idi werde daher deutlidi werden. Warum finden Sie
es gesucht, daß ich den Evasapfel mit der Hinterbacke vergleiche?
Es ist nicht meine Erfindung. Die deutsche Sprache zieht diesen Ver-
gleich, die italienische tut es, die englische auch.
Ich will Ihnen sagen, warum Sie gereizt sind und midi schelten.
Die Erwähnung von Evas Popo erinnert Sie daran, daß der Geliebte
Sie zuweilen von hinten nahm, während Sie knieten oder auf seinem
Schöße saßen ; und dessen schämen Sie sich, genau so, als ob Sie
selber die deutsche Wissenschaft wären, die prüde die Lust mit dem
Ausdruck more ferarum benennt: nach Art der Tiere, und sich nicht
schämt, ihren Verkündern damit eine Ohrfeige zu geben. Denn sie
weiß ganz gut, daß all diese Jünger more ferarum geliebt haben oder
172
wenigstens Lust dazu gehabt haben. Und sie weiß auch oder sollte
es wenigstens wissen, daß der männlidie Liebesdoldi dreikantig ge-
formt ist und die weiblidie Liebesscheide ebenfalls, und daß der Dolch
in die Sdieide vollkommen nur paßt, wenn er von lünten eingeführt
wird. Hören Sie doch nicht auf das Gesdiwätz der Pharisäer und
Heuchler. Die Liebe ist nicht des Kinderkriegens wegen da und die
Ehe ist keine Moralanstalt. Der Gesdüeditsverkehr soll Lust bringen
und in allen Ehen, bei den keuschesten Männern und reinsten Frauen,
wird er in allen Formen ausgeübt, die sich ausdenken lassen, als
gegenseitige Onanie, als Schaustellung, als sadistischer Scherz, als
Verführung und Notzucht, als Küssen und Saugen an den Stellen der
Wollust, als Päderastie, als Vertausdien der Rollen, so daß das Weib
über dem Mann liegt, im Stehen, Liegen, Sitzen und auch „more
ferarum". Und nur bestimmte Leute haben nicht den Mut dazu und
träumen statt dessen davon. Aber ich habe nidit bemerkt, daß sie
besser sind als die, die ihre Kindlichkeit vor dem Geliebten nicht ver-
leugnen. Es gibt Leute, die sprechen vom Tier im Menschen, und
unter Menschsein verstehen sie, was sie edel nennen, was aber bei
näherem Zusehen redit unedel wird, den Verstand zum Beispiel oder
die Kunst oder die Religion, kurz alles, was sie auf irgend welche
Gründe hin in das Gehirn oder Herz verlegen, oberhalb des Zwerch-
fells, und tierisch nennen sie alles, was im Bauche vor sich geht, vor
allem was zwischen den Beinen ist, Geschlechtsteil und After. Idi
würde mir an Barer SteUe dergleichen Redende erst genau ansehen,
ehe ich mit ihnen Freundschaft schlösse. Darf ich nodi eine kleine
Bosheit sagen? Wir gebildeten Europäer tun immer so, als ob wir
die einzigen Menschen wären, als ob, was wir tun, gut, natürlidi, was
andre Völker, andre Zeitalter tun, schlecht, pervers sei. Lesen Sie
doch Plochs Buch über das Weib. Da finden Sie, daß viele hunderte
Millionen Menschen andre Gesdileditssitten, andre Beischlafsgewohn-
heiten haben als wir. Aber freilich es sind nur Chinesen, Japaner,
Inder oder gar Neger. Oder gehen Sie nach Pompeji. Da hat man
173
ein Wohnhaus ausgegraben, - das Haus der Vertier nennt man es -
in dem ist das gemeinsame Badezimmer für Eltern und Kinder mit
einem Fries bemalt, der alle Arten der Geschlechtslust darstellt, sogar
die Tierliebe. Freilich, das waren nur Römer und Griechen. Aber es
waren fast Zeitgenossen von Paulus und Johannes.
All diese Dinge sind wichtig. Sie ahnen nicht, welche Rolle sie in
den täglichen Gewohnheiten und in den Erkrankungen spielen. Nehmen
Sie nur das „more ferarum«. Niemals wäre man auf die Idee des
Klystiers gekommen, wenn dies tierische Spiel a la Hündlcin nicht wäre.
Und das Fiebermessen im After gäbe es auch nicht. Und die kindliche
Sexualtheorie vom Gebären durch den After, die so tausendfältig in
das gesunde und kranke Leben aller Menschen eingreift - aber davon
will ich nicht reden ; es würde midi zu weit abfuhren. Lieber gebe ich
ein andres Beispiel. Erinnern Sie sich, wie ein Mädchen rennt? Es
hält den Oberkörper gestreikt und schlägt nach hinten mit den Beinen
aus, während der Knabe weit mit den Schenkeln ausgreift und den
Oberkörper vorneigt, als wollte er den verfolgten Flüchtling damit
durchbohren. Sie arbeiten ja viel mit dem Wort Atavismus. Was meinen
Sie, könnte dieser seltsame Unterschied im Rennen nicht atavistisch
sein, ein Erbstück aus der Urzeit, wo der Mann die Frau jagte? Oder
ist es das Es, das der Ansicht ist, der Geschlechtsangriff müsse von
hinten kommen und deshalb sei es gut, auszuschlagen? So etwas ist
schwer zu unterscheiden. Aber es bringt mich auf andre Unterschiede,
die spaßig zu sehen sind. So spielt der Knabe, wenn er auf dem
Erdboden baut, im Knien, das Mädchen hockt sich mit weit gespreizten
Beinen hin. Das Büblein fällt nach vorn, das winzige Jüngferlein nach
hinten. Der sitzende Mann sucht einen Gegenstand, der vom Tische
fällt, dadurch zu fangen, daß er die Knie schließt, die Frau reißt sie
auseinander. Der Mann näht in weit ausgreifenden seitlichen Be-
wegungen, das Weib in zierlicher Rundung von unten nach oben,
genau entsprechend ihren Begattungsbewegungen, und das Kind sticht
unwissend und gemäß der kindlichen Theorie vom Hineinstopfen in den
174
Mund von oben nach unten. Beiläufig, haben Sie schon einmal die
Zusammenhänge des Nähens mit dem Onaniekomplexe beaditet?
Denken Sie darüber nach. Sie werden Nutzen davon haben, gleich-
gültig, ob Sie annehmen, daß das Nähen an die Onanie symbolisdi
erinnert oder ob Sie wie ich glauben, daß das Nähen aus der Onanie
entstanden ist. Und wenn Sie schon einmal bei der Kleidung sind,
widmen Sie einen Augenblük Ihre Aufmerksmmkeit dem herzförmigen'
Aussdinitt des Mädchens und der Rose und Brosche, dem Halskettchen,
und den Röcken, die gewiß nicht getragen werden, um den Liebesakt
zu erschweren, sondern zum Betonen, zum Auffordern. Die Mode lehrt
uns Neigungen ganzer Zeitalter kennen, von denen wir sonst nichts
wüßten. Vor langen Zeiten trug die Frau keine Unterhosen, Mann
und Weib hatten ihre Freude im raschen Genießen ; dann schien es
lustiger zu sein, im Spiel sich aufzuregen und das Beinkleid wurde
erfunden, das mit seinem Schlitz Geheimnisse nur halb verdeckte, und
schließlich jetzt trägt jede geschlossene, elegante Spitzenhöschen. Die
Spitzen, um zu locken, die geschlossene Öffnung, um das Spiel zu
verlängern. Beachten Sie aber auch den Hosenstall des Mannes, der
betont, wo das Pferdchen zum Reiten steht; schauen Sie sich die
Frisuren an mit Scheitel und Locken : alles sind Schöpfungen des Es,
das Es der Mode und das Es des Einzelwesens.
Doch zurück zu kleinen Eigentümlichkeiten von Mann und Frau.
Der Mann bückt sich, wenn er etwas aufheben will, die Frau hockt
sich nieder. Der Mann trägt und hebt mit der Rückenmuskulatur, die
Irau, im Symbol der Mutterschaft, mit dem Bauche. Der Mann wischt
den Mund nach den Seiten fort von sich, die Frau gebraucht die
Serviette so, daß sie von den Mundwinkeln nach der Mitte zu fährt,
sie will empfangen. Der Mann trompetet beim Nasenschnauben wie ein
Elefant, denn die Nase ist ein Symbol seines Gliedes und er ist stolz
darauf und will sich zeigen, die Frau benutzt das Taschentuch vor-
sichtig leise, ihr fehlt, was der Nase entspricht. Das Mädchen steckt
die Blume mit der Nadel fest, der Mann trägt sie im Knopfloch. Das
175
Mädchen hält den Blumenstrauß gegen die Brust gedrückt, der Knabe
trägt ihn mit herabhängendem Arm : er deutet an, daß die Mädchen-
blume nichts hat, was nach oben strebt, kein Mann ist. Knaben und
Männer spucken, sie zeigen, daß sie Samenergüsse haben, Mädchen
weinen, denn das Überfließen der Augen symbolisiert ihren Orgasmus.
Oder wissen Sie nicht, daß Pupille Kindchen bedeutet, daß also das
Auge Symbol des Weibes ist, weil man sich im Auge klein wider-
gespiegelt sieht ? Das Auge ist die Mutter, die Augen sind die Hoden,
denn auch in den Hoden sind die Kinderchen enthalten und der Strahl
der Leidenschaft, der aus den Augen springt, ist männliches Symbol.
Der Mann verbeugt sich, macht einen Diener, er sagt damit : dein
Anblick schon brachte mir die höchste Wonne, so daß ich ersdüaffe;
aber in wenigen Sekunden stehe ich wieder aufrecht, Begehren zu
neuer Lust erfüllt mich. Der Dame aber knicken die Knie, sie deutet
an : da ich dich sehe, hört aller Widerstand auf. Das kleine Mädchen
spielt mit der Puppe, der Knabe braucht es nicht, er trägt sein
Püppchen am Leibe.
Es gibt so viele Lebensgewohnheiten, die wir nicht beachten, so
\iele, die beachtenswert sind. Was will der Mann sagen, wenn er den
Schnurrbart streicht ? Die Nase ist das Symbol seines Gliedes, ich sagte
es schon, und das Zeigen des Schnurrbartes soll die Aufmerksamkeit
darauf lenken, daß vor uns ein geschlechtsreifer Mann sitzt, der die
Schamhaare besitzt; der Mund aber ist das Symbol des Weibes und
das Streichen des Schnurrbartes bedeutet deshalb auch, ich möchte
beim Weibchen spielen. Das glattrasierte Gesicht soll die Kindlichkeit
betonen, die Harmlosigkeit, da das Kind noch keine Geschlechtshaare
besitzt, zugleich soll es aber die Kraft bedeuten, da der Mensch als
emporgerichtetes Wesen der Phallus ist und der Kopf die haarlose
Eichel bei der Erektion versinnbildlicht Vergessen Sie das nicht, wenn
Sie Kahlköpfe sehen oder wenn ihre Freundinnen über Haarausfall
klagen. Die Kraft des Mannes wird hiemit dargestellt oder das Kind-
sein, das Neugeborensein. Wenn eine Frau sich setzt, zieht sie die
176
Kleider nach unten ; schau, was da für Füße sind, sagt die Bewegung,
aber ich gestatte nicht, daß du mehr siehst, denn ich bin schamhaft.
Wenn sie sich in Gegenwart eines andern hinlegt, kreuzt sie - es gibt
keine Ausnahme davon - die Füße. „Ich weiß, daß du mich begehrst,"
heißt das, „aber ich bin gegen den Angriff gewappnet. Versuch es nur."
All das ist doppeldeutig, ein Spiel, das anzieht, während es abschreckt,
anlockt, während es verbietet, ist die mimische Darstellung des selt-
samen „nicht doch", mit dem das Mädchen die kosende Hand abwehrt.
Nicht ! doch ! Oder das Brilletragen : man will besser sehen, aber man
will nicht gesehen werden. Dort sdiläft einer mit offenem Munde, er
ist bereit zur Empfängnis, hier liegt ein andrer zusammengekrümmt
wie ein Fötus. Jener Alte geht mit kurzen Sduitten, er will den Weg
verlängern, der zum Grabesziele führt, er schläft schlecht, denn seine
Stunden sind gezählt und er wird bald allzulange schlafen müssen,
er wird weitsiditig, will nicht sehen, was so nahe ist, das Totenschwarz
der Lettern, den Faden, den die Parze in kurzem zerschneiden wird.
Die Frau fürchtet zu erkranken, wenn sie während der Periode lange
steht ; die Blutung erinnert sie daran, daß sie nidits hat, was stehen
kann, daß ihr das Beste fehlt. Sie tanzt nicht während dieser
Zeit, es ist verboten, audi nur im Symbol den Gesdileditsakt zu
vollziehen.
Warum erzähle ich Ihnen das alles? Weil idi einer langen Aus-
einandersetzung über den Apfel des Paradieses ausweichen will. Aber
einmal muß idi sie clodi geben. Aber nein, erst kann idi noch ein
wenig von den Früchten erzählen. Da ist die Pflaume: sie birgt den
Kern, das Kind in sidi und ihre leidit angedeutete Spaltung verrät
den Weibescharakter. Da ist die Himbeere : sieht sie nicht der Brust-
warze ähnlich ? Oder die Erdbeere ; sie wächst tief verborgen zwischen
dem Grün des Grases, und Sie müssen suchen, ehe Sie dies holde
Geheimnis im Versteck des Weibes finden. Aber hüten Sie sich vor
ihr. Die Wonne des Kitzlers frißt sich immer tiefer in das Wesen des
Mensdien ein, wird heiß ersehnt und doch als Schuld geflohen und
12 C r o d d e c k, Das Ruch vom E». 1 77
dann entsteht die Nesselsudit, die symbolisch das Gefühl widerwärtig
und quälend verhundertfacht. Die Kirsche? Sie finden sie an den
Brüsten, aber auch der Mann trägt sie an seinem Baum, wie denn
alle Symbole doppelgeschlechtlich sind. Und nun gar die Eichel. Sie ist
wissenschaftlich gebilligt, obwohl sie dem Schwein so nahe verwandt
ist, dem Schwein, das viel Geheimnisse in sich birgt. Darf ich Ihnen
eins davon verraten? Die erziehende Mutter sdiilt ihr schmutziges
Kind Ferkelchen. Kann sie sich da wundern, wenn das Kind in Ge-
danken antwortet : Bin ich ein Ferkel, so bist du das Schwein ? Und
in der Tat, so hart es Ihnen klingen mag, das Schwein ist eines der
gebräuchlichsten Muttersymbole. Das hat eine tiefe Bedeutung; denn
das Schwein wird geschlachtet, der Bauch wird ihm aufgeschnitten und
es quiekt. Und eine, vielleidit die häufigste Geburtstheorie des Kindes
ist, daß der Mutter der Bauch aufgeschnitten wird, um das Kind
herauszuholen, eine Theorie, die sich auf die Existenz der seltsamen
Linie zwisdien Nabel und Schamteil gründet und durch den Geburts-
schrei bestätigt wird. Von der Assoziation Schwein-Mutter geht ein
erstaunlicher Weg in das Religiöse hinüber, wenigstens in Deutsch-
land, wo beim Metzger die Schweine im Schaufenster aufgehängt
werden. Die Kreuzigung wird damit symbolisch gebunden. Weldie
Laune des Es : Schwein-Mutter-Christus. Es ist mandimal zum Er-
schrecken. Wie die Mutter, wird auch der Vater zum Tier gemacht ;
er ist ein Ochse, selbstverständlich. Denn statt dem Kinde in Liebe
zu nahen, bleibt er unbewegt von dessen Versuchungskünsten, muß
also kastriert sein. Zum Schluß darf idi die Feige nicht vergessen, sie
ist in allen Sprachen ein Sinnbild des weiblichen Geschlechtsteils. Und
damit bin ich wieder bei der Paradiesessage.
Was mag es wohl bedeuten, daß das erste Menschenpaar sich
Schürzen aus Feigenblättern flocht, und weiter, warum machte die
Sitte der Jahrhunderte aus dieser Schürze ein einziges Feigenblatt?
ich kann nicht in den Gedanken des Märchenerzählers der Bibel lesen ;
über das Feigenblatt, mit dem die nackte Natur bedeckt wird, wage
178
idi ein wenig zu spotten. Fünf Zacken hat dieses Blatt, fünf Finger
hat die Hand. Es ist verständlich, daß mit der Hand verdeckt wird,
was nidit gesehen werden soll. Aber die Hand an den Geschlechts-
teilen? Dort, wo sie nidit sein darf? Mir kommt es vor wie ein
Witz des Es: „Da dir ein freies Leben im Eros nicht erlaubt ist, so
tue, was die Natur lehrt, benütze die Hand!"
Ich weiß, ich bin frivol. Aber endlich muß ich ernst werden. Sie
wissen, man nennt den vorspringenden Keldteil des Mannes den
Adamsapfel. Die Idee dabei war wohl, daß dem Adam der Apfel in
der Kehle stecken blieb. Aber warum nur ihm, warum nicht Eva, die
doch auch von der Frucht aß ? Sie sdiluckte die Frucht hinunter, damit
daraus eine neue Frucht würde, das Kind. Adam jedoch kann keine
Kinder kriegen.
Da stehen wir unversehens in dem Gewirr von Ideen, die das
Kind über die Schwangerschaft und über die Geburt hat. Sie sind
freilich der Ansidit, daß ein braves Kind an den Storch glaubt, und
das tut es auch. Aber vergessen Sie nicht, daß das Kind auch an das
Christkind glaubt und doch gleichzeitig weiß, daß die Geschenke des
Christkinds von den Eltern im Laden und in der Straße gekauft
werden. Das Kind hat viel Glaubensfähigkeit und nichts hindert es,
den Storch zu verehren und doch zu wissen, daß das Kind im Baudic
der Mutter wädist. Das weiß es, muß es wissen, denn es war vor zwei
drei Jahren noch in diesem Baudie. Wie aber kommt es da heraus
und wie kam es hinein? Das sind Fragen, die uns alle mit schwan-
kender, aber allmählich immer mehr wachsender Dringlichkeit verfolgt
haben. Als eine der vielen Antworten fanden wir alle ohne Ausnahme,
da wir alle in der Kindheit weder Gebärmutter nodi Scheide kennen :
Das Kind wird aus der Öffnung geboren, aus der alles herauskommt,
was in dem Bauche ist, aus dem After. Und hinein? Es gibt audi
dafür mehrere Erklärungen für das Kind. Am meisten neigt es zu der
Annahme, daß der Keim zum Kinde verschluckt wird, wie che Milch
aus der Brustwarze gesogen wird. Und aus dieser Belraditung, aus
12*
179
rr
diesem immer wiederholten aufregenden Sichselbstbefragcn und Sich-
selbstbeantworten des Kindes entsteht der Wunsch, am Gliede des
Geliebten zu saugen, zu rauchen, zu küssen, ein Wunsch, der doppelt
dringend ist, weil in seiner Erfüllung die Mutterbrust und die Selig-
keit der Kindheit neu erwacht ; daher stammt auch die Idee, den vor-
springenden Sdiildknorpel des Mannes Adamsapfel zu nennen. Und
schließlich, um auch das zu sagen, daraus entwickelt sich der Ansatz
des Kropfs, der Sie bei Ihrer Kleinen so erschreckt. Sie hatten als
Backfisch auch solch dicken Hals, glauben Sie mir. So etwas vergeht
wieder. Nur bei denen, deren Es ganz durchdrungen ist von der Idee
der Empfängnis durch den Mund und von dem Ahscheu, das Kind
im Bauche auszutragen, kommt es wirklich zum Kropf und zur
Basedowschen Erkrankung.
Gott sei Dank, für heute bin ich fertig 1
PATRIK.
20.
GEWISS, LIEBE FREUNDIN, ICH VERSPRECHE, DIE GESCHICHTE
von dem Federhalter und der Uhrkette heute zu Ende zu bringen.
Warum die Nase auf der rechten Seite verstopft war, muß ich
herauszubringen versuchen. Mein Es wünscht irgendetwas nicht zu
riechen oder einen Geruchseindruck aus der Nase wegzuspülen. Das
ist mein persönlicher Fall. Bei manchen Mensdien trifft das mit dem
Riechen nicht zu ; unter dem Druck der fanatisch gewordenen Krank-
heitsverhütung, vor allem der Tuberkulosenangst sind eine Menge
Menschen auf die Idee gekommen, die Nase zunächst als Atmungs-
organ aufzufassen, da sie das Atmen durch den Mund so viel wie
Gott versuchen dünkt. Für andre wieder ist die Nase ohneweiters ein
Phallussymbol und so muß bei diesen oder jenen die krankmachende
Absicht des Es so oder so aufgefaßt werden. Ich aber muß, wenn
irgendetwas mit meiner Nase nicht stimmt, nach dem suchen, was idi
nicht riechen soll, und da der rechte Nasengang verstopft ist, muß
180
—
redits von mir sein, was für midi Gestank ist. Wie sehr ich mir jedoch
auch Mühe gebe, mir will nicht gelingen, irgend etwas rechts von mir
zu finden, was stinkt. Aber ich bin durch jahrelanges Glaubenwollen
an die Absidit des Es schlau geworden und habe allerlei spitzfindige
Rechtfertigungen meiner Theorie erdacht. So sage ich mir jetzt : Wenn
nichts da ist, was schlecht riecht, so ist vielleicht etwas da, was dich
an einen Gestank der Vergangenheit erinnert. Sofort fällt mir eine
Radierung von Hans am Ende ein, die rechts von mir hängt und eine
Uferlandschaft mit Sdiilf und einem Segelboot im seichten Wasser
darstellt. Venedig steht plötzlidi vor mir, obwohl ich weiß, daß der
Radierer sein Sujet von der Nordsee genommen hat, und von Venedig
geht es zum Markuslöwen und von dem zu einem Teelöffel, den ich.
vor wenigen Stunden gebraudit hatte. Und auf einmal ist mir, als ob
ich wüßte, welchen Geruch ich fliehe. Als ich vor vielen Jahren nach
einer schweren Lungenentzündung wassersüditig wurde, war mein
Geruchssinn so scharf geworden, daß mir der Gebrauch von Löffeln
unerträglich war, weil idi trotz sorgfältigster Reinigung roch, was vor
Stunden oder Tagen damit gegessen worden war. Also wäre das, was
ich fliehe, selbst in der Erinnerung noch fliehe, die Erkrankung, das
Nierenleiden ? In der Tat, wenige Stunden vorher habe ich die Kranken-
geschichte eines jungen Mädchens enträtselt, bei der ein stinkendes
Nachtgeschirr vorkam. Aber mir selbst ist der Geruch von Urin gleich-
gültig. Das kann es nicht sein. Wohl aber führt mich die Erinnerung
in meine Schulzeit zurück, zu den Massenpissoirs, die in der Schule
eingerichtet waren und deren scharfer Ammoniakgeruch mir noch
deutlich vorschwebt. Und diese Sdiulzeit, der Gedanke daran, ist noch
jetzt verstimmend. Ich erzählte Ihnen schon, ich habe fast alles aus
jenen Tagen vergessen. Aber ich weiß, daß ich noch damals - ich war
schon 12 bis 13 Jahre alt - die Gewohnheit des Bettnässens hatte,
daß ich mich vor dem Gespött der Mitschüler, das übrigens fast nie
und dann höchst milde eintrat, fürchtete. Es tauchen Gedanken an
leidenschaftliche Zuneigungen zu dem und jenem meiner Freunde auf,
181
Zuneigungen, deren genitaler Affekt verdrängt wurde und sidi doch
in Phantasien Bahn brach ; der Moment, wo ich die Onanie kennen-
lernte, wird wach, ein Scharlachfieber, bei dem ich zum erstenmal
nierenkrank wurde, kommt mir in den Sinn ; daß Hans am Ende
mein Schulfreund war und daß er auch am Scharlach erkrankte, und
hinter dem allen erhebt sich schattenhaft und immer deutlicher die
Mutterimago. Ich war ein Mutterkind, ein verhätscheltes Nesthäkchen
und habe unter der Trennung von der Mutter durch die Schule schwer
gelitten.
Nun aber stecke idi fest. Aber auch da hilft mir eine Erfahrung,
die ich bei dem Bestreben, meine Theorie vom Es zu retten, gemacht
habe : Dort, wo die Einfälle aufhören, ist die Lösung des Rätsels. Bei
der Mutter also. Das hätte ich mir denken können, denn alles, was
rechts ist, hängt mit meiner Mutter zusammen. Aber ich besinne mich
nicht, so sehr ich auch herumdenke, je bei ihr einen abstoßenden
Geruch wahrgenommen zu haben, ja es verbinden sich mit ihr über-
haupt keine Geruchserinnerungen.
Ich versuche es mit dem Namen Hans (Hans am Ende). So hieß
einer meiner älteren Brüder, der eng mit meinem Schulleben ver-
bunden war. Und plötzlich sdiicbt sich vor den seinen ein andrer
Name: Lina. Lina war meine Schwester, dieselbe, von der ich Ihnen
erzählte, als ich von meinen sadistischen Liebhabereien beriditete.
Und da stammt auch der Geruchseindruck her ; durchaus kein ab-
stoßender, sondern ein einwiegender, unvergeßlicher. Ich kann mich
aus der damaligen Zeit - wir waren elf und zwölf Jalire alt - nicht
mehr auf die Aufregung besinnen, aber ich bin noch einmal diesem
Geruch begegnet und seitdem weiß ich, wie überwältigend der Ein-
druck für mich ist. Gleich anschließend daran kommt eine zweite
Erinnerung, daß Lina mich kurze Zeit darauf in die Geheimnisse der
Menstruation einweihte. Sie machte mir weis, sie sei schwindsüchtig,
zeigte mir das Blut und lachte mich aus, als sie mein Ersdiredten
sah, und erklärte mir die Bedeutung der Blutung.
182
Als ich so weit war, verschwand die Verstopfung der Nase; was
ich jetzt noch hinzufüge, dient nur der Klärung der Zusammenhänge.
Zunächst fällt mir ein, was Hans am Ende bedeutet. Alle meine An-
gehörigen sind gestorben, als letzter mein Bruder Hans : Hans am Ende.
Mit diesem Bruder habe ich audi die einzige Segelfahrt meines Lebens
gemadit, was mit dem Segelboot auf am Endes Radierung zusammenfällt.
Dann hellt sich das Dunkel auf, das über den Beziehungen des
Komplexes zur Mutterimago Üegt. Meine Mutter trug denselben Namen
wie meine Schwester : Lina. Damit wädist das Erstaunen, daß idi keine
Geruchserinnerungen an meine Mutter habe, während sie bei des
Schwester so stark sind, und ich beginne wieder allerlei Tasdien-
spielerei mit Ideen.
Wenn sich zwei Hunde begegnen, beschnüffelt der eine des an-
dren Hinterteil ; offenbar erkunden sie so mit der Nase, ob sie einan-
der sympathisdi sind oder nidit. Wer Humor hat, lacht über diese
Hundegewohnheit, wie Sie es tun, und wem der Humor mangelt, der
findet es unappetitlich. Aber hält Ihr Humor auch an, wenn idi be-
haupte, daß die Menschen es ebenso machen ? Das werden Sie ja aus
eigener Erfahrung wissen, daß ein Mensdi, der stinkt, allerlei gute
Eigenschaften haben kann, daß er aber im Grunde genommen sehr
unsympathisch ist; wobei man allerdings nicht vergessen darf, daß,
was dem einen stinkt, dem andern wie Rosenduft vorkommt. Sie
werden auch als sdiarf aufmerkende Mutter beobachtet haben, daß
das Kind Gegenstände und Mensdicn nach dem Geruch beurteilt.
Die Wissenschaft tut zwar so, als ob der Mund und die Zunge als
Probierstein für angenehm und unangenehm benutzt würde, aber
che Wissenschaft behauptet vieles und wir brauchen uns darum nicht
zu kümmern. Ich behaupte, daß der Mensch viel intensiver und, wenn
Sie wollen, noch viel unappetitlicher als der Hund seine Nase braucht
um festzustellen, was ihm paßt und was nicht.
Zunädist ist der Gerudi des weiblichen Schoßes und des Bluts,
das daraus fließt, eine der ersten Wahrnehmungen, die der Mensch
183
macht. Ich erwähnte das schon, um die Bedeutung der periodischen
Brunst klar zu machen. Dann kommt eine Zeit, wo die Nase des
kleinen Weltbürgers sidi hauptsächlich mit dem Riechen des eigenen
Urins und Kots besdiäftigt, was gelegentlich mit den Düften der
Frauenmilch und der mütterlichen Achselhaare abwechselt, während
dauernd der intensive durchdringende und unvergeßliche Duft des
Wodienflusses einwirkt. Die Mutter frischt während dieser Zeit nadi
der Geburt die eigenen Säuglingserinnerungen auf, die ihr Gelegen-
heit geben, ihre Liebe zu sich selbst auf den Säugling zu übertragen ;
die längst vergessenen Genüsse von Windelgeruch werden wieder
wach. Daneben atmet sie ein, was an Gerüchen aus den Haaren und
dem ganzen Körper des Kleinen aufsteigt. Und das bleibt wohl so
lange Zeit, denn das Kind ist klein und die Mutter groß, so daß sie
bei jedem Verkehr mit dem Kinde zunächst sein Haar mit Sehen und
Riechen wahrnimmt, eine Sache, die nicht unwichtig ist, weil gerade
um die Organe der Liebe solch reichlicher Haarwuchs geheftet ist.
Beim Kinde aber wechselt das Terrain. In den ersten Jahren sind es
die Füße und Beine, die es riecht ; denn das Kind ist klein und die
Erwachsenen sind groß. Behalten Sie das im Gedächtnis, Liebe,
daß das Kind zunächst die Beine der Menschen kennen und
lieben lernt ; es ist wichtig, erklärt vieles und wird nie beachtet. Dann
kommen Jahre, lange Jahre, und wenn Sie all die flüchtigen Mo-
mente, die sich die Hunde beriedien, zusammenzählen, werden Sie
noch längst nicht die Zeitdauer erreichen, die Jahre, in denen das
Kind fast ununterbrochen riechen muß, was in der Bauchgegend der
Erwachsenen vor sich geht. Und das gefällt ihm ausnehmend gut.
Und wird auch rührend gefunden ; denn welcher gefühlvolle Schrift-
steller ließe sich wohl den Knaben — oder den Mann — entgehen,
der seinen Kopf im Schöße der Mutter — oder der Geliebten — birgt.
Was, seiner Poesie entkleidet, so viel heißt als: er steckt seine Nase
zwischen ihre Beine. Das klingt roh, enträtselt aber die Entstehung
der Kindesliebe und der Liebe zur Frau. Die Natur hat wunderliche
184
Wege, um den Mensdien zum Weibe zu zwingen. Und das ist der,
der von allen begangen wird.
Was hat das mit der Tatsache zu tun, werden Sie fragen, daß
ich keine Gerudiscrinnerungen an meine Mutter habe? Das ist ein-
fach genug. Wenn das Kind wirklich durdi die Größen Verhältnisse
dazu gezwungen ist, lange Jahre hindurch bei der Mutter alle Vorgänge
der Leibesmitte mit der Nase mitzuerleben, so muß es auch die merk-
würdigen Geruchsveränderungen wahrnehmen, die alle vier Wochen
bei der Frau stattfinden. Es muß auch die Erregungen mitmachen,
denen die Mutter während der Zeit der Periode unterworfen ist. Die
Atmosphäre des Blutdunstes teilt sich ihm mit und steigert seine
Inzestwünsche. Allerlei innere Kämpfe entstehen aus diesen aufreizen-
den Eindrücken, allerlei dumpf empfundene, tief sdimerzlidie Ent-
täuschungen knüpfen sich daran und verstärken sich durdi das Leid,
das aus den Launen, der Verstimmung, den Migränen der Mutter
entsteht. Ist es ein Wunder, daß ich den Ausweg der Verdrängung
eingesdilagen habe?
Leuchtet Ihnen ein, was ich sage? Aber bedenken Sie doch, daß
es Menschen gibt, die behaupten, sie hätten nichts von der Periode
gewußt, ehe sie erwachsen waren. Wenn idi mich nicht täusche, sind
es viele Menschen, oder sind es gar alle? Wo haben sie doch alle
ihre Nasen gelassen? Und was ist es denn mit dem Gedächtnis des
Mensdien für eine Sache, wenn er solche Erlebnisse vergißt, vergessen
muß? Da wundert man sich darüber, daß der Mensch so geringen
Spürsinn hat ; aber was sollte wohl aus ihm werden, wenn er nicht
mit aller Kraft seines Unbewußten die Nase abstumpfte ? Der Geliebte
der Mutter. - Lieber vernichtet er Teile seines Geruchssinnes. Und
darin hilft ihm die Sitte; denn dazu zwingt ihn das Verbot der
Erwachsenen, irgend etwas über Sexualereignisse zu wissen, dazu
zwingt ihn die prüde Sdiamhaftigkeit der Mutter, die verlegen
wird, wenn das Kind wißbegierig fragt; denn nichts ist beschämen-
der, als zu sehen, daß der geliebte Mensch sich dessen schämt,
185
Was man selbst unbefangen bespricht. Es braudien nicht immer
Worte zu sein, von denen Kinder eingeschüchtert werden, unwillkür-
liche Bewegungen, leichte, kaum merkbare Gebärden und Verlegen-
heiten wirken mitunter viel tiefer. Aber wie sollte eine Mutter dieses
Verlegenheitsaussehen vermeiden? Es ist die Bestimmung der Mutter,
ihr eigenes Kind in den tiefsten Empfindungen zu verletzen, es ist
ihr Schicksal. Und daran ändert kein guter Wille, kein Vorsatz auch
nur das Geringste. Ach, liebe Freundin, es gibt so viel Tragik im
Leben, die des Dichters harrt, der sie gestalten kann. Und vielleicht
kommt dieser Dichter nie.
Man vergißt, was schwer zu ertragen ist, und was man nidit ver-
gißt, war für uns nicht zu schwer. Das ist ein Satz, dessen Inhalt Sie
wohl überlegen sollten, denn er wirft vieles von dem um, was gang
und gäbe bei den Menschen ist. Wir vergessen, daß wir einmal im
Mutterleibe saßen, denn es ist "schrecklich zu denken, daß wir aus dem
Paradiese vertrieben wurden, aber auch schrecklich, daß wir einmal
in der Finsternis eines Grabes waren ; wir vergessen, wie wir zur
Welt kamen, denn die Angst des Erstickens war unerträglich. Wir
vergessen, daß wir einmal laufen lernten, denn der Moment, in dem
uns die Hand der Mutter losließ, war furchtbar und die Seligkeit
dieser ersten selbständigen Leistung so überwältigend, daß wir sie
nicht in der Erinnerung bewahren können. Wie sollten wir es er-
tragen, zu wissen, daß wir Jahre lang in Windeln und Hosen mach-
ten? Denken Sie daran, wie Sie sich schämen, wenn Sie ein braunes
Fleckchen in Ihrer Wäsdie finden, denken Sie an das Entsetzen, das
Sie befällt, wenn Sie auf der Straße nicht mehr zurückhalten können,
was in den Abtritt gehört. Und was sollen wir mit der Erinnerung,
daß es Menschen gab, die so entsetzlidi stark waren, daß sie uns in
die Luft werfen konnten ? Die uns schalten, ohne daß wir wieder
schelten durften, die uns Klapse gaben und in die Ecke stellten, uns,
die wir Geheimräte, Doktoren oder gar Tertianer sind ? Wir können
es nicht ertragen, daß dieses Wesen, das sich Mutter nennt, eines
186
~—
Tages uns die Brust verweigerte, dieser Mensch, der behauptet, uns
zu lieben ; der uns die Onanie lehrte und uns dann dafür bestrafte. Und
ach, wir würden uns zu Tode weinen, wenn wir uns erinnerten, daß
es einmal eine Mutter gab, die für uns sorgte und mit uns fühlte, und
daß wir nun einsam sind und keine Mutter haben. Durch eigne Schuld !
Daß wir unsre Kenntnis der Menstruation, von der uns unser
Gerudissinn in frühster Kindheit unterrichtet hat, wenn es nicht audi
das Sehen des Bluts, der Binden, des Nachtgeschirrs, das Miterleben
von Zwistigkeiten, Migräne, frauenärztlidier Behandlung tat, daß wir
diese Kenntnis völlig vergessen, ist nicht wunderbarer, als daß wir
auch alle Erinnerung an die Onanie verlieren, die Onanie der ersten
Lebensjahre. Und mindestens ein Grund ist gemeinsam für diese bei-
den Lücken in unserem Gedächtnis, die Angst vor der Kastration. Sie
besinnen, sich, daß idi behauptete, unsre Kastrationsangst hänge mit
dem Schuldbewußtsein zusammen, das aus der Onanie und dem Ver-
bot entsteht. Der Gedanke aber, daß Gesddethtsteile abgeschnitten
werden können, stammt aus der Feststellung früherer Jahre über die
Geschlechtsunterschiede, weil wir als Kinder den weihlichen Geschlechts-
teil als Kastrationswunde auffassen ; das Weib ist ein kastrierter Mann.
Diese Idee wird zur Gewißheit durch die Wahrnehmung der Blutun-
gen, die wir riedien. Die Blutungen erschrecken uns, weil sie die
Befürditung wecken, daß wir selbst zum Weibe gemadit werden könn-
ten. Um nidit an diese Blutungen erinnert zu werden, müssen wir
unsern Geruchssinn abtöten und auch die Erinnerung an den Blut-
geruch vertilgen. Das gelingt nicht; was wir erreichen, ist nur die
Verdrängung. Und diese Verdrängung benützt das Leben, um das
Verbot des Geschlechtsverkehrs während der Periode aufzubauen. Da
das blutende Weib den verdrängten Kastrationskomplex aufweckt,
vermeiden wir die neue Berührung der wunden Frau.
Hier spielt ein zweiter verdrängter Komplex mit hinein, der
ebenfalls mit dem Gerudissinn verquickt ist, der Sdiwangersdiaft- und
Geburtskomplex.
187
rr
Besinnen Sie sich, daß idi Sie einmal gefragt habe, ob Sie nie
etwas von den Schwangerschaften und Entbindungen Ihrer Mutter ge-
merkt hätten ? Sie hatten eben einen Wöchnerinnenbesuch bei Ihrer
Schwägerin Lisbeth gemacht und der eigentümliche Geruch des Wo-
chenbetts haftete noch an Ihnen. Nein, sagten Sie, niemals. Selbst von
dem jüngsten Bruder sind Sie überrascht worden, obwohl Sie mit Ihren
15 Jahren längst aufgeklärt waren. Wie ist es möglich, daß ein Kind
nicht sieht, daß die Mutter dick wird ? Wie ist es möglich, daß ein
Kind an den Stordi glaubt?
Es ist beides nicht möglich. Die Kinder wissen, daß sie aus dem
Bauche der Mutter stammen, aber sie werden von sich aus und von
den Erwachsenen aus gezwungen, an die Fabel des Storches zu glau-
ben ; die Kinder sehen, daß die Mutter dick wird, daß sie plötzlich
Bauchweh bekommt, ein Kindchen zur Welt bringt, blutet und beim
Aufstehen dünn ist ; die Kinder wissen es jedesmal, wenn die Mutter
schwanger ist, und sie werden niemals von der Geburt überrasdit.
Aber all dieses Wissen und Wahrnehmen wird verdrängt.
Wenn Sie bedenken, welche Kraft verwendet werden muß, um
all diese Wahrnehmungen und die daraus gefolgerten Schlüsse bei-
seite zu schieben, so wird Ihnen vielleicht ein wenig deudicher wer-
den, was ich mit der Behauptung meine, daß das Verdrängen die
hauptsächlidie Beschäftigung des Lebens ist Denn was ich hier an
dem Beispiel der Schwangerschaft und Geburt erläutere, geschieht in
jeder Minute des Lebens mit andern Komplexen. Sie können kein
Zimmer betreten, ohne den Medianismus des Verdrängens in Bewe-
gung zu setzen, ohne so und so viele Wahrnehmungen von Möbeln,
Nippes, Farben, Formen aus dem Bewußtsein fern zu halten. Sie kön-
nen keinen Buchstaben lesen, kein Gesicht ansehen, kein Gespräch
anhören, ohne fortwährend zu verdrängen, ohne Erinnerungen, Phan-
tasien, Symbole, Affekte, Haß, Liebe, Verachtung, Scham und Rührung
fortzuschieben. Und nun, Liebe, denken Sie daran : was verdrängt
wird, ist nicht vernichtet, es bleibt da, ist nur in eine Ecke geschoben,
188
aus der es eines Tages wieder hervorkommt, ist vielleicht nur aus
seiner Lage gebracht, so daß es nioht mehr, vom Sonnenlidit beleudi-
tet, rot glänzt, sondern schwarz zu sein scheint. Das Verdrängen wirkt
und verändert unablässig an den Erscheinungen ; was jetzt für den
Augenhintergrund ein Gemälde von Rembrandt ist, wird verdrängt
und erscheint im selben Augenblick als Spiel an der Uhrkette wieder,
als Bläschen am Mundwinkel, als Abhandlung über die Kastration,
als Staatengründung, Liebeserklärung, Zank, Müdigkeit, plötzlicher
Hunger, Umarmung oder Tintenklecks. Verdrängen ist Umschaffen,
ist kulturbauend und kulturvernichtend, erdichtet die Bibel und das
Märchen vom Storch. Und der Blick in die Geheimnisse des Verdrän-
gens verwirrt das Denken so, daß man die Augen schließen und ver-
gessen muß, daß es Verdrängungen gibt.
PATRiK TROLL.
21.
SIE BESCHWEREN SICH, LIEBE FREUNDIN, DASS ICH MEIN
Versprechen nicht gehalten habe, daß ich nodi immer nicht mit meiner
Uhrkettengeschichte fertig bin. Ich hätte nicht geglaubt, daß Sie so
dumm sind, an meine Versprechungen zu glauben.
Viel eher sind Sie zu dem Vorwurf berechtigt, daß ich abschweife,
nicht zu Ende sage, was ich angefangen habe. Ich spradi von dem
Verdrängen von Gerudisempfindungen bei der Geburt und habe
weder ausgeführt, daß der sdiarfe Geruch des Wochenflußes, wenn
sonst audi alles sorgfältig versteckt wird, vom Kinde wahrgenommen
werden muß, daß es also mittels der Nase unbedingt Geburtserfah-
rungen sammelt, noch habe idi deutlich genug gesagt, warum man
die Wahrnehmung dieses Geruches aus der bewußten Erinnerung tilgt.
Warum geschieht es? Zunächst, weil die Mutter, die Eltern, die
Erwachsenen dem Kinde verbieten, dergleichen Dinge zu verstehen ;
vielleicht verbieten sie es nicht ausdrücklich mit Worten, aber schon
mit dem Tonfall des Wortes, der Klangfarbe, irgend einer seltsamen,
dem Kinde auffallenden Verlegenheit Denn es ist nun einmal Sdiick-
189
T
sal des Menschen, daß er sich schämt, mensdilich gezeugt und ge-
boren zu sein. Er fühlt sich durch diese Tatsache in seiner Eitelkeit
bedroht, in seiner Gottähnlichkeit. Er möchte so gerne göttlich ge-
zeugt sein, Gott sein, - letzten Endes, weil er im Mutterleibe all-
mächtiger Gott war ; er erfindet die Gottsskindschaft auf religiösem
Wege, ersinnt sich einen Gottvater und steigert seine Inzestverdrän-
gung, bis er im Glauben an die Jungfrau Maria und die unbefleckte
Empfängnis oder irgend welcher Wissenschaft Trost gefunden hat Er
nennt verächtlich Zeugung und Empfängnis tierische Akte, um sagen
zu können, ich bin kein Tier, habe keine tierische Formen, bin also
Gottes Kind und göttlich gezeugt; da das nicht gelingt, umgibt er
diese Vorgänge mit dem Scheinheiligenschein des Mysteriums, zu
dessen Konstruktion er wie ein Judas seine Liebe verraten muß. Ja
er hat es soweit gebracht, daß er sich nicht einmal schämt, den
Augenblick der menschlichen Vereinigung mit übelstimmender Lüge
zu umgeben, als ob dieser Augenblick nicht der Himmel sei. Alles
möchte der Mensch sein, nur nicht einfach Mensch.
Das zweite, dessentwegen wir den Geruchskomplex des Wochen-
betts verdrängen und so unsere eigentlich menschliche Zierde, die Nase,
verleugnen - denn was uns vom Tier unterscheidet, ist in erster und
letzter Linie die Nase - das zweite ist, daß wir den Gedanken nicht
ertragen, eine Mutter zu haben. O, Sie müssen verstehen : wenn sie
uns paßt, solange sie so ist, wie wir wollen, erkennen wir sie wohl
als Mutter an. Aber sobald wir daran erinnert werden, daß sie uns
geboren hat, hassen wir sie. Wir wollen nicht wissen, daß sie für uns
gelitten hat, es ist unerträglich das zu wissen. Oder sahen Sie nie das
Entsetzen, die Qual Ihrer Kinder, wenn Sie traurig waren oder gar
weinten ? Gewiß, mir ist bekannt, daß meine Mutter mich gebar, ich
spreche davon, als ob es die natürlichste Sache der Welt wäre.
Aber mein Herz erkennt es nicht an, es schreit dagegen und sagt nein.
Wie ein Stein wälzt es sich zuweilen auf unsre Brust. Das ist die un-
bewußte Erinnerung an das Ringen nach Atem während der Geburt,
190
sagt unser analytisches Alles- und Nichtswissen. „Nein,"^ flüstert der
böse Geist, „das sind deine Sünden wider die Mutter, die dich gebar,
die Todsünden des Undanks, der Blutschande, des Blutvergießens, des
Mords. Tatest du je, was du sollst, auf daß es dir wohl ergehe und
du lange lebest auf Erden ? Diese Hand streichelte mich und reichte
mir Essen und Trinken und ich habe sie zuweilen gehaßt, oft gehaßt,
denn sie leitete mich ; diese Haut wärmte mich, und ich habe sie
gehaßt, weil ich zu schwach war, auf ihre Wärme und lockende Weiche
freiwillig zu verzichten, und weil ich deshalb wider bessres Wissen
allerlei Runzeln und allerlei Ekel ihr andichtete, um der Versuchung
zu entfliehen, ich Judas. Dieser Mund lädielte mir und sprach, und
ich haßte ihn oft, weil er mich schalt, diese Augen lächelten mir und
sprachen, und ich habe sie gehaßt, diese Brüste nährten mich und idi
habe sie mit den Zähnen gepackt, in diesem Leib wobnte ich und idi
habe ihn zerrissen. Muttermörder I Sie wissen es, fühlen es wie ich : es
hat noch nie einen Menschen gegeben, der seine Mutter nicht gemordet
hätte. Und deshalb erkennen wir es nicht an, daß die Mutter uns
geboren hat. Mit den Lippen glauben wir es, aber nicht mit dem
Herzen. Das Blut, das wir vergossen, schreit gen Himmel, und wir
fliehen davor, vor dem Dunst des Bluts.
Mir fällt noch ein drittes ein, weshalb wir von den Erinnerungen
an das Wochenbett fortstreben und lieber unsren vornehmsten Sinn,
den Geruchssinn, verniditen, das ist die Angst der Kastration. - Ich
weiß, das langweilt Sie, aber was soll ich machen ? Da Sie durchaus
erfahren wollen, was ich denke, muß ich mich wiederholen. Denn die
Kastrationsidee geht durch unser Leben wie die Sprechlaute. Wie das
a und das b beim Sprechen sich immer wiederholen, so taudit audi
überall dieser Komplex des Weibwerdens in uns auf. Und setzen Sie
a und b zusammen', so haben Sie »ab" und lachen hoffentlich wie ich
über die Assoziationswitze des Unbewußten.
Aber es ist Zeit, daß idi meine Mitteilungen über die Geburts-
theorien des Kindes ein wenig vervollständige, sonst kommen wir nie
191
aus diesem Wirrwarr heraus. Ich sagte Ihnen schon, das Kind weiß,
daß man im Bauche der Mutter lebt, ehe man zur Welt kommt, Je
jünger es ist, um so besser weiß es das. Und daß es nicht vergessen
wird, dafür sorgt unter andern die Bibel mit den Worten : Und das
Kind hüpfte in ihrem Leibe. Mitunter wird die Stelle, an der das Un-
geborene seinen Wohnsitz hat, ganz genau lokalisiert, in der Herz-
grube, das heißt im Magen. Und das hängt wohl mit unsrer Rede-
weise zusammen, daß die Frau das Kind unter dem Herzen trägt.
Erzählen Sie das gelegentlich Ihrem Arzte ; es kann ihm nützlich sein
für Erkenntnis und Behandlung, vor allem bei Magenbeschwerden,
von der Übelkeit an bis zum Magenkrebs ; und für Sie ist es auch
nützlich, um Ihren Arzt kennen zu lernen. Geht er mit einem Achsel-
zucken darüber hinweg, so suchen Sie sich einen andern ; denn der
Ihre ist altmodisch, wenn er audi sehr tüchtig ist. Ich weiß, nichts ist
Ihnen unangenehmer, als hinter der Mode zurückzubleiben. - Mitunter
taucht auch die Idee auf, daß die Schwangerschaft im Herzen selbst
stattfindet; ich erzählte Ihnen von solch einem Fall, wo dieser Gedanke
zu einer Krankheit führte und bis zur Zeit der Analyse herrschend
blieb. Leute, die dergleichen in ihrer Kindheit glaubten, sind schlimm
daran. Denn mit dieser absurden Idee, die von den Worten der Liebe :
„Ich trage dich im Herzen," und „du mein Herzenskind" herkommt,
verbindet sich das dunkel furchtbare Bewußtsein, daß man der Mutter
Herz zerrissen hat, in Wahrheit, in Wahrheit. Und auch das sollte Ihr
Arzt wissen - für seine Herzkranken. Um die ganze Narrheit der
Kinder aufzudecken, will ich noch hinzufügen, was ich von Augen-
kranken weiß, daß die Idee der Augenschwangerschaft existiert, -
denken Sie nur an das Wort Pupille - und das kommt daher, weil
die Mutter ihr Kind zuweilen Augapfel nennt. Oder kommt die Be-
zeichnung Augapfel daher, weil die Theorie allgemein ist und sich in
der Sprache festgesetzt hat? Ich weiß es nicht.
Genug. Die leitende Idee ist jedenfalls die von der Bauchschwanger-
sdiaft. Und wenn ich von den Phantasien über das Platzen und Auf-
192
schneiden des Bauches, über die Nabelgeburt und über die durch Er-
brechen absehe, bleibt für das Kind die Ansicht übrig, daß die Kleinen
durch den After ans Tageslidit kommen. Ich erzählte es Ihnen schon,
aber Sie müssen es sich tief ins Gedäditnis einprägen ; denn auf dieser
Theorie beruhen alle Verstopfungen, darauf beruht aber auch aller
Sparsamkeitssinn und also Handel und Wandel und Eigentumsbegriff,
darauf beruht zu guter Letzt Ordnungssinn - ja und vieles andre audi
nodi. Sie müssen nidit lachen, Liebe, wenn ich so etwas sage. Es klingt
mir selber ungeheuerlich, sobald idi es ausspreche, und doch ist es
wahr. Das Es kümmert sich eben gar nicht um unsre Ästhetik, unsern
Verstand und unser Denken. Es denkt selbständig, Esartig und spielt
mit den Begriffen, so daß alle Vernunft toll wird. „Für mich," sagt
es, „ist ein Kind dasselbe wie die Wurst, die du Menschenkind
madist, und ist dasselbe wie das Geld, das du besitzest ; ja, und das
habe idi noch vergessen, es ist auch dasselbe wie das Schwänzdien,
das den Jungen vorm Mädchen auszeidmet und das ich aus Laune und
weil's mir beliebte, vorn statt hinten angebracht habe. Hinten lasse
ich es alle vierundzwanzig Stunden einmal abfallen, kastriere
es, vorn lasse ich es denen, die ich als homines, Menschen, aner-
kenne, den andern Menschen nehme ich es ab, zwinge sie dazu,
es abzureiben, abzuschneiden, auszureißen. Denn ich brauche auch
Mädchen."
Das alles habe ich schon öfter erzählt. Doppelt hält jedoch besser.
Nun wollen wir sehen, was das Kind über die Empfängnis denkt.
Zunächst müssen wir uns aber klar darüber werden, wie es Ge-
legenheit und Zeit zum Nachdenken findet. Die Außenwelt bietet so
viel des Interessanten für ein Kindergehirn, daß schon irgendein
Zwang zum Stillsein angewendet werden muß, um alle Eindrücke zu
verarbeiten. Und da darf ich Sie wohl an das Thröndien erinnern,
von dem aus das Haus regiert wird, sobald es in seinen Mauern ein
Kindchen birgt. Ich wundre mich schon lange, daß noch niemand seine
Gelelirsamkeit dazu verwendet hat, die Bedeutung des Töpfchens zu
"13 Gr od dock, Das Buch vom Es
193
-*■ — ■■■ — • — r—
untersuchen, und doppelt unbegreif lidi ist es, seitdem Busdi in klassi-
schen Versen darauf aufmerksam gemacht hat :
Der Mensch in seinem dunklen Drang
Erfindet das Appartement.
In der Tat, Sie können sidi die Bedeutung dieses Gefäßes, das
sich während des ganzen Lebens den Größenverhältnissen des Körpers
und in der freiwilligen Zeitdauer der Verwendung dem Wunsche nach
tiefer Gedankeneinsamkeit anpaßt, nicht groß genug vorstellen. Da
ist zunächst der tägliche Festakt der ersten Lebensjahre.
Ich kann es nicht zahlen, wie oft ich aus freien Stücken oder
irgendwie gezwungen zugesehen habe, wie ganze Familien, gestrenge
Väter, sittsame Frauen und artige Kinder, der Entbindung des Kleinsten
von seiner Leibesbürde beigewohnt haben, in stummer Andacht, die
nur zuweilen von dem oder jenem durch ein mahnendes : Mach mh,
mh, unterbrochen wurde. Und wenn ich nicht irre, war es Ihre kleine
Margarete, die es so einzurichten wußte, daß sie jedesmal Nöte bekam,
wenn Besuch da war. Wie geschickt verstand sie dann, durch hart-
näckiges, stilles Verweigern der Leistung alles, was Hosen oder Röcke
trug, um sich zu vereinigen, um dann schließlich durch ein graziöses
Lüften des Hemdes zu zeigen, welch geheimnisvolle Schätze bei ihr
schlummerten, wobei sie dann nicht verfehlte, nach Schluß der Affäre
durch ein gefälliges Präsentieren auf die Kehrseite aufmerksam zu
machen.
Solch Verfahren ist häufig, ist bei den Kindern Regel. Und weil
wir doch einmal für Dinge, die wir aus Sdiicklichkeitsgründen nicht
gern als Allgemeingut anerkennen, gelehrte Namen erfinden, um so
tun zu können, als ob es sich um krankhafte Neigungen handle, denen
wir selbst mitleidsvoll schaudernd fernstehen, haben wir diesen Trieb,
unsre sexuellen Geheimnisse zur Schau zu tragen, Exhibitionismus
genannt. Dagegen ist nichts zu sagen. Aber nun hat Medizin, Juristerei,
Theologie und leider auch die züchtige Dirne Gesellschaft beschlossen,
es müsse Leute geben, die Exhibitionisten seien. Das heißt, Leute, bei
194
denen die Neigung, ihre Sexualität zur Sdiau zu (ragen, ins Krank-
hafte gesteigert sei. Gestatten Sie, daß ich midi dagegen welire. In
Wahrheit ist es mit den Exhibitionisten dieselbe Sache wie mit all
den andern mit den Endsilben „isten" etikettierten Menschen, mit
den Sadisten, Masochistcn, Fetischisten. Sie sind im Wesen nicht anders
wie wir, die wir uns gesund nennen, der einzige Unterschied ist, daß
wir nur da unsre Triebe, unsern „ismus", unsern Exhibitionismus zum
Vorschein kommen lassen, wo es die Mode erlaubt, während der „ist"
unmodern ist.
Vor einigen Jahren lief ein Mann hier morgens um sechs von
Haus zu Haus, klingelte, und, wenn das Dienstmädchen die Türe
öffnete, schlug er einen langen Kaisermantel zurüde, der sein einziges
Kleidungsstück war, und präsentierte dem erschrockenen Mädchen sein
erigiertes Glied, an das er zur besseren Wahrnehmung eine Laterne
gebunden hatte. Das nannte man krankhaft, das nannte man Exhibi-
tionismus. Aber warum nennt man nicht auch die Balltoilette so, die
doch genug zeigt, und das Tanzen, das doch ganz gewiß eine Schau-
stellung des Beisdilafs oder zum mindesten der Erotik ist? Freilidi
gibt es fanatische Keuschheitspharisäer, die behaupten, man tanze nur
der Bewegung halber. Ich darf wohl auf diese einseitige, übertreibende
Rettung der Moral mit einem ebenso einseitig übertreibenden Angriff
auf die Moral antworten und sagen : die Bewegung - mag es Tanzen,
Gehen oder Fechten sein - sei der Eroük wegen da. Heutzutage
trägt man leidlich weite Beinkleider, aber ein paar Jahrzehnte früher
konnte man sie nicht eng genug tragen, so daß sich die Gestalt der
männlichen Geschlcchtsabzeichen sdion von weitem abschätzen ließ, und
die Landsknechte der Reformationszeit hatten den Hodensack in
ziemlichen Dimensionen vorn an der Kleidung markiert und darüber
nähten sie einen Holzstock und überzogen seine Spitze mit rotem
Tuch. Und heutigen Tages? Der Spazierstock und die Zigarette sprechen
deutlich. Sehen Sie sich an, wie der Anfänger im Rauchen verfälirt,
wie er das Zigarettchen rasch hintereinander in den Mund ein- und
18*
195
"•
ausführt. Beachten Sie, wie eine Frau in den Wagen steigt und
sprechen Sie dann noch vom Krankhaften des Exhibitionismus. Frauen
häkeln, es ist Exhibition, Männer reiten, es ist Exhibition ; die Liebende
steckt ihre Hand in die Armkrümmung des Geliebten, es ist Exhibi-
tion, die Braut trägt den Brautkranz und Schleier, es ist Exhibition
der kommenden Hochzeitsnadit.
Sie haben wohl selbst bemerkt, wie nahe verwandt für midi
Exhibitionstrieb und Symbolisierungszwang ist, denn das Häkeln, die
Handarbeit eine Exhibition zu nennen, fülüe idi midi berechtigt, weil
die Nadel, das Glied, in die Masche, das Loch gefühlt wird, das
Reiten ist eine, weil die Identifikation von Pferd und Weib tief im
Unbewußten alles Denkens steckt ; und daß der Brautkranz die Scheide,
der Schleier das Jungfernhäutdien bedeutet, brauche ich nicht erst
zu sagen.
Der Sinn dieses Zwischenschiebsels vom Exhibitionismus ist Ihnen
wolü klar. Ich wollte damit sagen, daß kein prinzipieller Unterschied
zwischen gesund und krank existiert, daß es in das Belieben jedes
Arztes und jedes Kranken gestellt ist, was er krankhaft nennen will.
Das ist für den Arzt eine notwendige Einsicht. Sonst verliert er sich
auf den unwegsamen Pfaden des Heilenwollens, und das ist, da doch
letzten Endes das Es heilt, der Arzt aber nur behandelt, ein ver-
hängnisvoller Irrtum. Wir können uns ja darüber gelegentlich unter-
halten. Heut liegt mir etwas andres am Herzen.
Es gibt eine Art Gegenstück zum Exhibitionismus : das Voyeurtum.
Man versteht darunter, wie es scheint, den Trieb, sich den Anblick
von irgendwelchen sexuellen Dingen zu verschaffen. Und auch diesem
Triebe hat man die Ehre angetan, ihn sich bei den sogenannten
Voyeurs bis ins Krankhafte gesteigert zu denken. Das ist, wie gesagt,
Geschmacksache. Ich habe nicht viel für Leute übrig, die an der Erotik
vorübergehen, und glaube nicht an die Echtheit der Bewegung, mit
der die Pensionatsvorsteherin den aufgespannten Sonnenschirm gegen
das Flußbad des Gymnasiums dreht Sicher ist, daß diese beiden
196
Triebe : zu zeigen und zu sehen, eine große Breite im mensdilidien
Dasein haben und auf Menschlidies und Allzumensdilidies einwirken.
Denken Sie sich diese beiden Triebe, die so pervers sind, aus dem
Leben der Menschheit weg, was würde dann wohl sein? Wo bliebe
die Dichtung mit Theater und dem Hochziehen des Vorhangs, die
Kirche mit ihren Hodizeiten, die Gärten mit ihren Blumen und das
Haus mit dem Sdimudc der Möbel und Bilder? Glauben Sie mir,
manchmal weiß ich nicht, ob ich weinen oder lachen soll. Und wenn
ich in dieser Verfassung bin, werden meine Augen schärfer und ich
gebe mich nach und nach mit der Einsicht zufrieden, daß diese Dinge
für mich interessant sind und Stoff für Ihre Unterhaltung bieten.
PATRIK TROLL.
22.
DANK, LIEBE FREUNDIN, DIESMAL HABEN SIE SICH RASCH
in die Sache gefunden. Die Geschichte von Klcin-Else, die im Hemddien
in Rire Abendgesellschaft kommt, um Gute Nacht zu sagen, und auf
die Worte der Mutter : „Schäm didi doch, Else, im Hemd kommt man
nicht, wenn Besuch da ist", prompt dieses letzte Kleidungsstück hodi-
hebt, um sich zu schämen, paßt gut in unsre gemeinsame Sammlung,
und Ernst, der in das Röckchen seiner Schwester ein Lodi geschnitten
hat, damit er immer sehen kann, wie „sie" da unten aussieht, illustriert
trefflich die Gewohnheit der Bühnen, im Vorhang ein Gucklodi anzu-
bringen. Vielleidit führt Sic das darauf, warum ich das Theater mit
Exlübition und Voycurtum zusammenbrachte. Der Akt ist eben wirk-
lich ein Akt, ein symbolischer Gesdilechtsakt.
Da haben Sie auch gleichzeitig meine Antwort auf unsern Streit-
punkt der multiplen Perversion des Kindes. Ich bleibe bei meiner Be-
hauptung, daß diese multiple Perversion eine allgemeine Eigenschaft
aller Menschen, aller Altersklassen ist und lasse mich darin nicht
einmal durdi Sie irremachen. Die beiden Perversionen, Exhibitionis-
mus und Voyeurtum, sind gewiß bei jedem Kinde zu finden, da ist
197
kein Zweifel. Und idi verkenne durchaus nidit die Bedeutung der
Tatsache, daß die Kinder bis zu drei Jahren solche Perversionen mit
besondrer Vorliebe betreiben; ich werde darauf zurückkommen, wie
ich Ihnen denn überhaupt ein cindringlidies Wort darüber sagen muß,
daß die Natur die unerinnerbaren drei ersten Jahre benützt, um das
Kind zum Liebessklaven und Liebeskünstler auszubilden. Aber was
dem Kinde recht ist, ist dem Erwachsenen billig. Es läßt sich doch
nicht bestreiten, daß der Liebende die Geliebte gern nackt sieht, und
daß sie sich nicht ungern« nackt zeigt, ja daß es ein nicht mißzuver-
stehendes Zeichen der Erkrankung ist, wenn sie das nicht gern tut.
Und ich brauche Ihnen nicht erst zu sagen, daß das Töpfchen dabei
keine geringe Rolle spielt. Aber ist es nicht spaßhaft, daß die Gelehrten,
die Richter, die Damen, am Tage, im Ernst des Tages ganz vergessen,
was sie des Nachts getan haben ? Und selbst unsereinem, der sich
einbildet, vorurteilslos zu sein, geht es so. Der Satz: „Worüber du
schiltst, das tust du selbst", ist eben eine Wahrheit, bis in die kleinsten
Kleinigkeiten eine Wahrheit. Wir Menschen handeln alle nach dem
Prinzip dessen, der gestohlen hat und nun zuerst und am lautesten
schreit : „Haltet den Dieb !"
Übrigens beschränkt sidi die Perversion nicht auf den Gesichtssinn.
Es klingt verrückt, wenn ich von einer Gehörs- und Geruchsexhibi-
tion spreche, von einem Voyeurtum des Fühlens und Schmeckens, be-
zeichnet aber etwas Tatsädüiches und Wesentliches. Nicht nur der
Knabe pinkelt mit hörbarem Nachdruck, um seine Männlichkeit an-
zudeuten, der Erwachsene tut es im Liebesspiel auch. Die Neugier
oder die bis zur Krankheit gehende Wut, mit der man das Liebes-
geflüster und heiße Stöhnen des jungen Ehepaars im Nachbarzimmer
des Hotels verfolgt, das Plätschern beim Waschen oder das eigentüm-
liche Klappen der Nachttischtür und das Rauschen des Urinwasser-
falles kennen Sie aus eigener Erfahrung. Die Mütter ahmen es nach
mit ihren eigentümlichen Zischworten „wsch, wsdi", die das Kind zur
Ejakulation des Harns veranlassen sollen, und wir Ärzte benutzen
198
.
alle den Kunstgriff 1 , den Wasserhahn aufzudrehen, wenn wir sehen,
daß der Kranke sidi schämt, in unsrer Gegenwart den Topf zu be-
nutzen. Und welch eine Rolle spielt nun gar erst das Pupen im
menschlichen Leben ! Sie sind nicht die einzige, liebe Freundin, die
beim Lesen dieses Satzes in Erinnerung an irgendwelche ergötzliche
Knallerei vergnügt lächelt. Freilich bin ich darauf gefaßt, daß Ihre
Freundin Katinka, wenn Sie ihr diesen Brief geben, gesittet Pfui
sagt und nidit mehr weiter lesen will und daß der Geheimrat Schwer-
leber, da er längst seinen Humor in den schwer wasdibaren Falten
seines Salbadermundes vergraben hat, tadelnd das Wort Schwein aus-
spricht. Aber der Zorn beweist ebenso wie das Lachen, daß der Affekt
da ist, daß der Gehörsexhibitionist einem Gehörsvoycur begegnete.
Vom Furz aus ist der Übergang zu den Vorgängen in der Zone
des Geruchssinnes ohne weiteres gegeben. Idi überlasse es Ihnen, sich
die anziehenden und abstoßenden Gerüdie, die vom Menschen selbst
ausgehen oder die er sich selbst anheftet, zu vergegenwärtigen,
knüpfe nur einige Bemerkungen daran. Zunächst das eine, das sich
schon aus der Bildung des vorhergehenden Satzes ergibt, daß Her-
vorbringen oder Wahrnehmen von Gerüchen durchaus nicht immer
den Charakter der sexuellen Aufforderung tragen. Es gilt eben audi
hier das Gesetz vom Gegensatz. Man gibt unter Umständen im Ge-
ruch Haß, Verachtung und Abscheu zu erkennen. Sie werden mir zu-
geben, daß der Gestank, den das Es an Mund, Händen, Füßen, Ge-
schlechtsteilen verwendet, gewaltsamere Affekte, wenigstens für unser
Bewußtsein, hervorruft als der Wohlgeruch. Ich darf wohl, um Ihnen
die seltsamen Mätzchen des Es klar zu machen, an unsre gemeinsame
Ireundin Wehler erinnern. Sie wissen, daß sie wunderschönes Haar
hat, vielleicht das schönste, das ich kenne. Aber ich sehe förmlich, wie
Sie das Gesicht verziehen. Dieses schöne Haar stinkt wie die Pest.
Oder vielmehr es stank, denn jetzt würde die feinste Nase nicht das
Geringste mehr an dem Duft dieses Haares auszusetzen brauchen.
Anni ist diese verhängnisvolle Verquickung von schön und häßlich
199
einfach und rasch los geworden, seitdem sie sich bewußt geworden
ist, daß ihr Es besonders sinnlich ist und deshalb dies schöne Haar
geschaffen hat, ähnlich wie es die Sinnlichsten der Sinnlichen, die
Sdiwindsüchtigen, mit Haar, Augen, Zähnen tun. Auf dieses Es hat
das Leben ein zweites moralisches, ängstlidies Es daraufgesetzt, das
den Gestank schuf, um die lockende Anziehung durch ein Abstoßen
zu lähmen.
Noch etwas bei dieser Gelegenheit; Sie behaupten immer, Leute,
die sich nidit wüschen, stänken. Ich habe selbst mit angehört, wie Sie
Ihrem Knaben, der seinen zehn Jahren gemäß wasserscheu war, die-
sen Satz mit nachdrücklicher und handgreiflicher Untersuchung von
Ohren, Hals und Händen einzuprägen suchten. Darf ich mir die Frage
gestatten, wie oft Sie sich die Haare waschen ? Und ich kann Sie ver-
sichern, daß Ihre Haare wie frisches Heu duften. Das Es kümmert
sich gar nicht um die albernen Ansichten der Menschen. Es stinkt,
wenn es stinken will, und es verwandelt den Dreck in Wohlgeruch,
wenn es ihm beliebt. Ab und zu will es mich bedünken, als ob die
Menschen sich nicht etwa waschen, weil sie den Dreck verabscheuen,
sondern weil sie wie Pilatus bei der Verurteilung Christi den Leuten
eine Reinlichkeit vortäuschen wollen, die sie gar nicht besitzen. Der
Satz jenes Jungen: „Ich bin kein solches Schwein, daß ich mich alle
Tage zu waschen brauche," ist gar nicht so dumm. Es ist mit dem
Abscheu vor dem Schmutz ähnlich wie mit dem vor dem Aa und
Pipi. Man wischt sich sehr sorgfältig ab, wäscht sich womöglich nach
jeder Entleerung fester oder flüssiger Art und bedenkt nicht, daß
man in seinem Bauche diese angeblich schmutzigen Dinge dauernd
mit sich herumträgt. O, du wandelndes Klosett, das du dich Mensch
nennst, je mehr du Ekel und Abscheu vor dem Kot und Urin äußerst,
um so deutlicher zeigst du deine Lüsternheit in diesen Dingen, und je
mehr du dich wäschst, um so besser weiß ich, daß du deine Seele für
schmutzig hältst. Aber warum verschluckst du deine Spucke, wenn
Spucke ekelhaft ist?
200
Ich will Sie nicht weiter mit Paradoxen quälen, sondern Sie lieber
auf eine seltsame Form der Exhibition aufmerksam machen, auf die
vor sich selbst. Der Spiegel fällt Ihnen ein, und damit der Narziß-
mus — denn Narziß eifand den Spiegel — und die Onanie - und
der Spiegel ist ein Onaniesymbol - und wenn Sie ein Taschenspieler-
gehirn haben wie ich, denken Sie daran, daß man vor dem Spiegel
auch Fratzen schneidet, sich zum Wohlgefallen, daß also wirklich die
Exhibition doppclwcrtig, anziehend und häßlich sein kann.
Aber ich war beim Geruch und beim Klosett, und wenn es Urnen
beliebt, nennen Sie mir bitte irgendeine von Ihren Freundinnen, die
auf dem Klosett nidit ihre Entleerungen ansieht - der Gesundheit
wegen, versteht sich. Ich glaube, keine hält sich dabei die Nase zu,
und möglicherweise gibt es welche darunter, die abends im Bett, wenn
erst die Luftheizung gewirkt hat, unter die Decke kriechen, um zu
konstatieren, was für Brennmaterial verwendet worden ist; vielleicht
riecht sogar eine oder die andere am Finger, wenn das Papier am
Ort der hohen Gefühle nicht dicht war. Und sicher - glauben Sie
mir - es gibt gebildete Leute, die popeln, wenn sie allein sind; denn
ein Loch ruht nicht eher, als bis etwas hineingesteckt ist, und die
Nasenlöcher machen davon keine Ausnahme.
Was könnte ich Ihnen alles von diesen unbewußten Exhibitio-
nen der Gebärden, der Stimme, der Gewohnheiten erzählen ! Suchet,
so werdet ihr finden, heißt es in der Bibel. Aber es heißt auch
Sie haben Augen und sehen nicht, und sie haben Ohren und hören
nicht.
Die Zusammenhänge des Gesdimacksinns mit dem unbewußten
Eros sind schwer zum Bewußtsein zu bringen. Am leichtesten sind
die Verhältnisse noch bei dem Schnullen der Kinder zu verfolgen,
das ja in innigem Zusammenhang mit dem Saugakt steht. Wenn man
sich dann, von dieser Erfahrung ausgehend, ein wenig Mühe gibt,
findet man nicht allzu selten im Verkehr Liebender Gewohnheiten,
die im Sinne des Schmeckens gedeutet werden können. So ist das
201
1 1
Saugen am Finger des andern etwas, was man häufig beobachten
kann. Aber die Heimlichkeit solcher Liebkosungen erzählt deutlich,
wie groß die Wertschätzung des Schmeckens ist. Man mag noch so
sittsam sein, das Saugen an der Haut, an Brust, Lippen, Hals beglei-
tet den Liebesakt, und die Zunge ist für einen jeden, nicht nur im
wunderbar wechselnden Ausdruck des Wortes „Liebe", Organ der
Wollust. Vor allem aber sdieint mir, daß das Zurschautragen der
Brüste eine Aufforderung zum Schmecken ist, freilich gepaart mit der
zum Fühlen und Sehen, wie denn immer die Sinnesfunktionen sich
paaren. Und das führt dann dazu, eine echte Exhibiton des Es fest-
zustellen, die Erektion der Brustwarze, die ganz unabhängig von dem
Willen des Menschen das keuscheste Mädchen befällt und in ange-
nehm leisem Kitzel über die Gelehrten und über Sie, liebe Freundin,
lächelt, daß Sie Perversion nennen, unnatürliche Neigung, was Natur
selbst tut. Ich überlasse es vorläufig Ihnen, von der Erektion der
Brustwarze auf die des Mannes zu schließen, muß aber später, so
heikel das Thema audi ist, darauf zurückkommen.
Eins aber muß ich noch erwähnen, was in das Gebiet der Ge-
schmackserotik gehört, das sind die Lieblingsspeisen. Die Vorliebe für
süß, sauer, bitter, fett, salzig, für diese Speise und jenes Getränk,
das Anbieten, Nötigen, die Art des Essens und die Zusammen-
stellung eines Menüs verraten Neigungen seltsamer Art. Behalten
Sie es im Gedächtnis und - vergessen Sie das nicht - es ist das-
selbe, ob jemand Schweinebraten gerne ißt oder ob ihm davon übel
wird.
Soll ich Ihnen auch noch etwas vom Fühlen erzählen ? Sie können
es sich selbst zusammenreimen, können bedenken und probieren : das
Entgegenstrecken der Hand und die Lippen, die sich darbieten, das
Knie, das sich anschmiegt und das Treten unter dem Tisch. Aber es
gibt Vorgänge, die nicht ohne weiteres zu verstehen sind. Gewiß, der
erotische Zweck einer streichelnden Hand ist rasch empfunden und
rasch gedeutet. Wie steht es jedoch mit den kalten Händen? Kalte
202
Hände, warmes Herz, sagt der Volksmund, und der Volksmund irrt
selten. „Sieh, ich bin kalt," sagt solche Hand, „wärme midi, idi braudie
Liebe." Dahinter lauert versteckt das Es, verschmitzt wie immer. „Der
Mann gefällt mir," denkt es, „vielleidit aber gefalle ich ihm nicht.
Sehen wir zu. Schreckt ihn die Kälte meiner Hand nicht ab, faßt seine
Hand liebevoll das armselige Ding, das ich ihm biete, so wird alles
gut gehen. Und bleibt er unnahbar, kalt wie meine Hand, so kann
er mich doch lieb haben und nur von der Kälte ersdireckt sein." Und
- ja das Es ist raffinierter, als Sie denken - es läßt die Hand auch
feucht werden, sie wird dann ein echter Probierstein der Liebe ; denn
um eine feuchtkalte Hand gern zu fassen, muß man ihren Eigentümer
wohl gern haben. Diese exhibitionistische Hand berichtet frank und
offen : „Sich, selbst in der Kälte strömen die Lebenssäfte aus mir
heraus, so glühend ist meine Leidenschaft. Mit welchen Fluten der
Liebe werde ich didi überströmen, wenn du mich erwärmst."
Sic sehen, Liebste, ich bin schon in den tiefen Schichten unbewußter
Erotik, in der Deutung physiologischer Prozesse, und dabei mödite idi
einen Augenblick verweilen. Denn mir als Arzt bietet die unbewußte
Zurschaustellung der Sexualität mehr Interesse als der einfach im
psychisch Bewußten wirkende Trieb.
Als gelegenes Beispiel finde ich Vorgänge in der Haut, die mir
viel Mühe gemadit haben. Sie wissen, als Schüler Sdiweningers werde
idi auch jetzt noch hie und da von Hautkranken aufgesucht, und unter
ihnen sind immer einige, die an chronischen, juckenden Ausschlägen
leiden. Früher habe ich achtlos die Worte überhört, mit denen sie an
irgendeiner Stelle ihre Krankheitserscheinungen erläutern, daß sie
nämlich eine empfindliche Haut haben. Jetzt weiß ich, daß ihr Ekzem
dieselbe Versicherung unablässig wiederholt, nur daß es deutlicher
spricht und die Art der Empfindlichkeit beschreibt. Es erzählt — ich
glaube es wenigstens herauszuhören, und der Erfolg scheint mir recht-
zugeben : - „Sieh doch, wie meine Haut danach verlangt, leise gekitzelt
zu werden. Es ist solch wunderbarer Reiz im sanften Streicheln, und
203
niemand streichelt midi. Versteht mich doch, helft mir dodi! Wie
soll ich mein Verlangen besser ausdrücken als durch die Kratzspuren,
die ich mir erzwinge." Das ist eine echte Exhibition auf dem Gebiete
des Fühlens.
So, nun haben wir lange genug uns unterhalten, und unser Kindchen,
das wir auf seinem Thrönchen ernsthaft, nachdenklich sitzen ließen,
hat sein Geschäft inzwischen beendet. Von seinen Ideen während
dieser Zeit wollte ich Ihnen beriditen, habe es aber nidit getan, weil
es nicht sidier ist, daß es gerade in dieser Stellung sich mit dem Ge-
danken der Empfängnis beschäftigt. Ich werde es später nachholen.
Eins aber muß ich noch sagen, ehe ich Abschied von Ihnen nehme:
der Topf - oder das Klosett, das ist dasselbe - ist ein wichtiges
Möbel, und es gibt viele, viele Menschen, die drei Viertel ihres Lebens
darauf zubringen; nicht gerade so, daß sie im wörtlichen Sinne darauf
sitzen, aber des Morgens wachen sie auf mit dem Gedanken : werde
ich heute Stuhlgang haben, und wenige Stunden, nachdem das schwere
Werk gelungen, beginnen sie wieder zu denken - und auch davon
zu sprechen, gewöhnlich bei der Mittagsmahlzeit : - werde ich morgen
Stuhlgang haben? - Es ist eben eine komische Welt.
Bedenken Sie nur : das kleine Kind liebt es, mit Vater und Mutter
mitzugehen und ihre Tätigkeit am stillen Ort zu beobachten ; wird
es größer, so sucht es sich Kameraden, um weiter zu studieren und
mehr zu enträtseln ; dann kommt die Zeit der Pubertät, und wieder
spielt sich auf dem Klosett das am tiefsten ergreifende Erlebnis dieser
Jahre, ja vielleicht des ganzen Lebens ab, die Onanie. Nach der Ent-
wicklung beginnt nun die Verdummung des Menschen, und er begnügt
sich, statt den Wundern des Lebens nachzugehen, damit, Zeitung zu
lesen, sich zu bilden, bis schließlich das Greisenalter kommt und nicht
selten der Schlaganfall auf dem Klosett allem ein Ende macht. Von
der Wiege bis zum Grabe.
Ich grüße Sie herzlichst.
Immer Ihr TROLL.
204
23-
ICH GEBE ZU, BESTE FREUNDIN, DASS ES UNRECHT IST, SO
lange von der Exhibition zu sprechen, und auch das räume ich ein, daß
ich die Bedeutung des Wortes ungebührlich gedehnt habe. Die Erklärung
dafür ist, daß ich zurzeit gerade mit ein paar Kranken zu tun habe,
die diesem Trieb mit Virtuosität fröhnen. Ich hatte gehofft, Sie würden
des Inhalts halber über die Form hinwegsehen.
So will ich denn heute, statt in ein System zu pressen, was
systemlos ist, nur ein paar Beobachtungen aneinander reihen. Sie
mögen selbst die Sdilüsse ziehen.
Achten Sie, bitte, ein paar Tage auf den Mund von Helene
Karsten. Sie können viel dabei kennen lernen.
Sie wissen, dieser Mund gilt als besonders klein, er sieht aus,
als ob mit Mühe ein Markstück hineingesteckt werden könnte. Aber
sprechen Sie vor ihr das Wort Pferd aus, und der Mund wird breit
wie ein Pferdemaul, und das Gebiß wird gefletscht, wie das Pferd es
tut. Warum ? Hinter Helenens Elternhaus lag der Exerzierplatz eines
Dragonerregiments. An den Pferden dort hat sie ihr Studium über
Mann und Weib gemacht, und auf ein solches Pferd ist sie von einem
Unteroffizier als kleines Mädchen gehoben worden und hat dabei
angeblich ihre ersten Wollustempfindungen gehabt. Stellen Sie sich vor,
daß ein fünfjähriges Mädchen neben einem Wallach steht, dann sieht
es vor sich den Bauch mit einem daranhängenden Ding, das sich
plötzlich um das Doppelte verlängert und einen mäditigen Harnstrahl
aus dem Bauche herabsendet. In der Tat ein überwältigender Anblick
für ein Kind.
Das Volk erzählt sich, daß man bei Frauen nach der Größe des
Mundes die Größe des Scheideneingangs beurteilen könne. Vielleicht hat
das Volk recht, denn der Parallelismus zwischen Mund und Geschlechts-
öffnung besteht. Die Gestalt des Mundes folgt den Geschlechts-
erregungen, und wenn er es nicht tut, verraten sich in seinem Muskel-
spiel die Verdrängungen. Und das Gähnen erzählt nicht nur von dem
205
Müdesein, sondern auch davon, daß der Gähnende im gegebeneu
Augenblick ein begehrendes Weib ist, ähnlich wie der, der mit offnem
Munde schläft.
Schauen Sie sich doch die Menschen an, Sie lesen in ihrem Gesicht,
ihrer Kopfform, der Haudgestaltung, dem Gang tausend Geschichten.
Dort ist einer mit hervor quellenden Augen ; seien Sie sicher, er will
Ihnen schon von fern seine Neugier und den Schreck über wunder-
bare Entdeckungen zeigen; diese tiefliegenden Augen zogen sich zurück,
als der Menschenhaß groß ward ; sie wollen nicht sehen und noch
weniger gesehen werden. Die Tränen, die geweint weiden, sind nicht
nur Trauer und Sdimerz geweiht, sie ahmen die Perle nach, die tief
in der Muschel ruht, in der Perlmuttermuschel des Weibes, und
jedes Weinen ist voll symbolischer Wollust. Immer, ohne Ausnahme.
Das weiß auch jeder Dichter, seit Jahrtausenden wissen sie es und
erzählen davon, ohne es bewußt auszusprechen. Nur die, die es wissen
müßten, die wissen es nicht. Eros benutzt das Auge zu seinen Diensten,
es muß ihm Bilder geben, die ihm gefallen. Und wenn ihrer zu viele
wurden, wäscht er sie ab ; er läßt das Auge überquellen, weil die
innere Spannung zu groß wurde, um auf dem Wege der genitalen
Absonderung gelöst zu werden, weil ihm das Verfahren der Kindheit,
die Erregung im Harn auszuströmen, gesperrt ist, oder weil er, ver-
stimmt von der Moralität, den Menschen im Gleichnis dafür büßen
lassen will, daß er sich schämt erotisch zu sein. Eros ist ein starker,
eifriger Gott, der grausam und höhnisch zu strafen weiß. „Du nennst
schmutzig," zürnt er, „daß ich die höchste Leistung des Menschen, die
Vereinigung von Mann und Weib und die Sdiöpfung des Neuen an
das Naßwerden zwischen den Schenkeln band. So sollst du deinen
Willen haben. Du hast Schleimhäute im Darm und anderswo, deine
Ejakulation sei fortan Diarrhoe, Auswurf, Schnupfen, Fußschweiß oder
Achselschweiß und vor allem Harnen."
Ich verstehe, daß Sie das alles sonderbar finden. Aber wer hin-
dert mich, zu phantasieren, wie idi will; heute Eros zu nennen, was
206
ich gestern Es nannte ; dies Es als strafenden Gott aufzufassen, ob-
wohl idi es eben als mitleidig, zart und sanft schilderte, ihm eine
Madit zu geben, die hierhin drängt und dort verbietet und immer
wieder mit sidi selbst in Widerspruch zu geraten scheint. Damit tue
ich nichts andres, als was die Menschen von jeher getan haben. Und
es scheint mir für unser woldgeordnetes Oberflächendenken nützlich
zu sein, ab und zu die Dinge durcheinander zu werfen. Alles muß
revolutioniert werden, das ist ein dummes Ziel, aber eine richtige
Beobachtung.
Darf ich weiter phantasieren? Ich sprach vorhin von der Gleich-
setzung von Mund und Geschlechtsöffnung. So ist die Nase für ein
launisch gewordenes Es, dessen Machtvollkommenheit unbegrenzt ist,
ein Mannesglied, und demzufolge laßt es die Nase groß wachsen
oder klein, stumpf oder spitz, setzt sie wohl auch sdiief in das Ge-
sicht, je nachdem es diese oder jene Neigung damit kundtun will.
Und nun ziehen Sie, bitte, Ihre Schlußfolgerungen für die Entstehung
des Nasenblutens, das ja in bestimmten Altersperioden häufig ist,
für Haare, die aus den Nasenlöchern wachsen, für Polypen und skro-
fulösen Gestank. Die Ohren wiederum haben Muscheln, und Muschel,
das erzählte ich schon, ist Symbol des Weibseins. Das Ohr ist emp-
fangendes Organ, und seine Gestalt ist für träumerische Beobachter
nicht uninteressant.
Aber Sie müssen nicht etwa glauben, daß ich Erklärungen geben
will. Das Leben ist viel zu bunt, um es zu kennen, viel zu glatt, um
es zu packen. Vielleicht will ich nur ein wenig über die Logik spotten.
Vielleicht steckt auch mehr dahinter.
Haben Sie schon bemerkt, wie schwierig es oft ist, Kinder dazu
zu bringen, daß sie sich in den Mund schauen lassen ? Das Kind
denkt noch naiv : es hält den Mund für den Eingang der Seele und
glaubt, der Arzt, den kleine und große Narren für einen Zauberer
halten, könne dort alle Geheimnisse sehen. Und tatsächlich steckt im
Schlund etwas, was kein Kind gerne verrät, das Wissen um Mann
207
. '
und WeU, Dort hinten sind zwei Bogen, - oder sind es die beiden
Mandeln - die begrenzen eine Öffnung, die in die Tiefe führt, da-
zwischen zuckt, verkürzt oder verlängert, bewegt sich ein Gebilde, das
rot ist, dort hängt ein Schwänzten. „Der Brillenmann, der Onkel
Doktor weiß, wenn er das sieht, daß ich lauschend im Bett lag, wäh-
rend d.e Eltern mich schlafend glaubten und mit Öffnung und Stem-
pel Spiele spielten, die ich nid* wissen darf. Und wer weiß, vielleicht
Steht «ort geschrieben, was ich selbst trieb, ohne daß es jemand er-
fahr. Halsentzündungen bei Kindern sind lehrreich, Sie glauben nicht,
was man alles aus ihnen herauslesen kann.
Und nun gar erst die Masern und Scharlach! .Mi brenne, ich
brenne,« erzählt das Fieber, „und ich sdiäme mich so, sieh nur, idi
bin rot geworden über den ganzen Körper.« Sie brauchen das natür-
hcfa nicht zu glauben, aber woher kommt es wohl, daß unter drei
Kindern zwei an Scharlach erkranken und eins bleibt gesund? Manch-
mal ist eine phantastische Erklärung besser als gar keine. Und so
ganz dumm ist es wirklich nicht. Sie müssen nur bedenken, daß das
Alter der Leidenschaft nicht die Zeit der Jugend ist, sondern die
Kindheit Die Schamröte aber in ihrem vom Es gewollten Doppelsinn
«eht einen Schleier über das Gesicht, damit man nicht sieht, was da-
hinter vorgeht, damit man sieht, wie das Feuer der Sinnlichkeit auf-
lodert, damit man weiß, daß das moralisch erzogene Es das heiße
Blut vom Bauch, von den Geschlechtsteilen, von Hölle und Teufel weg
m den Kopf treibt, um um so dichter das Gehirn zu umnebeln.
I<h könnte nun noch lange so weiter erzählen, von Lungenentzün-
dungen und Krebs, von Gallensteinen und Nierenblutungen, aber wir
können davon auch später sprechen. Heute nur noch ein einziges
Wort über den Exhibitionstrieb und seine Kraft. Vor einem Jahr-
hundert gab es noch keine Frauenärzte und heut ist in jedem Städt-
chen un d an jeder Großstadtstraßenecke ein Spezialist. Das ist, weil
die trau nie Gelegenheit hat, sich außerhalb der Ehe zu zeigen, weil
das Kranksein alles entschuldigt, und weil das Kranksein die unbe-
208
wußten, halbbewußten und bewußten strafbaren Wünsche rächt und
so vor der ewigen Strafe schützt.
Es gibt eine Form der Exhibition, die für das Zustandekommen
unsrer Korrespondenz historisch wichtig ist, das ist die Hysterie, im
besonderen der hysterische Krampfanfall. Ich habe schon einmal den
Namen Freud erwähnt und idi möchte wiederholen, was ich anfangs
sagte: Alles, was in diesen gemischten Briefen richtig ist, geht auf ihn
zurüde. Nun, Freud hat vor einigen Jahrzehnten die ersten grund-
legenden Beobachtungen über das Es bei einer Hysterischen gemacht.
Ich weiß nicht, wie er jetzt über diese Erscheinungen denkt, ich darf
mich also nicht auf ihn berufen, wenn ich behaupte, daß das Es des
Hysterischen listiger ist als das aller andern Menschen. Mitunter be-
kommt dieses Es Lust, die Geheimnisse des Eros vor aller Welt und
in voller Öffentlichkeit zu produzieren. Und um diese Aufführungen,
gegen die alle Nackt- und Bauchtänze nichts sind, ungestört von
Selbstvorwürfen und moralischer Entrüstung der Umwelt geben zu
können, erfindet das Es die Bewußtlosigkeit und kostümiert die ero-
tischen Vorgänge symbolisch als krampfhafte, sdireckenerregende Be-
wegungen und Verrenkungen von Rumpf, Kopf und Gliedmaßen. Es
geht dabei ähnlich zu wie im Traum, nur daß das Es für seinen
Krampf ein verehrliches Publikum einladet, über das es sich weidlich
lustig macht.
Ich nähere mich jetzt wieder den Mitteilungen über die Begattungs-
und Empfängnistheorie, wie sie das Kind hat, wie Sie sie gehabt ha-
ben und wie ich sie gehabt habe. Vorher muß ich noch eine Frage
stellen. Wann, glauben Sie wohl, haben Sie zuerst den Unterschied
der Gesdilechter kennengelernt ? Aber bitte, antworten Sie nidit :
„Mit 8 Jahren ; da wurde mein Bruder geboren." Denn ich bin über-
zeugt, daß Sie auch schon mit 5 Jahren imstande waren, ein nacktes
Mädchen von einem nackten Jungen zu unterscheiden und mit 3 Jah-
ren auch und vielleicht noch früher. Schließlich wird sich herausstel-
len, daß Sie ebensowenig davon wissen wie ich, ja daß überhaupt
14 G r (1 d e c k, Das Buch vom Es
209
Niemand etwas davon weiß. Ich kenne einen kleinen Jungen von
2% Jahren, Stadio genannt. Der sah zu, wie sein neugeborenes
Schwesterchen gewaschen wurde, sprach dann - und wies zwischen
seine Beine - die Worte : „Stacho hat« und drehte dem Mädchen den
Rücken.
Nun also, über den Zeitpunkt, wann das Kind Kenntnis vom
Unterschied der Geschlechter bekommt, wissen wir nichts, aber daß es
schon vor dem vierten Lebensjahr ein lebhaftes Interesse dafür hat,
diese Unterschiede festzustellen, über ihre Gründe nachzudenken und
danach zu fragen, das wissen sogar die Mütter; für mich ein unwider-
leglicher Beweis dafür, daß dieses Interesse überaus lebhaft ist. Ich
erzählte Ihnen schon früher einmal, daß das Kind unter dem Asso-
ziationszwang des Kastrationskomplexes annimmt, alle Menschen seien
mit einem Schwänzchen ausgestartet, seien männlichen Geschlechts, und
was Frau und Mädchen genannt werde, seien kastrierte, verschnittne
Männer, verschnitten zum Zweck des Kinderkriegens und zur Strafe
für die Onanie. Diese Idee, die gar nicht so dumm, in ihren Wir-
kungen aber von unberechenbarer Bedeutung ist, weil darauf das
Überlegenheitsgefülil des Mannes und das Minderwertigkeitsgefühl
des Weibes beruht, weil deswegen das Weib unten, der Mann
oben liegt, weil deswegen die Frau nach oben, gen Himmel,
zur Religion strebt, der Mann aber nach vorn, in die Tiefe,
zur Philosophie hin, diese Idee verbindet sidi in der verworrenen
und doch so logischen Denkweise des Kindes mit den Resultaten
sorgfältiger Prüfung der männlichen Geschlechtsteile. Man erwägt in
angeborenem hausväterischen Sinn, - Sie und ich haben es getan
und jeder tut es - wie wohl diese abgeschnittenen Geschlechtsteile
verwertet werden mögen. Die Verwendung des Anhängsels selbst
bleibt zunächst rätselhaft; unter Umständen scheint es als Blind-
darm sein Dasein zu fristen. Dagegen sind in dem Säckchen zwei
kleine Gebilde, die entschieden Ähnlichkeit mit Eiern haben. Eier
aber werden gegessen. Also werden die Eier, die den zum Frausein
210
verurteilten Männern abgeschnitten werden, gegessen. Vor solchem
Schluß scheut sich sogar das Kind, das im allgemeinen wenig Gefühl
für fremdes Leid aufbringt. Es findet es sinnlos, nur des Essens wegen
Menschen anzuschneiden, da ja von den Hühnern genug Eier gelegt
werden. Damm wird ein weiterer Grund gesucht, um das Abschneiden
und Aufessen verständlich zu machen. Da kommt dem nachdenklichen
Kinde eine Erfahrung zu Hilfe, die es frühzeitig macht; aus Eiern
entstehen Küchlein, Hühnerkinder ; und diese Eier kommen hinten aus
der Henne heraus, aus dem Loch im Hennenpopo ; und aus dem Frauen-
popo kommen, das ist schon ausgemacht, die Kinder. Jetzt wird die
Sache klar. Die abgeschnittenen Eier werden gegessen, nicht weil sie
gut schmecken, sondern weil daraus die kleinen Mensdienkinder
werden. Und langsam schließt sich der Kreis der Gedanken, und aus
dem nebelhaften Dunkel des Denkens tritt schreckenerregend ein
Mensch hervor: der Vater. Der Vater schneidet der Mutter die Ge-
schlechtsteile ab und gibt sie ihr zu essen. Und daraus werden die
Kinder. Das ist es, weshalb die atemraubenden, betterschütternden
Kämpfe zwischen den Eltern des Nachts sich abspielen, deswegen das
Stöhnen und Ächzen, deswegen das Blut im Nachttopf. Der Vater
ist furchtbar, ein Grausamer, Strafender. Was aber straft er? Das
Reiben und Spielen. Sollte die Mutter auch spielen ? Der Gedanke
ist unausdenkbar. Aber er braucht nicht gedacht zu werden. Denn
an seine Stelle tritt die Erfahrung. Die mütterliche Hand reibt
täglich die kindlichen Eierdien des Sohnes, spielt mit seinem
Schwänzchen. „Die Mutter kennt das Reiben. Der Vater weiß davon
und straft. So wird er auch midi strafen, denn ich spiele auch.
Möchte er doch strafen, denn ich will Kinder haben! Ich will
spielen, dann wird er mich strafen und ich bekomme Kinder. Gott
sei Dank, ich habe einen Vorwand zum Spielen. Aber womit
soll ich spielen, wenn der Vater mir das Schwänzchen ab-
schneidet? Es ist besser, ich verstecke mein Vergnügen. Es ist sicher
besser."
"* 211
So wechseln Sehnsucht und Angst, und das Kind wird langsam
ein Mensch, schwankend zwischen Trieb und Moral, Begierde und
Furcht
Adieu, Liebe, Ihr
PATRIK TROLL.
24.
WIE NETT VON IHNEN, LIEBE FREUNDIN, DASS SIE MEINE
Schreiberei nicht tragisch nehmen, sondern darüber lachen. Ich bin so
oft ausgelacht worden und habe dann mit so viel Vergnügen mit-
gelacht, daß ich oft selbst nicht weiß, meine ich, was ich sage, oder
mache ich mich lustig.
Aber sitze nicht auf der Bank, da die Spötter sitzen, heißt es.
Ich bilde mir nicht ein, daß das Gemisch von Phantasien, das ich
Ihnen neulich als eine „kindliche Sexualtheorie" vorsetzte, wirklich
jemals so im Gehirn eines Kindes oder überhaupt in einem andern
als dem meinen gewesen sei. Bruchstücke davon werden Sie aber
überall finden, oft verwittert, kaum kenntlich, oft eingemauert in
andre Phantasiereihen. Worauf es mir ankam, war, Ihnen redit deut-
lich zu machen, es Ihnen in die innerste Seele zu prägen, daß das
Kind sich unausgesetzt mit den Rätseln der Sexualität, des Eros, des
Es beschäftigt, viel intensiver als irgendein Psychologe oder Psycho-
analytiker, daß es sidi wesentlich durch den Versuch, diese Rätsel zu
lösen, entwickelt ; mit andern Worten, daß unsere Kindheit sich sehr
wohl als die Schule betrachten läßt, in der Eros uns unterrichtet.
Und nun denken Sie sich die abenteuerlichsten Phantasien aus, wie
sich das Kind Empfängnis, Geburt, Gesdileditsunterschied vorstellt,
Sie werden nie auch nur den millionsten Teil dessen ausdenken kön-
nen, was sich das Kind, jedes Kind in Wahrheit darüber zusammen-
träumt; ja, Sie werden im Grunde genommen nur ausdenken können,
was Sie selbst wirklich einmal als Kind gedacht haben. Denn das ist
das Merkwürdige am Es, - und ich bitte Sie, es wohl im Gedächtnis
zu behalten - daß es nicht wie wir hochbegabten Verstandesichs
212
zwischen Wirklichkeit und Phantasie unterscheidet, sondern daß ihm
alles wirklich ist Und wenn Sie nicht schon ganz verdummt sind,
werden Sie einsehen, daß das Es recht hat.
Ja, ich kann Ihnen über das Schicksal des Schwänzchens, das Sie
sich von der Mutter verzehrt vorstellen sollen, auch etwas erzählen,
nicht viel, aber etwas. Aus diesem Schwänzchen, vermutet das Kind,
wird die Wurst. Nicht aus all den Eiern, die verzehrt werden, ent-
stehen Schwangerschaften, die meisten werden im Bauche, wie jede
andere Speise, in braune, kakaoähnliche Masse verwandelt, und diese
Masse nimmt, weil in ihr auch das aufgegessene, wurstförmige
Schwänzchen ist, die längliche Wurstform an. Ist es nicht seltsam, daß
im dreijährigen Kindergehirn schon die Philosopliie der Form drin ist
und auch die Theorie von den Fermenten ? Sie können sich das nicht
wichtig genug vorstellen; denn die Gleichsetzung Stuhlgang - Ge-
burt - Kastration — Empfängnis und Wurst — Penis - Vermögen —
Geld wiederholt sich täglidi und stündlich in der Ideenwelt unsere
Unbewußten, macht uns reich oder arm, verliebt oder schläfrig,
schaffend oder faul, potent oder impotent, glücklich oder unglücklich,
gibt uns eine Haut, in der wir schwitzen, stiftet Ehen und reißt sie
auseinander, baut Fabriken und erfindet, was geschieht, ist überall
beteiligt, auch bei den Krankheiten. Oder vielmehr bei den Krank-
heiten läßt diese Gleichsetzung sich am leichtesten entdecken ; man
muß sich nur nicht vor Hohn der Verständigen fürchten.
Spaßeshalber teile ich Ihnen noch eine andere Idee mit, die das
Hirn des Kindes ausgebrütet hat und die sich, wie es scheint, gar
nicht selten bei dem Erwachsenen lebend erhält; das ist der Ge-
danke, daß sich das verzehrte Schwänzdien ein- oder zweimal in einen
Stock verwandelt, entsprechend der Erektion, daß sich die Eierchen
daran festsetzen, und daß daraus ein Eierstock wird. Ich kenne
jemanden, der war impotent, das heißt, er versagte im Moment, wo
er sein Glied in die Scheide einführen sollte. Er hatte die Idee, daß
sich im Leibe der Frau Stöcke befänden, an denen Eier aufgereiht
213
wären. „Und da idi einen besonders großen Sdiwanz habe," dachte
seine Eitelkeit, „so werde idi beim Zustoßen all diese "Eier zer-
brechen.« Er ist jetzt gesund. Das Merkwürdige dabei ist, daß er als
Junge eine große Eiersammlung hatte. Und beim Ausblasen der Eier
die er den Vogelmüttern aus dem Nest nahm, fand sich ab und zu'
ems, ,n dem schon ein Junges war. Und darauf ging seine Theorie
vom Eierstock zurück. Den großen Logikern ist das eine Torheit,
aber achten Sie es nicht für zu gering, darüber nachzudenken.
Ich kehre zu meinen Einfällen über die Situation zurück, in der
idi midi neulidi beim Briefschreiben befand - Sie wissen wohl, als
idi von der Uhrkette sprach. Ich bin Ihnen noch das Jucken am
rechten Sdiienbein und das Bläschen an der Oberlippe schuldig.
Seltsamerweise kehrte sich das Wort Schienbein sofort in Beinschiene
um, und dabei stieg vor mir das Bild des Achill auf, wie ich es aus
meiner Kindheit - etwa aus meinem achten oder neunten Lebensjahr
in der Erinnerung habe. Es ist eine Illustration zu Schwabs griechi-
schen Heldensagen. Und das Wort „unnahbar« fällt mir ein. Wo soll
ich anfangen? Wo soll ich aufhören? Meine Kindheit wacht auf und
etwas weint in mir.
Kennen Sie Schillers Gedicht von Hektors Abschied von Andro-
mache? Mein zweiter Bruder Hans - ich erzählte neulich von ihm bei
Gelegenheit des Namens Hans am Ende - ja richtig, er hatte eine
Wunde am rechten Sdiienbein. Er war beim Rodeln gegen einen
Baum gefahren; ich muß fünf oder sechs Jahre alt gewesen sein. Am
Abend - die Lampe brannte schon - trug man den halbwüchsigen
Jungen herein, und dann sehe ich die Wunde vor mir, eine vier
Zentimeter lange tiefe Wunde, blutend. Sie hat einen entsetzlichen
Eindruck auf mich gemacht; ich weiß jetzt, warum. Das Bild dieser
Wunde vermischt sich unlösbar mit einem andern, wo schwarze Blutegel
am Rande dieser Wunde hängen, und ein oder zwei sind abgefallen; die
Erschaffung Evas, die Kastration, Blutegel, abgeschnittenes Schwänzchen
Wunde und Weibsein. Und der Vater hat die Blutegel angesetzt.
214
Rodeln. - Warum rodeln dodi die Menschen ? Wußten Sie schon,
daß die schnelle Bewegung genitale Lust erregt? Seitdem der Gleit-
flug erfunden ist, weiß es jeder Flieger. Es treten dabei - mitunter
- Erektionen und Ejakulationen auf; das Leben selbst gibt Antwort
darauf, warum der Mensch seit Jahrtausenden und Jahrmillionen
träumte, er wolle und könne fliegen, warum die Sage vom Ikarus
entstand, warum Engel und Amoretten Flügel haben, warum jeder
Vater sein Kind hochhebt und durch die Luft fliegen läßt, und warum
das Kind jauchzt. Das Schlittenfahren, das Rodeln war für den Knaben
Patrik Onaniesymbol und die Wunde mit den Blutegeln die Strafe.
Aber zurüde zu Hektors Abschied und den „unnahbaren Händen".
Mein zweiter Bruder Hans und der dritte Wolf - ein verhängnisvoller
Name, wie Sie gleich sehen werden - pflegten das Gedicht dramatisch
vorzuführen, wobei die Familie und etwa vorhandene Gäste das
Publikum bildeten. Und dabei wurde ein Radmantel meiner Mutter
mit rotem Futter und weißem Pelzbesatz als Schmuck für Andromache
verwendet; der Purpur mit dem Hermelin, das ist die große Wunde
des Weibes und die Haut, das Blut und die Binde. Welch einen Ein-
druck hat das alles auf mich gemacht ! Gleich im Anfang die Worte :
„dem Patroklus schrecklich Opfer bringt." „Patroklus - Patrik" und
das Opfer, das Abschneiden, Abrahams Opfer und die Beschneidung,
und das Weinen durdi die Wüste, die nun nach der Rache des Achill,
nach der Kastration entsteht. Der Kleine, der Penis, der nicht mehr
„Speere werfen" wird, weil den Hektor der finstre Orkus verschlingt.
Hektor ist der Knabe und der Orkus der Mutterschoß und das Grab,
um den Inzest handelt es sich, den ewigen Wunsch des Menschen
und des kleinen Patrik. ödipus. Welche Schauer rieselten mir den
Rüdcen entlang bei den Worten : „Hordi, der Wilde tobt schon an
den Mauern." Ich kannte dieses Toben, den furditbaren Zorn des
Vaters Achill. Und Lethes Strom vermischt sich mit dem Bächlein auf
der Wiese aus Struwwelpeters Paulindien, dem Onanielied des Mädchens,
und mit den bettnässenden Urinströmen in tiefvergessendem Schlaf.
215
Gewiß, Liebe, idi wußte das damals nicht, wußte es nicht mit
dem Verstände ; aber mein Es wußte es, tiefer und besser verstand
es das alles, als ich es jetzt verstehe, trotz all meines Bemühens um
Kenntnis eigner und fremder Seele.
Lassen Sie mich lieber von jenem Buche sprechen, von Schwabs
griechischen Sagen. Man schenkte es mir zu Weihnachten. Meine Eltern
waren damals schon verarmt und deshalb waren die drei Bände nicht
neue Bücher, sondern nur neu eingebunden. Sie hatten früher dem
ältesten Bruder gehört, was ihren Wert für mich bedeutend erhöhte.
Und zu diesem Ältesten fällt mir wieder mancherlei ein, aber erst
muß ich die Sache mit dem Schwab beenden. Der eine Band - er
handelt von dem trojanischen Krieg - hatte abgeknickte Ecken. Ich
hatte damit auf meinen Bruder Wolf eingeschlagen, auf den fünf Jahre
älteren, der mich bis zur Wut neckte und dann spielend mit einer
Hand bändigte. Wie habe ich ihn gehaßt und doch wie muß ich ihn
geliebt haben, wie habe ich ihn bewundert, den Starken, den Wilden,
den Wolf.
Ich muß Binen etwas sagen : wenn ich irgendwie elend bin, Hals-
oder Kopfschmerzen habe, taucht bei der Analyse das Wort Wolf auf.
Mein Bruder Wolf ist unlösbar mit meinem innern Leben verknüpft,
mit meinem Es. Es scheint nichts Wichtigeres für mich zu geben als
diesen Wolfkomplex. Und dabei vergehen Jahre, daß ich nicht an ihn
denke und dabei ist er längst tot Aber er drängt sich ein in meine
Ängste, er ist dabei, was ich auch tue. Stets wenn der Kastrations-
komplex auftaucht, ist Wolf dabei und etwas Dunkles, Furchtbares
bedroht mich. Ich besinne mich nur auf ein einziges Sexualerlebnis,
das ich mit ihm in Verbindung bringe. Ich sehe die Szene noch vor
mir, es war im Freien, und ein Schulkamerad Wolfs hielt eine Spiel-
karte gegen das Licht. Und irgend etwas Seltsames kam bei dem durch-
fallenden Licht zutage, was sonst nicht zu sehen war, etwas Verbotenes ;
denn ich besinne mich noch auf das scheue Wesen der beiden mit
ihrem schlechten Gewissen. Was es war, weiß ich nicht. Aber mit
216
dieser einen Erinnerung ist innig untrennbar verwoben eine zweite,
wie mein Bruder Wolf demselben Kameraden gegenüber seinen
Namen Wolfram vom Riesen Wolfgrambär ableitete, was auf midi
schauerlich wirkte. Und jetzt weiß ich, daß der Riese der personifizierte
Phallus ist.
Plötzlich fällt mir eine Kaulbachsche Blustration zu Reineke Fuchs
ein, wie der Wolf Isegrim in das Bauernhaus eingebrochen ist, ent-
deckt wird, den Bauern umgeworfen hat und mit dem Kopf unter
dessen Hemde steckt. Ich habe das Bild seit mindestens vierzig Jahren
nicht gesehen, aber es steht mir ziemlich deutlich vor Augen. Und ich
weiß jetzt, daß der Wolf dem Bauern den Geschlechtsteil abbeißt Es
ist eins der wenigen Bilder, die mir in Erinnerung geblieben sind.
Isegrim aber - Grimm war der Name des Knaben, von dem ich die
Onanie lernte - bezeichnend genug, wollte mich warnen und lehrte
mich, was tief verdrängt war.
Wie kam das Epos vom Reineke Fuchs dazu, gerade den Wolf
als Kastrationstier zu wählen, wie kam Kaulbach dazu, dies Ereignis
zum Bilde zu formen ? Was bedeutet das Märchen vom Rotkäppchen
und das von den sieben Geißlein ? Kennen Sie es ? Die alte Geiß geht
aus und warnt vorher ihre sieben Kinderchen, ja die Tür verschlossen
zu halten und den Wolf nicht ins Haus zu lassen. Aber der Wolf
drängt sich doch ein und verschlingt all die Geißlein bis auf das
Jüngste, das im Uhrkasten steckt. Dort findet es die Mutter bei der
Heimkehr. Das Geißlein erzählt von den Untaten des Wolfs, beide
machen sich auf die Suche nach dem Räuber, finden ihn, gesättigt vom
Fraß, in tiefem Schlaf liegen und schneiden ihm, da sich in seinem
Bauch etwas zu regen scheint, den Bauch auf, wonach all die ver-
schlungenen sechs Geißlein wieder zum Vorschein kommen. Nun füllt
die Mutter dem bösen Tier den Bauch mit großen Wackersteinen und
näht ihn wieder zu. Der Wolf erwacht durstig und fällt, als er sich
über den Brunnen beugt, um zu trinken, von den schweren Steinen
gezogen, in die Tiefe.
217
Ich maße mir nicht an, das Märchen so zu deuten, daß sich alle
Geheimnisse, die die Volksseele hineingedichtet hat, aufhellen. Aber
einiges darf ich wohl darüber sagen, ohne allzu verwegen zu sein
Zunächst ist das Aufschneiden des Bauches, aus dem dann junges
Leben hervorkommt, als Geburtssymbol leicht verständlich, da es an
die allgemein gültige Idee des Kindes, bei der Entbindung werde der
Baudi aufgeschnitten und dann wieder zugenäht, anknüpft. Damit ist
auch das Motiv des Verschlingen«, ohne daß die Geißlein sterben,
erklart: es ist die Empfängnis. Und aus der Mahnung der Mutter, die
Tür verschlossen zu halten, kann man den Hinweis herauslesen, daß
es nur eine Jungfernschaft zu verlieren gibt und daß das Maidlein
niemand einlassen soll „als mit dem Ring am Finger". Aber rätselhaft
Weibt, was mit der Rettung des siebenten Geißleins, mit seinem Sich-
verstecken im Uhrkasten gemeint ist. Sie wissen, welche Rolle die
Sieben in dem menschlichen Leben spielt; man begegnet ihr überall,
bald als guter, bald als böser Zahl. Auffallend ist dabei, daß die Be-
zeichnung „böse Sieben« ausschließlich für die Frau gebraucht wird. Es
ist wohl anzunehmen, daß die gute Sieben den Mann bezeichnet Das
stimmtauch; denn während das Weib mit Kopf, Rumpf und vier
Gliedern als Sechs charakterisiert ist, hat der Mann noch einen siebenten
Teil, das Zeichen der Herrschaft. Das siebente Geißlein ist demnach
das Schwänzchen, das nicht verschlungen wird, das sich im Uhrkasten
verbirgt und heil und ganz daraus hervorspringt. Und es bleibt Ihnen
nun unbenommen, ob Sie annehmen wollen, daß der Uhrkasten die
Vorhaut ist, oder die Scheide, die das Siebente nach der Samen-
ergießung wieder verläßt. Daß der Wolf sdiließlich in den Brunnen
fällt, vermag ich mir nicht recht zu erklären ; höchstens könnte ich
sagen, daß es, wie so oft, eine Verdoppelung des Hauptmotivs
der Schwängerung ist, wie sich denn auch das Verstecken im Kasten
als Schwangerschaft und Geburt deuten läßt Wir wissen aus
den Träumen, daß das Inswasserfallen ein Schwangerscfaafts-
symbol ist
218
Soweit ist die Geschichte leidlich aus dem sdiönen Märchenstil in
plattes Alltagserleben umgestaltet. Es bleibt nur der Wolf übrig. Und
Sie wissen, bei dem fangen meine persönlichen Komplexe an. Aber
ich will doch versuchen, etwas daraus zu machen. Ich möchte dazu
auf die Sieben zurückgreifen. Das Siebente ist der Knabe. Die sechs
zusammen sind die böse Sieben, das Mädchen, an dem das Siebente
erkrankt und weggefressen, böse ist, weil es onanierte, bös handelte.
Danach würde der Wolf die Kraft sein, die aus der Sieben die Sechs
macht, die den Knaben in das Mäddien verwandelt, ihn kastriert, ihm
das Schwänzchen abschneidet. Er würde mit dem Vater identisch
werden. Ist es so, dann gewinnt das öffnen der Tür ein andres Aus-
sehen; es ist dann die frühzeitige Onanie der Sieben, des Knaben
der seine Sieben durch Reiben geschwürig, böse macht, so daß der
Wolf ihn auffrißt, um ihn als Mädchen mit einer Wunde statt des
Scfawänzdiens in die Welt zu setzen. Das siebente Geißlein wartet
unter Vermeidung der Onanie oder wenigstens der Onanieentdeckung
im Uhrkasten, in der Vorhaut die Zeit ab, wo es geschlechtsreif wird
und behält deshalb sein Knabenzeidien. Das Wort böse, das der
Sieben lünzugefügt wird, um das Weib zu bezeichnen, stellt in seinem
weiteren Sinn der Eiterung, des Geschwürs die Assoziation zum Lupus
zur Syphilis und zum Krebs her und gibt eine Handhabe, um die bei
jeder Frau auftretende Angst vor diesen beiden Erkrankungen zu be-
greifen. Das Fressen der Geißlein führt zu der Kindertheorie von der
Empfängnis durch Verschlucken des Keimes hin, eine Verbindung, die im
Märchen vom Däumling in der Person des Menschenfressers wieder-
kehrt. Bei ihm ist dann im Siebenmeilenstiefel der Zusammenhang
zwischen Wolf und Mann oder Vater hergestellt ; denn man geht
wohl nicht fehl in diesem Wunderstiefel ein Symbol derErektion zu sehen.
Nun muß ich noch auf etwas zurückgreifen, was ich früher er-
wähnt habe, daß nämlich das Kind sich nicht gern in den Mund
sehen läßt. Es fürchtet das Abschneiden des Zäpfdiens. In der Be-
zeichnung Wolfsrachen haben Sie die Assoziation zwischen Wolf und
219
Onanie. Dem Wolfsrachen fehlt das Zäpfchen, das Ja das männliche
Schwänzchen darstellt, es ist kastriert. Er versinnbildlicht die Strafe
der Onanie. Und wenn Sie je bei einem Menschen einen Wolfsrachen
gesehen haben, wissen Sie, wie fürchterlich die Strafe ist.
Damit bin ich zu Ende. Ich weiß nicht, ob Ihnen die Deutung
gefällt. Mir hat sie über viele Schwierigkeiten meines Wolf-Isegrimm-
Bruderkomplexes weggeholfen.
Herzlichst
PATRIK.
25.
ALSO NACH IHNEN IST DIE BÖSE SIEBEN DER MUND, WOMIT
ich ganz einverstanden bin. Es gibt ja auch Männer, die ein böses
Maulwerk haben, aber schließlich bleibt es dasselbe, die siebente Öff-
nung des Gesichts ist ebenso Symbol des Weibes wie die große
Wunde des Unterleibes.
Da wir nun einmal bei den Zahlen sind, wollen wir ein wenig
damit spielen. Vorausschicken muß ich, daß das Es ein gewaltiges
Zahlengedächtnis hat, die einfachen Arten des Rechnens beherrscht
wie es sonst nur bei einer bestimmten Art von Idiotismus vorkommt,
und daß es sich ebenso wie ein Idiot ein Vergnügen daraus macht,
Rechenexempel im Augenblick zu lösen. Sie können sich davon durch
ein einfaches Experiment überzeugen. Unterhalten Sie sidi mit irgend
jemandem über ein Thema, das die Tiefen seines Es in Bewegung
setzt; es gibt allerlei Zeichen, um festzustellen, daß eine solche Be-
wegung vor sich geht. Fragen Sie, wenn Sie solch ein Zeidien bemer-
ken, nach einem Datum, so wird mit einer absoluten Sicherheit sofort
ein Datum genannt werden, das mit dem aufgerührten Komplex in
inniger Assoziation steht. Oft tritt der Zusammenhang gleich zu
Tage, so daß der Befragte selbst erstaunt über die Leistungsfähigkeit
seines Unbewußten ist. Oft wird jeder Zusammenhang bestritten.
Lassen Sie sich dadurch nicht irre machen. Das Bewußte des Men-
schen liebt es, zu verneinen - fast hätte ich gesagt, zu lügen. Hören
220
Sie nidit auf das Nein, sondern halten Sie an der Erkenntnis fest,
daß das Es nie lügt und nie verneint Nadi einiger Zeit wird die
Riditigkeit der Assoziation sidi erweisen und gleichzeitig eine Menge
psydiisdies Material zum Vorschein kommen, das, in das Unbewußte
verdrängt, allerlei Gutes und Böses im Menschen vollbracht hat.
Ich will Ihnen ein kleines Zahlenkunststück von meinem eigenen
Es mitteilen, das mir viel Spaß gemacht hat, als ich es entdeckte.
Lange Jahre hindurch habe ich, wenn ich meine Ungeduld und Un-
zufriedenheit ausdrücken wollte, den Ausdruck gebraucht : „Ich habe
Ihnen das schon 26783 mal gesagt" Sie besinnen sich wohl, daß Sie
mich das letztemal, als wir zusammen waren, deswegen verspottet
haben. Das hat mich geärgert und ich habe an der Zahl ein wenig
herumgerätselt Da fiel mir auf, daß die Quersumme dieser langen
Zahl 26 ist genau dieselbe Zahl, die beim Wegnehmen der Tausen-
der von den übrigen Ziffern abgetrennt ist. Zu 26 fiel mir das Wort
Mutter ein. Ich war 26 Jahre alt, als meine Mutter starb. 26 Jahre
alt waren meine beiden Eltern, als sie heirateten ; im Jahre 1826
wurde mein Vater geboren ; und wenn Sie die Quersumme von 783
nehmen, so stoßen Sie auf 18. Isolieren Sie die drei ersten Ziffern
als 2 X (6-(-7), so haben Sie 26. Addieren Sie die 2 zu den beiden
letzten 8X3» so gibt es wiederum 26. Ich bin geboren am 13. IO. 1866.
Die Quersumme davon ist 26.
Ich habe die Zahl 26783 noch ein wenig anders zerlegt Die 2
schien mir für sich zu stehen, weil ich sie unwillkürlich zu den beiden
Rechnungen mit 6 + 7 und 8X3 verwendet hatte. Die übrigen Zif-
fern gruppiern sich unter dem Einfluß der 2 betrachtet als 67, 78,
83. 67 war das Alter meiner Mutter, als sie starb. 78 ist die Jahres-
zahl, in der ich mein Elternhaus verlassen mußte, um in das Internat
der Schule überzutreten. Im Jahre 83 ging mir die Heimat völlig ver-
loren, da meine Eltern in diesem Jahre meine Geburtsstadt verließen
und nach Berlin übersiedelten. In dasselbe Jahr fällt ein Ereignis,
dessen Tragweite sich über einen langen Zeitraum meines Lebens er-
221
E«, *"»*?***»> "* Schulstunden sagte einer meto
Mitschüler zu m,r : „Onanieren Sie nur so weiter, dann sind Sie bald
ganz verrückt , halb sind Sie es sowieso.« Das Wort ist verhängnis-
voll für nndr geworden, nicht weil etwa die Onanieangs. verstärkt
worden wäre, sondern weil ich kein Wort erwidert habe, stiB und
schwebend die Beschämung der öffentlichen Onaniebesdanldigung hin-
nahm, als ob sie Xd, nhh, berühre. 14 empfand sie tief, aber ver-
drängte sie sofort mit Hilfe des Wortes .verrückt". Mein Es hat sich
damals dieses Wortes bemächtigt nnd es nicht wieder losgelassen. Mir
schienen von nun an alle Schrullen meines Denkens erlaubt Halb
verrückt, das bedeutet für mich: Du stehst mitten zwischen zwei
Möghclikeiten, kannst Welt und Leben, je nachdem du dich naci der
einen oder andern Seite biegst, wie ein Gesnnder, wie ein gewohn-
ter Mensch ansehen oder wie ein Verrückter, aus der gewöhnlichen
Lage gerückter, außergewöhnlicher Mensch. Das habe ich reichlich
getan nnd tue es, wie Ihnen sattsam bekannt ist, noch. Die
zwei Mütter - Amme nnd Mutter - fanden ihre neue not-
wendige Begründung, das zwischen Zweien-Stehen wurde durch
che halbe Verrücktheit für mich erträglich, sie führte mich aus
dem Zwang zu zweifeln zur duldsamen Skepsis und zur Ironie
*ur Gedankenwelt Thomas Weltleins. Ich halte es für möglich'
daß ,d, mich in der Einschätzung des „halb verrückt- irre, aber
es gibt mir eine Erklärung für die seltsamen Erscheinungen in
me meill Wesen, das im allgemeinen zwei Möglichkeiten ausweicht, das
aher imstande ist, unbeirrt durch Jeden Holm, durch jede Belehrung
durch jeden Beweis, durch den inneren Widerspruch, gleichzeitig ent-
gegengesetzte, ja gegensätzliche Gedankenrichtungen zu verfolgen. Bei
sorgfältiger Prüfung meiner Lebensresultate habe ich gefunden, daß
diese halbe Verrücktheit mir gerade das Quantum Übergewicht gege-
fezeicht tTT mel " & ~ BewBlti ^ «■"» Aufgaben bedurfte,
bann^T? , T " ^ ^^^ " "*» medizinische Lauf-
bahn. Ich habe mich zweimal fremder ärztlicher Denkweisen bemäch-
222
tigt und sie so in midi aufgenommen und in mir umgestaltet, daß sie
mein persönlidies Besitztum geworden sind, einmal durdi meine
Sdiülerstellung zu Schweninger, das zweitemal durdi meine Jünger-
schaft bei Freud. Jeder von Beiden repräsentiert für mich als Arzt
etwas Gewaltiges, Unentrinnbares. Ihren Einfluß in mir zu vereinigen,
ist mir im Jahre IQII gelungen und II ist die Quersumme von 83 und
die Quersumme von II ist 2.
Das Jahr 83 hat sich, entsprechend seiner Hervorhebung als End-
ziffer der Rätselzahl 26783, auch in mein äußeres Leben als beson-
ders wichtig hineingedrängt. Ich erkrankte bald nach jener Äußerung
über die Onanie an Scharlach, in dessen Folge eine Nierenentzündung
auftrat. Ich habe später, wie Sie wissen, noch einmal eine Nieren-
erkrankung durchgemacht. Ich bin der Ansicht, daß die Nieren-
erkrankung - das gilt von mir und von allen Nierenkranken - charak-
teristisch für die Doppelstellung im Leben ist, für das Dazwischen-
stehen, für die 2. Der Nierenmensch - um diesen Ausdruck einmal
zu gebrauchen - ist doppelt gerichtet Er ist in uns in gewöhnlichem
Grade gleichzeitig Kind und Erwachsener. Sein Es kann mit einer unge-
wöhnlichen Souveränität, die gleichzeitig vorteilhaft und gefährlich ist,
kindlich oder erwachsen sein; es ist zwischen die I - das Symbol des
erigierten Phallus, des Erwachsenen, des Vaters - und die 3 - das
Symbol des Kindes gestellt. Ich überlasse es Ihnen, der unausdenk-
baren Kette phantastischer Möglichkeiten nachzugehen, die ein solcher
Zwitter hat, bemerke nur dazu, daß meine eigene Lage sich außer
durch die Nierenentzündungen noch dadurch erwiesen hat, daß ich
bis in mein I5tes Lebensjahr ein Bettnässer gewesen bin. Und um
schließlich auch das zu sagen : der Zwitter ist weder Mann noch Weib,
sondern Beides, und das ist mein Fall.
Und nun wollen wir spielen, mit Zahlen spielen, so weit wir es
noch vermögen, Kind sein. Aber sie müssen nicht böse sein, wenn
sich erwachsenes Zeug der Großen dazwischendrängt. So etwas läßt
sich nicht vermeiden. Wer Kind ist, will groß erscheinen und setzt
223
sidi Vaters Hut auf und nimmt seinen Stock. Was würde auch daraus
werden, wenn dieser Wunsch nach dem Großsein, nach der Erektion
nicht im Kinde wäre? Wir würden klein bleiben, nicht wachsen. Oder
halten Sie es für eine Täuschung, wenn ich festgestellt zu haben glaube,
daß das Kleinbleiben der Menschen in gewissem Zusammenhang mit
ihrem Kleinbleibenwollen steht, mit ihrem so tun, als ob sie die Erektion
nicht kennten, unschuldig wären wie die Kindlein ;. daß das Nichthoch-
gewachsensein aus dem Wunsch des Es entsteht, eine Entschuldigung,
die Entschuldigung des Nochkindseins für alle sexuellen Neigungen,
das heißt für alles und jedes Tun zu haben ? Gemäß den Worten :
»Ich bin klein, mein Herz Ist rein ?"
Setzen Sie sich mit mir vor die Schiefertafel, wir beide wollen tun,
als ob wir wieder Zahlen schreiben lernten. Was mag wohl im Kinder-
gehirn vor sich gehen, wenn es gezwungen wird, eine halbe Tafel voll
Einser zu schreiben oder voll Achter? Sie können es auch auf die
Buchstaben übertragen, auf die a's und p's und alle die Häkchen und
Schlingen, die nach der Phantasie des Kindes angeln. Was ist die I
für Sie ? Für mich ist es ein Stock. Und nun der Sprung ins Großsein,
der Stock des Vaters, der Penis, der Mann, der Vater selbst, die
Strenge und Kraft, in der Familie Nr. I. Zwei, das ist der Schwan.
Spekters Fabeln. Ach, wie hübsch das war. Meine Schwester hatte den
langen Hals und wurde weidlich damit geneckt Und war wirklich ein
häßliches Entlein, das ein allzufrüh verstorbener Schwan wurde. Und
plötzlich sehe ich den Schwanenteich meiner Heimat. Ich bin wohl
acht Jahre alt und sitze mit Wolf, Lina und einer Freundin Anna
Speck im Kahn und Anna Speck fällt ins Wasser, auf dem der Schwan
schwimmt ; „mein Schwan, mein stiller, mit sanftem Gefieder," sollte
ich mich deshalb so viel mit Ibsen beschäftigt haben, weil er dies Lied
diditete und weil ich es in schwerer Zeit, als ich zu sterben glaubte,
singen hörte ? Oder ist es Agnes aus „Brand" ? Agnes war meine
Kindergespielin und ich liebte sie sehr. Sie hatte einen schiefen Mund,
angeblich, weil sie einen Eiszapfen in den Mund genommen hatte!
224
Und der Eiszapfen ist symbolisch. Mit ihr spielte ich Seiltänzer und
mein Familienroman vom Kinderraub und meine Schlagphantasien
hängen mit ihr zusammen. Agnes und Ernst, so hieß ihr Bruder, der
Unzertrennliche von mir, den ich später schnöde im Stich ließ. Und
Ernst Schweninger: Ach, hebe Freundin, es ist so viel, so viel.
Zurück zu Anna Speck. Speck, Spekters Fabeln. „Was ist das für
ein Bettelmann ? Er hat ein kohlschwarz Röcklein an." Der Rabe. Und
Rabe war der Name meines ersten Lehrers, den ich für das Urbild
der Kraft hielt und der sich einst die Hose beim Springen zerplatzte,
ein Ereignis, das später im Seelensucher wieder aufgetaucht ist. Und
das Wort Rabe spielt seit Wochen eine Rolle in einer Kranken-
behandlung, die ich zum guten Ende führen will. Denn es würde ein
Triumph werden, wie ich ihn selten erlebte.
Spekters Fabel vom Schwan. Sahen Sie einmal einen Schwan ein
großes Stüdt Brot verschlingen? wie es den Hals hinunterkriedit ?
Anna Speck hatte dicke, dicke Drüsen am Halse. Und ein dicker Hals
bedeutet, daß etwas darin stecken gebheben ist, ein Kindeskeim. Glauben
Sie mir, ein Kindeskeim. Ich muß es wissen, denn ich habe selber
über ein Jahrzehnt einen Kropf gehabt und der ist so gut wie ver-
schwunden, seit idi hinter das Rätsel vom steckengebliebenen Kind
gekommen bin. Was hätte ich denken sollen, daß diese Anna so in
mein Leben eingreifen würde? Wie wäre ich ohne den Glauben an
das Studium des Es dazu gekommen, diese Wichtigkeit der Anna zu
erkennen ? Aber Anna ist der Name der Heldin meines ersten Romans.
Und ihr Mann heißt Wolf. Wolf und Anna, sie waren beide in jenem
Kahn. Und da taucht auch wieder Alma auf, Sie wissen, jene Freundin
Linas, die meine sadistisdien Spielchen störte. Wolf hatte ein Haus
aus Matratzen gebaut, in dem wohnte er mit Anna. Wir Kleinen aber
durften nicht mit hinein in dieses Matratzenhaus. Alma jedoch, die
wissend war, sprang, als sie von Wolf weggewiesen wurde, mit Lina
und mir in den Garten und rief: „Ich weiß, was die beiden dort
machen." Ich verstand damals nicht, was Alma meinte, aber die Worte
15 Groddock, Das Buch vom Es
225
sind mir im Gedächtnis geblieben und die Stelle, wo sie fielen, und
ich fühle noch jetzt den Schauer, der mich damals durchrieselte.
Anna, das ist ohne Anfang und Ende, das a und das o, Anna
und Otto, von vorn dasselbe wie von hinten, das Sein, die Unend-
lichkeit und Ewigkeit, der Ring und Kreis, die Null, die Mutter, Anna.
Nun fällt mir ein, daß das Inswasserfallen der Anna eine große
Rolle in meinem Leben gespielt haben muß. Denn Jahre lang hatte
ich die Onaniephantasie, daß eine Anna vom hohen Ufer in meinen
Kahn stieg, daß sie ausglitt, ihre Kleider sich hochstreiften und ich
ihre Beine und Hosen sah. Wie seltsam sind die Wege des Un-
bewußten. Denn vergessen Sie nicht, das Inswasserfallen ist ein
Schwangerschaftssymbol und Geburtssymbol, und Anna hatte einen
dicken Hals - wie ich.3
Das ist also die 2. Und die 2 ist die Frau, die Mutter und das
Mädchen, das nur zwei Beine hat, der Knabe hat aber deren drei.
Drei Füße, Dreifuß, und die Pythia spricht nur, wenn sie auf dem Drei-
fuß sitzt, ödipus aber errät das Rätsel der Sphinx von dem Tier, das
ursprünglich vier-, dann zwei- und schließlich dreibeinig ist. Sophokles
behauptet, ödipus habe das Rätsel gelöst. Aber ist das Wort „Mensch"
eine Antwort auf eine Frage?
2, du verhängnisvolle Zahl, die du die Ehe bedeutest, bist du auch
die Mutter? Oder ist die 3 die Mutter? Sie erinnert mich an die
Vögel, die meine Mutter uns zu zeichnen pflegte, diese Drei. Vögel
und Vögeln, das stimmt. Aber wenn ich die Drei jetzt hegend sehe, ist
sie für mich Symbol der Brüste, meine Amme und all die vielen
Brüste, die ich geliebt habe und noch hebe. 3 ist die heilige Zahl, das
Kind, Christus, der Sohn: die dreieinige Gottheit, deren Auge im
Dreieck strahlt Bist du wirklich nur Eros' Kind, du Urbild der Wissen-
schaft, Mathematik? Und auch der Gottesglaube stammt von dir, Eros ?
Ist es wahr, daß die 2 das Paar ist, das Ehepaar und auch das Paar
der Hoden und Eierstöcke, der Schamlippen und Augen. Ist das wahr,
daß aus I und 2 die 3 wird, das allmächtige Kind im Mutterleibe?
226
*T5i^
Denn, was wäre wohl mächtig, wenn nicht das ungeborene Kind, dessen
Wünsche alle erfüllt sind, noch ehe sie gedacht werden? Das in
Wahrheit Gott und König ist und im Himmel wohnt ? Das Kind aber
ist ein Knabe, denn nur der Knabe ist die 3, zwei Hoden und ein
Schwänzchen. Nicht wahr, es geht ein wenig durcheinander? Wer
könnte sich auch im Irrgarten des Es zurechtfinden I Man staunt, will
kleinmütig werden und wirft sich doch mit wonnigem Erschauern in
das Meer der Träume.
I und 2, das ist die Zwölf. Mann und Weib, mit Recht eine heilige
Zahl, aus der die 3 wird, wenn sie zusammenfließt zur Einheit, das
Kind, der Gott. Zwölf Monde sind es und aus ihnen wird das Jalu* ;
zwölf Jünger sind es und aus ilinen erhebt sich Christus, der
Gesalbte, „des Menschen Sohn." Ist es nicht wunderbar, dies Wort
„des Menschen Sohn ?" Und mein Es sagt laut und vernehmlich zu
mir: „Deute, deute!"
Adjö, Liebe.
PATRIK.
26.
DAS ZAHLENSPIEL INTERESSIERT SIE ALSO, LIEBE FREUNDIN;
das höre ich gerne. Sie hatten mich allzuoft sdilecht rezensiert, so daß
ich die Anerkennung brauchte. Und ich bedanke mich sdiön, daß Sie
meinen Namen in demselben Satz bringen, in dem Sie Pythagoras nennen.
Ganz abgesehen von dem Genuß, den Sie meiner Eitelkeit damit
gewähren, beweist es mir, daß Sie das erste Erfordernis zum Kritisieren
haben, die Fähigkeit, unbedenklich einen Schulze, Müller, Lehmann
oder Troll mit Goethe, Beethoven, Leonardo oder Pythagoras zu ver-
gleichen. Es macht mir rhre Äußerungen doppelt wertvoll.
Daß Sie nun gar Positives geben und mich auf die Dreizehn als
Zahl der Abendmahlsteilnehmer aufmerksam machen, und die Angst,
der dreizehnte Tischgast müsse sterben, mit Christi Kreuzestod zu-
sammenbringen, läßt mich hoffen, Ihr Widerwille gegen mein Es-
15*
227
Gerede werde nach und nach schwinden. Aber warum muß es durch-
aus Christus sein? Auch Judas ist ein Dreizehnter und auch er
mußte sterben.
Ist Ihnen schon aufgefallen, wie eng diese beiden Ideen, Christus
und Judas, miteinander verflochten sind ? Ich sprach Ihnen früher ein-
mal von der Ambivalenz im Unbewußten, von der menschlichen
Eigentümlichkeit, in der Liebe den Haß, in der Treue den Verrat zu
haben. Diese tief innerliche unüberwindlidie Doppelheit des Menschen
hat sich den Mythus des Judaskusses erzwungen, in dem alltägliches
menschliches Handeln und Erleben symbolisiert ist. Ich möchte, daß
Sie sich mit dieser Tatsache ganz vertraut machen, sie ist von großer
Wichtigkeit. So lange Sie das nicht wissen, nicht ganz von solcher
Erkenntnis durchdrungen sind, verstehen Sie nichts vom Es. Aber es
ist nicht leicht, solche Erkenntnis zu erwerben. Denken Sie an die
höchsten Momente Ihres Lebens und dann suchen Sie, bis Sie die
Judasgesinnung und den Judasverrat gefunden haben. Sie werden
ihn immer finden. Als Sie Düren Liebsten küßten, fuhr Dire Hand
empor, um das Haar zu halten, das sich lösen konnte. Als Dir Vater
starb, - Sie waren damals noch jung - freute es Sie, zum ersten Male
ein schwarzes Kleid zu tragen, Sie zählten stolz die Kondolenzbriefe
und legten mit geheimer Genugtuung die Beileidszeüen eines regie-
renden Herzogs obenauf. Und als die Mutter krank war, schämten
Sie sich, weil Ihnen plötzlich der Gedanke an die Perlenschnur durch
den Kopf fuhr, die Sie nun erben würden ; am Begräbnistage fanden
Sie, daß Sie der Hut acht Jahre älter mache, und dabei dachten Sie
nicht an Ihren Mann, sondern an das Urteil der Masse, vor deren
Augen Sie ein Schauspiel schöner Trauer aufführen wollten, recht wie
eine Schauspielerin und Hetäre. Und wie oft haben Sie ebenso
plump wie Judas die nächsten Freunde, Mann und Kinder um dreißig
Silberlinge verraten. Denken Sie ein wenig diesen Dingen nach ! Sie
werden finden, daß des Menschen Dasein von Anfang bis zu Ende
mit dem erfüllt ist, was unser wägendes Urteil als verächtlichste und
228
^ —
schwerste Sünde brandmarkt, mit Verrat. Aber Sie sehen auch sofort,
daß dieser Verrat vom Bewußtsein fast nie als Schuld empfunden
wird. Kratzen Sie jedodi das bißchen Bewußtsein, mit dem sich unser
Es deckt, irgendwo ab, dann sehen Sie, wie das Unbewußte fort-
während die Verratshandlungen der letzten Stunden sichtet, die einen
aus sich herauswirft, die andern für den Gebrauch des morgigen
Tages bereitlegt, die dritten in die Tiefe verdrängt, um aus ihnen
das Gift zukünftiger Erkrankungen oder den Wundertrank kommen-
der Taten zu brauen. Schauen Sie aufmerksam in dieses seltsame
Dunkel hinein, liebste Freundin. Hier ist ein Spalt, durch den Sie
undeutlich, und fast verzweifelnd, die nebeiförmig treibenden Massen
einer lebendigen Kraft des Es sehen können, des Schuldbewußtseins.
Das Schuldbewußtsein ist eines der Werkzeuge, mit denen das Es am
Menschen sicher und ohne je zu stocken oder zu fehlen arbeitet. Das
Es braucht dieses Schuldbewußtsein, aber es sorgt dafür, daß die
Quellen des Schuldbewußtseins niemals vom Menschen ergründet
werden; denn es weiß, daß im selben Augenblick, wo irgendwer das
Geheimnis der Sdiuld aufdeckt, die Welt in ihren Fugen zittert. Des-
halb häuft es Schrecken und Angst rings um die Tiefen des Lebens,
ballt Gespenster aus den nichtigen Dingen des Tages, erfindet das
Wort Verrat und den Menschen Judas und die zehn Gebote und ver-
wirrt das Sehen des Idis mit tausend Dingen, die dem Bewußtsein
schuldvoll erscheinen, nur damit nie der Mensch dem tröstenden
Worte glaubt : fürdite didi nicht, denn ich bin bei dir.
Und da haben Sie Christus. So unabänderlich wie in jeder edlen
Tat des Menschen der Verrat mitwirkend einhergeht, so unabänder-
lich ist in allem, was wir böse nennen, das Wesen des Christus -
- oder wie Sie nun dies Wesen nennen wollen - das Liebende,
Gütige. Um das zu erkennen, brauchen Sie nicht erst den weiten Um-
weg zu machen, der über den mörderischen Dolchstoß hinweg auf
den Urtrieb des Mensdien fahrt, der aus Liebe in das Innere des
Nebenwesens zu dringen sucht, um Glück zu geben und zu empfan-
229
gen - denn der Mord ist letzten Endes nur Symbol verdrängter
Liebes wut. - Sie brauchen den Diebstahl nicht erst zu analysieren,
wobei Sie wiederum auf denselben alles gestaltenden Eros stoßen
bürden, der nehmend gibt. Sie brauchen nidit über Jesu Worte an
die Ehebrecherin nachzudenken : „Dir sind deine Sünden vergeben,
denn du hast viel geliebt." In Ihren alltäglichen Handlungen finden
Sie überall Aufopferung und Kindlichkeit genug, die Sie lehrt, was
ich sagte: Christus ist überall, wo der Mensch ist.
Aber ich schwatze und schwatze und wollte Ihnen doch bloß be-
greiflich machen, daß es Gegensätze nicht gibt, daß alles im Es ver-
eint ist. Und daß dieses Es ganz nach Belieben eine und dieselbe
Handlung als Grund zum Gewissensbiß oder zum Hochgefühl edle
Tat verwendet. Das Es ist listig und es macht ihm nidit viel Mühe,
dem dummen Bewußtsein weiszumachen, Schwarz und Weiß seien
Gegensätze und ein Stuhl sei wirklich ein Stuhl, während doch jedes
Kind weiß, daß er auch eine Droschke ist und ein Haus und ein
Berg und eine Mutter. Das Bewußtsein setzt sich hin, schwitzt und
schwitzt vor Anstrengung, um Systeme zu erfinden und das Leben
in Schubladen und Beutel zu tun, das Es aber schafft lustig und un-
erschöpflich an Kraft, was es will, und ich denke mir, ab und zu
lacht es über das Bewußtsein.
Warum ich das alles erzähle? Vielleicht mache ich mich über Sie
lustig, vielleicht wollte ich Ihnen bloß zeigen, daß man von jedem
Punkt aus das ganze Leben durchschweifen kann, eine Binsenwahr-
heit, die des Nachdenkens wert ist. Und damit gehe ich in einem
kühnen Sprung wieder zu meiner Erzählung vom Federhalter zurück.
Denn ich muß noch über das Bläschen am Munde etwas sagen. Viel-
leicht das Wichtigste, jedenfalls etwas Seltsames, das Ihnen mehr über
des Unterzeichneten Verdrängungen erzählen wird, als ich selber vor
ein paar Jahren wußte.
Das Bläschen am Munde - ich sagte es Ihnen schon früher ein-
mal - bedeutet, daß ich gern küssen möchte, daß aber irgendein Bedenken
230
dagegen besteht, das mächtig genug ist, die obersten Schichten der
Haut emporzuheben und die dadurch entstandene Höhlung mit
Flüssigkeit zu füllen. Damit ist nicht viel anzufangen, denn, wie Sie
wissen, küsse ich gern und wenn ich all die durchgehen wollte, die
mir des Kusses wert scheinen und von denen ich nicht weiß, ob sie
midi wieder küssen würden, würde mein Mund immer wund sein.
Aber das Bläschen sitzt rechts und ich bilde mir ein, daß die rechte
Seite die des Rechts, der Autorität, der Verwandtschaft ist. Autorität ?
Unter meinen Blutsverwandten kommt da nur mein ältester Bruder
in Betracht. Und der ist es wirklich, gegen den sich das Bläschen
lichtete. An jenem Tage war ich in meinen Gedanken unablässig mit
einem bestimmten Kranken beschäftigt. Das fiel mir, der ich im all-
gemeinen dem Grundsatz huldige, nicht mehr an meine Patienten zu
denken, sobald sich die Tür hinter ihnen geschlossen hat, der Selten-
heit wegen auf, und bald wußte ich auch, was der Grund davon
war: Jener Kranke hatte in seinen Gesichtszügen und noch mehr in
seinem Wesen Ähnlichkeit mit meinem Bruder. Der Wunsch zu
küssen ist damit erklärt. Er galt diesem Kranken, auf den ich die
Leidenschaft für meinen Bruder übertragen hatte. Gelegenheit dazu
gab die Tatsache, daß der Geburtstag meines Bruders in jener Zeit
war, und daß ich dem Kranken kurz vorher im Zustand der Bewußt-
losigkeit gesehen hatte. Als Kind bin ich mehrmals Zeuge von
schweren Ohnmächten meines Bruders gewesen; die Form seines
Kopfes steht mir aus jener Zeit noch deutlich vor Augen, ich habe
Grund anzunehmen, daß meine Neigung hauptsächlich durch diesen
Anblick entstand. Die Ähnlichkeit der beiden Männer ist mir bei der
Unbeweglichkeit der Gesichter klar geworden.
Zum Zustandekommen des Bläschens gehört aber außer dem
Kußwunsch die Abneigung gegen den Kuß. Die ist erklärlich genug.
In unserer Familie waren Zärtlichkeiten unter den Geschwistern
streng verpönt. Es ist mir noch jetzt undenkbar, daß wir uns unter-
einander hätten küssen können. Aber es handelt sidi bei der Ab-
231
neigung gegen den Kuß nicht bloß um die Familientradition, sondern
um die Frage der Homosexualität. Und bei der muß idi einen
Augenblick verweilen.
Ich bin, wie Sie wissen, von meinem zwölften Lebensjahre an in
einem Knabeninstitut erzogen worden. Wir lebten dort völlig von der
übrigen Welt abgeschlossen, innerhalb von Klostermauern und all
unsre Liebesfähigkeit und unser Liebesbedürfnis richtete sich auf unsre
Kameraden. Wenn ich an die sechs Jahre zurückdenke, die ich dort
zugebracht habe, taucht sofort das Bild meines Freundes auf. Ich sehe
uns beide eng umschlungen durch den Kreuzgang des Klosters schreiten.
Von Zeit zu Zeit bricht der feurig gefülirte Streit über Gott und die
Welt ab und wir küssen uns. Es ist, glaube ich, nidit möglich, sich
die Stärke einer verschwundenen Leidenschaft vorzustellen, aber nach
den vielen Eifersuchtsszenen zu schließen, in die sich wenigstens von
meiner Seite aus oft genug Selbstmordphantasieen einmischten, muß
meine Neigung sehr groß gewesen sein. Ich weiß auch, daß damals
die Liebe zum Knaben fast ausschließlich meine Onaniephantasien
ausfüllte. Nadi meinem Abgang von der Schule hat meine Neigung
zu diesem Freunde noch längere Zeit angehalten, bis sie ein Jahr
später auf einen Universitätskameraden übertragen wurde und von
dem jäh auf seine Schwester übersprang. Damit war meine Homo-
sexualität, die Neigung zu meinen eigenen Geschlechtsgenossen, schein-
bar erloschen. Ich habe von da an nur Frauen geliebt.
Sehr treu und sehr treulos geliebt, denn ich besinne mich, daß
ich stundenlang in Berlin umhergestrolcht bin wegen irgend eines
weiblichen Wesens, das ich zufällig gesehen hatte, von dem ich nichts
wußte und nie etwas erfuhr, das aber meine Phantasie Tage und
Wochen lang beschäftigte. Die Reihe solcher Traumgeliebten ist un-
endlich groß und sie hat sich bis vor wenigen Jahren fast täglich um
dies oder jenes Wesen vermehrt. Das Charakteristische dabei war,
daß meine wirklichen erotischen Erlebnisse nicht das geringste mit
diesen Geliebten meiner Seele zu tun hatten. Ich habe für meine
232
Onanieschwelgereien, soviel idi weiß, nidit ein einziges Mal ein weib-
liches Wesen gewählt, das ich wirklich liebte. Immer Fremde, Unbe-
kannte. Sie wissen, was das bedeutet ? Nein ? Es bedeutet, daß meine
tiefste Liebe einem Wesen gehörte, das ich nicht erkennen durfte, mit
andern Worten, meiner Schwester und hinter ihr der Mutter. Aber
vergessen Sie nicht, daß ich das erst seit kurzem weiß, daß ich früher
nie gedacht habe, ich könne Schwester oder Mutter begehren. Man
geht eben durch die Welt, ohne das geringste von sich selbst zu
wissen.
Zur Ergänzung dieses Liebeslebens mit Fremden, Unbekannten
die ich nie kennenzulernen suchte, muß ich noch etwas sagen, ob-
wohl es nur entfernt mit dem zusammenhängt, was ich eigentlich mit-
teilen wollte, mit der Homosexualität. Es bezieht sich auf mein Ver-
halten gegenüber den Frauen, an die mich wirklidie Liebe knüpfte.
Nicht von einer, nein von jeder habe ich dasselbe verwunderliche
Urteil gehört : „Wenn man mit dir zusammen ist, glaubt man dir so
nahe zu sein wie nie einem andern Menschen; sobald du Abschied
nimmst, ist eä, als ob du eine Mauer errichtetest, als ob ich dir völlig
fremd wäre, fremder als irgend jemand sonst." Das habe ich selbst
niemals gefühlt, wahrscheinlich, weil ich es gar nicht erlebt hatte, daß
mir jemand nicht fremd war. Jetzt verstehe ich es aber : um lieben
zu können, mußte ich die realen Menschen in der Entfernung halten,
den Imagines von Mutter und Schwester künstlich annähern. Zu Zeiten
muß das recht schwer gewesen sein, aber es war das einzige Mittel,
die Leidenschaft lebendig zu erhalten. Glauben Sie mir, Imagines
haben Macht.
Und nun leitet mich das doch wieder zu meinen homosexuellen
Erfahrungen. Denn mit den Männern ist es mir ähnlich gegangen.
Drei Jahrzehnte lang habe ich sie mir ferngehalten ; auf welche Weise
kann ich nicht sagen, aber daß es mir in hohem Grade gelungen ist,
beweist mein Krankenverzeichnis, das erst in den letzten drei Jahren
wieder mehr männliche Namen enthält Sie tauchen wieder auf, seit
233
idi nicht mehr auf der Fiudit vor der Homosexualität bin. Denn der
Wunsch, dem Manne zu entfliehen, ist letzten Endes daran Schuld
gewesen, daß ich von männlichen Kranken selten aufgesucht wurde.
Lange Jahre hindurch habe ich nur Augen für das Weib gehabt, habe
ich jedes Weib, das mir begegnete, prüfend angesehen und mehr oder
weniger geliebt, während all dieser Jahre habe ich auf der Straße, in
Gesellschaft, auf Reisen, ja selbst in Versammlungen von Männern
nicht einen einzigen Mann wirklich bemerkt. Ich habe an allen vorbei-
geschcn, selbst wenn ich ihnen stundenlang in die Augen sah. Sie
gingen nicht in mein Bewußtsein, in meine Wahrnehmung über.
Das hat sich geändert Ich blicke jetzt ebenso nach dem Mann
wie nach der Frau, sie sind beide für mich Menschen geworden, ich
verkehre mit beiden gleich gern und es ist kein Unterschied mehr.
Vor allem bin ich dem Manne gegenüber nicht mehr verlegen. Ich
brauche die Menschen mir nicht mehr zu entfremden ; der tief ver-
drängte Inzestwunsch, der so unheimlich und ungeheuer gewirkt hat,
ist bewußt geworden und stört nicht mehr. So wenigstens erkläre ich
mir die Vorgänge.
In gewisser Weise ist es mir auch mit Kindern so gegangen und
mit Tieren und mit der Mathematik und mit der Philosophie. Aber
das gehört in einen andern Zusammenhang, wenn es auch verknüpft
mit der Verdrängung von Mutter, Schwester, Vater und Bruder ist
So richtig mir nun diese Erklärung meines Wesens aus der Flucht
vor Trolls erscheint die ja für mich eine besondre Gattung Menschen
sind, - denn es gibt gute Menschen und es gibt böse Menschen und
es gibt Trolls - so einleuchtend es mir ist daß ich gleichsam das
Opernglas, mit dem ich meine Mitmenschen ansah, verkehrt benutzen
mußte, um durch künstliches Fernsehen, durch Entfremdung sie meinen
Imagines anzuähneln, so wenig genügt es, alles zu erklären. Es läßt
sich eben nicht alles erklären. Eines aber kann ich noch sagen: ich
brauche dieses gekünstelte Lieben und Entfremden, weil ich auf mich
selbst eingestellt bin, mich selbst in gar nicht meßbarem Grade liebe,
234
weil ich das habe, was die Gelehrten Narzißmus nennen. Der Narziß-
mus spielt eine große Rolle im Leben der Menschen. Besäße ich ihn
nicht in so hohem Grade, so würde ich niemals geworden sein, was
ich bin, würde auch nie verstanden haben, warum Christus sagt:
Liebe deinen Nächsten wie dich selbst. Wie dich selbst, nicht etwa
mehr als dich selbst.
Bei uns Trollkindern war eine Redensart Mode, die lautete : Erst
komme ich, dann komme ich noch einmal, dann kommt lange, lange
nichts und dann kommen die andern.
Und denken Sie, wie spaßhaft! Ich besaß als kleiner Junge, als
achtjähriger etwa, ein Stammbuch, in das die heben freunde Verse
und Namen eintrugen. Auf der Schlußseite des Umschlags steht, in
Umwandlung eines alten Spruchs, von meiner Handschrift geschrieben :
Wer dich lieber hat als ich,
der schreibe sich nur hinter mich!
Dein Ich.
So habe ich es damals gehalten und ich fürchte, viel anders bin
ich nicht geworden.
Immer der Rire
PATRIK TROLL.
27.
DANK FÜR IHREN BRIEF, LIEBE FREUNDIN. ICH WERDE VER-
suchen, wenigstens diesmal Iiirer Bitte um Sachlichkeit zu willfahren.
Das Phänomen der Homosexualität ist wichtig genug, um es methodisch
zu prüfen.
Ja, ich bin der Ansicht, daß alle Menschen homosexuell sind, bin
so sehr dieser Ansicht, daß es mir schwer fällt zu begreifen, wie
jemand andrer Ansicht sein kann. Der Mensch liebt sich selbst zu-
nächst, hebt sich mit allen Leidensdiaftsmöglidikeiten, sucht sich seinem
Wesen nach jede denkbare Lust zu veischaffen, und da er selber
entweder Mann oder Weib ist, so ist er von vornherein der Leiden-
235
sdiaft zu seinem eigenen Gesdiledit Untertan. Das kann nicht anders
sein und jede unbefangene Prüfung irgend eines beliebigen Menschen
gibt den Beweis dafür. Die Frage ist also nicht : ist die Homosexualität
Ausnahme, ist sie pervers ? Davon ist nicht die Rede ; sondern sie
lautet : warum ist es so schwer, dieses Phänomen der gleichgeschlecht-
lichen Leidensdiaft unbefangen zu sehen, zu beurteilen und zu be-
sprechen, und dann, wie kommt es, daß der Mensch, trotz seiner homo-
sexuellen Anlage, es zustande bringt, auch für das entgegengesetzte
Geschledit Neigung zu empfinden?
Für die erste Frage findet sidi leicht eine Antwort. Die Päderastie
ist mit Zuchthaus bedroht, als Verbrechen gebrandmarkt, wird seit
Jahrhunderten als schändlidies Laster empfunden. Daß die große
Mehrzahl der Mensdien sie nicht sieht, erklärt sich aus diesem Ver-
bot. Es ist nichts wunderbarer als die Tatsache, daß so viel Kinder
die Schwangerschaften ihrer Mutter nicht sehen, daß fast alle Mütter
nicht imstande sind, die Geschiechtsäußerungen der kleinen Kinder zu
sehen, daß niemand den Inzesttrieb des Knaben zu seiner Mutter
deutlich gesehen hat, bis Freud ihn gesehen und beschrieben hat.
Wer aber doch die Verbreitung der Homosexualität kennt, ist des-
halb noch längst nicht befähigt, ihr Wesen unbefangen zu beurteilen,
und wer auch dazu die Kraft hat, schweigt lieber, als daß er sich auf
den Kampf mit der Dummheit einläßt.
Man sollte denken, daß eine Zeit, die sich auf ihre Bildung et-
was zugute tut, die, weil sie selbst nicht denkt, Geographie und Ge-
schichte auswendig lernt, daß eine solche Zeit wissen müßte : Jenseits
des ägäischen Meeres, in Asien, beginnt das Reich der freien Päde-
rastie und eine so hoch entwickelte Kultur wie die der Griechen ist
ohne Anerkennung der Homosexualität gar nidit denkbar. Ihr müßte
zum mindesten das seltsame Wort des Evangeliums von dem Jünger
Christi aufgefallen sein, den Jesus lieb hatte und der an des Herrn
Brust lag. Nichts von all dem. Gegen all diese Zeugnisse sind wir
blind. Wir dürfen nicht sehen, was sichtbar ist
230
Zunächst ist es von der Kirche verboten. Sie hat dies Verbot
offenbar dem alten Testament entnommen, dessen Geist jede Ge-
schleditsregung unter den Gesichtspunkt der Kindererzeugung zu
bringen suchte und, als Ausfluß priesterlicher Machtgier, mit Vorbe-
dadit die Urtriebe der Menschheit zu Sünden machte, um das be-
drängte Gewissen zu unterjochen. Das war der christlichen Kirche
besonders bequem, da sie mit der Verfluchung der Männerliebe die
Wurzel der hellenischen Kultur treffen konnte. Sie wissen, daß sich
die Stimmen mehren, die gegen die Bestrafung der Päderastie pro-
testieren, weil man fühlt, daß liier aus vererbtem Redit längst Un-
recht geworden ist.
Trotz dieser wachsenden Einsicht ist eine baldige Änderung un-
sere Urteils über die Homosexualität nicht zu erwarten. Das hat
einen einfachen Grund. Wir alle verbringen mindestens fünfzehn bis
sechzehn Jahre, meistens unser ganzes Leben in der bewußten oder
wenigstens halbbewußten Erkenntnis, homosexuell zu sein und so und
so oft homosexuell gehandelt zu haben und noch zu handeln. Es geht
allen, wie es mir gegangen ist, daß sie zu irgend einer Zeit ihres
Lebens eine übermenschliche Anstrengung machen, diese nach Wort
und Schrift verächtliche Homosexualität zu ersticken. Nidit einmal
die Verdrängung gelingt ihnen, und um das andauernde, tägliche
Sichselbstbelügen durchzuführen, unterstützen sie die öffentliche
Lästerung der Homosexualität und erleichtern sich so den inneren
Kampf. Man macht eben bei der Betrachtung des Erlebens immer
wieder dieselbe Entdeckung: Weil wir uns selbst als Diebe, Mörder,
Ehebrecher, Päderasten, Lügner empfinden, eifern wir gegen Raub,
Mord und Lüge, damit nur niemand, am wenigsten wir selber zur
Erkenntnis unsrer Lasterhaftigkeit kommen. Glauben Sie mir: was
der Mensdx haßt, verachtet, tadelt, das ist sein ureigenes Wesen. Und
wenn Sie wirklich Ernst mit dem Leben und der Liebe machen wol-
len, mit der Vornehmheit der Gesinnung, so halten Sie sich an den
Spruch :
237
„Schilt nicht auf midi !
Sdiilt nur auf didi !
Und fehle Idi,
So bessre didi l"
Ich kenne nodi einen Grund, warum wir vor der Ehrlidikeit in
homosexuellen Fragen zurüdcweidien, das ist unsre Stellung zur
Onanie. Die Wurzel der Homosexualität ist der Narzißmus, die
Selbstliebe und Selbstbefriedigung. Der Mensch, der dem Phänomen
der Selbstbefriedigung unbefangen gegenübersteht, soll nodi geboren
werden.
Es wird Ihnen aufgefallen sein, daß ich bisher nur von der
gleichgesdileditlidien Liebe zwischen Männern gesprochen habe. Das
ist begreiflich, weil ich aus einer Zeit stamme, in der man so tat, -
oder glaubte man es wirklich ? - daß es eine weibliche Sinnlichkeit
außer bei einigen verworfenen Dirnen nicht gäbe. In dieser Hinsicht
kann man das vergangene Jahrhundert beinahe spaßhaft nennen ;
nur sind leider die Folgen dieses Spasses böse. Es kommt mir so vor,
als ob man sich neuerlich wieder auf die Existenz von Brüsten,
Scheide und Kitzler besinne und als ob man sogar den Gedanken
gestatte, daß es einen weiblichen After mit Kack-, Furz- und Wol-
lustgelegenheiten gäbe. Aber vorläufig ist das doch nur die Geheim-
wissenschaft der Frauen und einiger Männer. Die große Masse des
Publikums scheint das Wort homosexuell von Homo = Mann abzu-
leiten. Daß die Liebe von Weib zu Weib alltäglich ist und sich offen
vor jedermanns Augen abspielt, bemerkt man kaum. Trotzdem bleibt
es eine Tatsache, daß eine Frau ohne jede Scheu jedes andre weib-
liche Wesen, wes Alter es auch sein mag, küssen und herzen darf.
So etwas ist eben nicht „homosexuell", ebensowenig wie die weibliche
Onanie „Onanie ist So etwas gibt es ja gar nicht.
Darf ich Sie an ein kleines Abenteuer erinnern, das wir gemein-
sam erlebten: Es muß etwa I 9 I2 gewesen sein; der Kampf um die
moralische Verurteilung der Homosexualität ging damals besonders
238
hoch, weil das deutsche Strafgesetzbuch neu bearbeitet wurde; man
hatte vorgeschlagen, auch das weibliche Geschledit unter den Para-
graphen 175 zu stellen. Ich war bei Ihnen und weil wir uns ein wenig
gezankt hatten, uns aber doch bald wieder versöhnen wollten, hatte
ich eine Zeitschrift zur Hand genommen und blätterte darin. Es war
der Kunstwart und darin war ein Aufsatz, in dem eine der höchst-
geachteten Frauen Deutschlands sich über weibliche Homosexualität
äußerte. Sie nahm scharf gegen den Vorschlag, die Liebe von Weib
zu Weib zu bestrafen, Stellung, meinte, damit werde der Aufbau der
Gesellschaft in seinen Grundfesten ersdiüttert, jedenfalls müsse man,
wenn man das Strafgesetz auf die Frauen ausdehnen wollte, die Zahl
der Gefängnisse vertausendfachen. Ich schob Ihnen in der Hoffnung,
ein harmloses Gesprächsthema gefunden zu haben, bei dem wir un-
sern gegenseitigen Groll verplaudern könnten, das Blatt hin, aber
mit einem kurzen „Ich habe es schon gelesen," wiesen Sie meine An-
näherung zurück. Die Versöhnung kam dann auf andre Weise zu-
stande, aber am selben Abend erzählten Sie mir ein kleines Ge-
sdiichtchen aus Ihrer Mädchenzeit, wie Ihre Kusine Lola Ihre Brust
geküßt hatte. Ich habe daraus geschlossen, daß Sie die Meinung jener
Kämpferin für Straflosigkeit der sapphischen Liebe teilten.
Für mich wurde damals die Frage der Homosexualität gelöst:
dieser Angriff auf Ihre Brust machte mir auf einmal klar, daß die
Natur selbst die Erotik zwischen Weib und Weib erzwingt. Denn
schließlich werden kleine Mädchen nicht von ihren Vätern, sondern
von den Müttern gestillt, und daß das Saugen an der Brustwarze ein
Wollustakt ist, weiß jede Frau - und auch der Mann. Daß es kind-
liche und nicht erwachsene Lippen sind, die diese Wollust hervor-
rufen, macht höchstens insofern einen Unterschied, als das Kind sanf-
ter und süßer die Brust umsdimeichelt, als es der Erwachsene jemals
vermag. Die Schreiberin jenes Artikels scheint mir in noch in ganz
anderem Sinne Recht zu haben, wenn sie behauptet, die Grundfesten
des mensdilichen Lebens werden durch die Bestrafung der Homo-
239
Sexualität erschüttert, denn auf den geschlechtlichen Beziehungen von
Mutter und Tochter, von Vater zu Sohn beruht die Welt.
Nun kann man ja frischweg behaupten, - und tatsädilidi wird es
behauptet - die Menschen seien bis zur Zeit der Pubertät, als Kinder
also, samt und sonders bisexuell, um dann in ihrer großen Mehrzahl
zugunsten des andern Geschlechts auf die Liebe zum eignen zu ver-
ziditen. Aber das ist nicht richtig. Der Mensch ist bisexuell sein Le-
ben lang und bleibt es sein Leben lang und höchstens erreicht dieses
oder jenes Zeitalter als Konzession für seine modische Sittlichkeit lue
und da, daß bei einem Teil - einem recht kleinen Teil - die Homo-
sexualität verdrängt wird, womit sie aber nicht vernichtet, sondern
nur eingeengt ist. Und ebensowenig wie es rein heterosexuelle Men-
schen gibt, ebensowenig gibt es rein homosexuelle. Um das Schicksal,
neun Monate lang im Bauch einer Frau zu stecken, kommt selbst der
leidenschaftlichste Urning nicht herum.
Die Ausdrücke „homosexuell" und „heterosexuell" sind eben Worte,
Kapitelüberschriften, unter die jeder schreiben kann, was er will. Irgend-
ein fester Sinn hegt nicht darin. Es ist Stoff zum Schwatzen.
Viel merkwürdiger als die Liebe zum eignen Geschlecht, die ja
als unbedingte Notwendigkeit aus der Selbstliebe folgt, ist es für mich,
wie die Liebe zum fremden Geschlecht zustande kommt.
Bei dem Knaben scheint mir die Sache einfach zu hegen. Der
Aufenthalt im Mutterleibe, die langjährige Abhängigkeit von der weib-
lichen Pflege, alle die Zärtlichkeiten, Freuden, Genüsse und Wunsch-
erfüllungen, die ihm nur die Mutter gibt und geben kann, sind ein so
starkes Gegengewicht gegen den Narzißmus, daß man nicht weiter zu
suchen braucht. Aber wie kommt das Mädchen zum Anschluß an das
männliche Geschlecht? Ich fürchte, die Antwort, die ich darauf gebe,
wird Ihnen ebenso wenig genügen, wie sie mir genügt. Oder, um es
noch deutlicher zu sagen, ich weiß keinen ausreichenden Grund zu
nennen. Und da ich eine nicht unbegründete Abneigung habe, mit dem
Worte Vererbung zu spielen, da ich von der Vererbung nicht mehr
240
weiß, als daß sie existiert, und zwar in ganz andrer Weise existiert,
als man gewöhnlich annimmt, sehe ich mich genötigt zu schweigen.
Nur einige Fingerzeige möchte ich geben. Zunächst läßt sich feststellen,
daß die Vorliebe des Töchterchens für den Vater sehr früh entsteht.
Die Bewunderung für die überlegene Kraft und Größe des Mannes
müßte, wenn sie eine der' Urquellen der weiblichen Heterosexualität
ist, als ein Zeichen originaler Urteilskraft des Kindes aufgefaßt werden.
Aber wer soll feststellen, ob diese Bewunderung ursprünglich ist oder
erst im Laufe der Zeit eintritt ? Genau dieselbe Unklarheit stört midi
einem zweiten Faktor gegenüber, der später die Beziehung des Weibes
zum Manne stark beeinflußt, dem Kastraüonskomplex. Irgendwann
entdeckt das kleine Mädchen den Mangel, den sie von Natur hat, und
irgendwann - gewiß sehr früh - gibt sich der Wunsch kund, sich das
männliche Glied wenigstens durch Liebe zu leihen, wenn es durchaus
nicht wachsen will. Gälte es, die weibliche Heterosexualität aus dem
Verlauf der ersten Lebensjahre abzuleiten, so wäre es leicht, aus-
reichende Gründe dafür zu finden. Aber die Zeichen der Bevorzugung
des Mannes, der sexuellen Bevorzugung, treten in so jungen Tagen
auf, daß sich mit derlei Gedankenspielen nicht viel erreichen läßt.
Ich merke, daß ich anfange zu faseln, will Ihnen also lieber statt
aller Gelehrtheit noch etwas von mir selber und von der Zahl 83 er-
zählen. Im Jahre 83 fiel das ominöse Wort über die Onanie, von dem
ich beriditete, bald darauf erkrankte ich an Scharlach und als ich
genesen war, befiel midi die große Leidenschaft für den Knaben,
mit dem ich im Kreuzgang herumging und den ich küßte. Ich habe
Ursache, das Jahr 83 in meinem Unbewußten aufzubewahren.
Eine andre Kleinigkeit muß idi noch nachholen. Ich sagte Ihnen
von den Ohnmächten meines ältesten Bruders, die ich als besonders
wichtig für die Ausbildung meiner Homosexualität betrachte. Eine
dieser Ohnmächten, die mir am deutlichsten im Gedächtnis geblieben
ist, fand auf dem Klosett statt Die Tür mußte aufgebrodien werden
und sowohl die Gestalt meines Vaters mit der Axt in der Hand wie
16 Gro dd eck, Das Buch vom Es 241
die meines bewußtlos dasitzenden, nach hinten gesunkenen' Bruders
mit .dem entblößten Unterleibe sind mir noch ganz gut erinnerlich.
Wenn Sie bedenken, daß das Aufbredien der Tür die Symbolik des
geschlechtlichen Eindringens in einen Menschenleib enthält, daß sich
hier also für mein symbolisches Empfinden der Akt zwischen Mann
und Mann vollzog, daß weiterhin die Axt den Kastrationskomplex
aufwühlte, haben Sie Anknüpfungspunkte für allerlei Überlegungen.
Zum Schluß gebe ich Ihnen noch zu erwägen, daß auch die Gleich-
setzung von Entbindung und Kotentleerung in Kraft trat und daß das
Klosett der Platz ist, an dem das Kind seine Beobachtungen über die
Geschlechtsteile der Eltern und Gesdiwister, speziell des Vaters oder
älteren Bruders anstellt. Das Kind ist gewöhnt, von Erwachsenen
dorthin begleitet zu werden, erlebt oft genug, daß der Begleiter sein
Geschäft gleichzeitig besorgt, und gewöhnt sein Unbewußtes daran,
Klosett und Sehen nach den Geschlechtsteilen zu identifizieren, ähnlich
wie er später Klosett und Onanie zusammen in eine Schublade der
Verdrängung tut. Sie werden ja auch wissen, daß der Homosexuelle
besonders gern öffentliche Bedürfnisanstalten aufsucht. Alle sexuellen
Komplexe stehen eben in engem Verwandtschaftsverhältnis zur Kot-
und Urinentleerung.
Es fällt mir auf, daß ich meine Betrachtungen über die Entstehung
der Heterosexualität mit Erinnerungen an meine Brüder und an After-
komplexe unterbrochen habe. Der Grund dafür hegt im heutigen
Datum. Es ist der 18. August. Seit etwa vier Wochen erzählt mir jener
Kranke, der mich an meinen Bruder erinnert, daß vom 18. August an
seine Behandlung keine weiteren Fortschritte machen werde. Tatsäch-
lich ist heute auch eine Verschlimmerung seines Leidens eingetreten.
Leider weiß er mir die Ideen seines Unbewußten, die den 18. August
für ihn kritisch machen, nicht anzugeben, ich meinerseits aber fühle
mich unbehaglich, weil ich den Grund seines Widerstandes nicht
kenne und allerlei Schwierigkeiten für die nächste Zeit voraus-
setze.
242
Die Frage, wie die Neigung des kleinen Mädchens zum Manne
entsteht, ist für mich vorläufig unlösbar und ich überlasse sie Ihnen
zur Beantwortung. Meinerseits mödite ich die Vermutung aussprechen,
daß die Frau in ihrer Erotik viel freier der Tatsadie der zwei Ge-
schlechter gegenübersteht; es kommt mir vor, als ob sie ein ziemlich
gleiches Quantum Liebesfähigkeit für ihr eignes und für das entgegen-
gesetzte Geschlecht habe, das sie je nach Bedürfnis ohne große Schwierig-
keiten gebrauchen kann. Mit andern Worten, mir scheint, daß bei ihr
weder die Homosexualität noch die Heterosexualität tief verdrängt
wird, daß dieses Verdrängte ziemlich oberflächlich hegen bleibt.
Es ist immer mißlich, Qualitätsgegensätze zwischen Mann und Frau
anzunehmen ; man darf dabei nicht vergessen, daß es im wirklichen
Sinne weder Mann noch Frau gibt, jeder Mensch vielmehr eine Mischung
von Mann und Weib ist. Unter dieser Einsdiränkung bin ich geneigt
zu behaupten, daß die Frage der Homosexualität oder Heterosexualität
im Leben des Weibes wenig zu bedeuten hat.
Ich füge noch eine weitere Vermutung hinzu : daß die Bindung an
das eigne Geschlecht beim Weibe stärker ist als beim Manne, was mir
tatsächlich bewiesen ist, erklärt sich daraus, daß die Selbstliebe und die
Liebe zur Mutter zum gleichen Geschlecht treiben. Dem gegenüber
steht, so viel ich sehe, nur ein wichtiger Faktor, der zum Mann hinführt,
der Kastrationskomplex, die Enttäuschung, Mädchen zu sein und der
darausfolgende Haß gegen die Gebärerin und der Wunsch, Mann zu
werden oder wenigstens einen Knaben zu gebären.
Beim Manne ist die Sache anders. Bei ihm handelt es sich, glaube
ich, gar nicht allein um die Frage der Homosexualität oder Hetero-
sexualität, sondern mit dieser Frage ist unlösbar verschmolzen die
Frage des Mutterinzestes. Der Trieb, der verdrängt wird, ist die Leiden-
sdiaft für die Mutter, und diese Verdrängung reißt unter Umständen
die Neigung für die Trauen mit sidi in die Tiefe. Vielleicht mögen Sie
davon später mehr hören ? Es sind leider nur Vermutungen.
PATRIK.
IG*
243
28/
DAS IST KEIN ÜBLER GEDANKE, DIE BRIEFE ZU VERöFFENT-
lidien. Dank, liebe Freundin, für die Anregung ! Freilich, halb haben
Sie mir die Lust dazu wieder genommen. Denn wenn Sie es wirklich
ernst meinen, daß ich sie überarbeiten soll, lasse ich mich nicht darauf
ein ; ich habe Arbeit genug in meinem Beruf. Die Schreiberei an den
Briefen betreibe ich zu meinem Vergnügen, und Arbeit ist kein Ver-
gnügen für mich.
Aber ich hoffe, es ist nicht Ihr Ernst Ich kann mir lebhaft vor-
stellen, wie wichtig Sie es nahmen, als Sie mir von den Fehlern und
Übertreibungen, Widersprüchen und unnötigen Witzen schrieben, die
nett im freundschaftlichen Verkehr, aber in der Öffentlichkeit unmög-
lich sind ; das ist solch Rückfall in die Zeit, wo Sie Ihr Lehrerinnen-
examen gemacht hatten. Ich habe es immer sehr gern gemocht, wenn
Sie auf einmal würdig wurden ; mir war dann, als ob Sie demnächst
warnend den Zeigefinger erheben würden, ich legte in fröhlicher Spott-
phantasie Ihre rechte Hand auf den Rücken, tat in Gedanken einen
Rohrstock hinein und setzte Ihnen eine Brille auf die Nase. Und dann
kam mir diese ins Weibliche, Liebreizende übertragene Lehrer-Lämpel-
Figur so unwiderstehlich vor, daß ich Sie absichtlich eine ganze Weile
weiter dozieren ließ, nur um mich am Kontrast Ihres Wesens und Ihres
Scheines zu ergötzen. Heute aber will ich auf Ihre ernsthafte Mahnung
ernsthaft eingehen.
Warum soll ich meinen Mitmenschen die Freude verderben, Fehler
in diesen Briefen zu finden? Ich weiß, wie unerträglich untadelige
Menschen wirken, - bei uns Trolls wurden sie Preßengel genannt -
ich weiß, wie viel Vergnügen es mir macht, irgendwo eine Dummheit
zu entdecken, und ich bin nicht lieblos genug, das andern Leuten zu
mißgönnen. Außerdem bilde ich mir ein, so viel Brauchbares zu geben,
daß es auf das Unbrauchbare nicht ankommt. Ich will oder ich muß
mir das einbilden, sonst geht die Selbstanbetung verloren und ohne
die mag ich nicht leben. Es ist derselbe Vorgang, wie ich ihn bei der
244
Besprechung von Ausschlägen im Gesidit, von Gestank aus dem Munde
zu deuten versuchte. Man weiß nicht genau, ob eine Neigung erwidert
wird, möchte es gerne wissen und schafft sich deshalb irgend etwas
Abstoßendes an. „Gefalle ich meiner Angebeteten auch mit einer ver-
schnupften Nase oder mit Schweißfüßen, dann ist ihre Liebe echt," so
denkt das Es. So denkt die Braut, wenn sie Launen hat, so denkt
der Bräutigam, wenn er Wein trinkt, ehe er zur Gehebten geht, so
denkt das Kind, wenn es ungezogen ist, und so denkt mein Es, wenn
es Felüer in meine Arbeiten hineinsetzt. Ich werde die Fehler stehen
lassen, wie sie in meinen früheren Veröffentlichungen trotz freund-
schafdicher und feindschaftlicher Mahnungen stehen geblieben sind.
Vor einigen Jahren schickte ich einmal ein Manuskript an einen
guten Freund, auf dessen Urteil ich viel gab. Er schrieb mir einen
reizenden Brief mit vielen Lobeserhebungen, meinte aber, das Ding
sei viel zu lang und viel zu derb. Es schaue aus wie ein Embryo mit
unheimlich stark entwickelten Geschlechtswerkzeugen. Ich solle kürzen,
kürzen, kürzen, dann werde es ein schönes Kind sein. Und um zu
erfahren, was idi wegstreichen müsse, solle ich es machen wie jener
Mann, der gern freien wollte. Wenn der merkte, daß er nahe daran
war, sich zu verheben, richtete er es so ein, daß er sofort nach der
präsumptiven Herrin seines Herzens auf das Klosett ging. „Riecht es
mir lieblich, wie frisdi gebackener Kuchen, so liebe ich sie. Stinkt es,
so lasse idi sie laufen." Ich habe nach dem Rezept meines Freundes
gehandelt, aber alles, was ich geschrieben hatte, rodi mir nach Kuchen,
und ich habe nichts gestridien.
Ich will Ihnen einen Vorschlag machen. Wir lassen die Dumm-
heiten ruhig stehen, Sie schreiben mir aber Jedesmal, wenn Sic einen
Fehler finden. Ich werde dann ein paar Briefe später den Fehler
korrigieren. Dann hat der gewissenhafte Leser mit der Lehrer-Lämpel-
Attitüde seinen Spaß und ein paar Seiten später beim Lesen
der Verbesserung ärgert er sich und wir haben unsern Spaß. Ab-
gemacht ?
245
Nun also zu den Fehlern, die idi durchaus wegschaffen soll. Zu-
nächst ist es die Geschichte von Evas Erschaffung. Sie hat von vorn-
herein Anstoß bei Ihnen erregt Und jetzt fahren Sie gar das schwere
Geschütz der Wissenschaft auf und beweisen mir, daß diese Sage nicht
aus der Volksseele stammt, sondern der absichtlichen Bearbeitung des
Alten Testaments durch Priester ihr Dasein verdankt. Vermutlidi haben
Sie damit recht ; wenigstens habe ich es so auch einmal gelesen. Aber
es hat mich kalt gelassen wie vieles andre. Für mich ist die Bibel
ein unterhaltendes, nachdenkliches Buch mit schönen Geschichten, die
doppelt merkwürdig sind, weil man jahrtausendelang an sie geglaubt
hat und weil sie für die Entwicklung Europas unermeßlich viel und
für jeden einzelnen von uns ein Stück Kindheit bedeuten. AVer diese
Geschichten erfunden hat, interessiert meine historische Wißbegierde,
den Menschen in mir berührt es nicht.
Ich gebe zu, die Priester haben die Geschichten erfunden. Darin
haben Sie recht. Nun ziehen Sie aber daraus den Schluß, diese
Schöpfungssage könne nidit, wie es von mir versucht worden ist, als
Beweis für die Kindertheorie benutzt werden, daß das Weib durdi
Kastration aus dem Manne entsteht. Darin haben Sie unrecht. Ich
wage nicht zu behaupten, daß das Kind von Anfang an die Idee der
Kastrationsschöpfung hat, halte es vielmehr für wahrscheinlich, daß es
ursprünglich zum mindesten den Geburtsmechanismus so genau kennt,
wie er durch Selbsterleben kennen gelernt werden kann. Auf diese
ursprüngliche Kenntnis wird dann, genau wie es im Alten Testament
geschehen ist, die Kastrationsidee von den Kindheitspriestern, Eltern
und sonstigen Welsen aufgepfropft, und wie die jüdisch-christliche
Menschheit jahrtausendelang das Kunstmärchen der Priester geglaubt
hat, so glaubt das Kind das Kunstmärchen seiner eignen Beobachtung
und der erziehenden Lüge. Und wie der Glaube an die Erschaffung
Evas aus Adams Rippe an der tausendjährigen Mißachtung des Weibes
mit all seinen bösen und guten Folgen mitgewirkt hat und mitwirkt,
so gestaltet der Kastrationsglaube an unsrer eigenen Seele stetig weiter
246
bis an unser Ende. Mit andern Worten : es ist ziemlich gleichgültig,
ob eine Idee selbständig wächst oder von außen aufgezwungen wird.
Es kommt darauf an, ob sie bis in die unbewußten Tiefen sich ausbreitet.
Bei dieser Gelegenheit will idi auch über die Erschaffung Adams
ein Trollwort sagen. Er wird, wie Sie wissen, dadurch beseelt, daß
Jehova ihm lebendigen Odem in die Nase bläst Dieser eigentümliche
Weg durch die Nase ist mir immer aufgefallen. Danadi, so sagte ich
mir, muß es etwas Riechendes sein, was Adam Leben gibt Was das
für ein Riechendes war, wurde mir klar, als ich Freuds Erzählung
vom kleinen Hans las. Mir wurde es klar, aber Sie brauchen meine
Erklärung nicht anzunehmen. Der kleine Hans ist — in seiner kind-
lichen Weise - der Ansicht, daß der „Lumpf", die Stuhlgangswurst,
ungefähr dasselbe ist wie ein Kind. Ihr ergebner Troll hat die Idee,
daß jene alte Gottheit den Mensdien auch aus seinem Lumpf schuf,
daß das Wort „Erde" nur aus Schicklidikeitsgründen an Stelle des
Wortes „Kot" gesetzt wurde. Der lebendige Odem würde dann mit-
samt seinem belebenden Duft aus derselben Öffnung geblasen worden
sein, aus der der Kot kam. Schließlich ist ja wohl audi das Menschen-
geschlecht einen Furz wert.
Wie ist es nun, verehrte Freundin, habe ich in die Erzählung
vom Adam die Kindertheorie von der Geburt aus dem After hinein-
gedeutet oder ist sie auf Grund der ungemeinen Erleichterung, die
auch die Diditer der Bibel wie jeder andere nach der Entleerung
empfanden, gewachsen?
Der zweite Fehler, auf den Sie mich aufmerksam machen, hat
mich nachdenklidi gemacht. Er wäre leicht zu entfernen, aber ich lasse
auch ihn stehen. Lassen Sie mich sagen, weshalb. Ich habe bei der
Bespredmng des Kastrationskomplexes eine Episode aus dem Reineke
Fuchs erzählt und habe dabei Isegrim dem Wolf eine Rolle zuge-
schrieben, die eigentlich Hinz der Kater hat. Die Ursachen dieser Ver-
wedislung sind, glaube ich, verwickelt. Ich zweifle, ob ich sie ent-
wirren kann.
247
Eins ist ohneweiters klar: der Wolfkomplex in mir ist so mächtig,
daß er Dinge an sidi reißt, die gar nicht dazu gehören. Zur Ergänzung
dessen, was ich darüber schon gesagt habe, erzähle ich ein Abenteuer
aus meiner Kindheit. Lina und ich haben einmal - wir werden zehn
und elf Jahre alt gewesen sein - zusammen mit einigen Freunden das
Tiecksche Rotkäppchen aufgeführt. Mir war die Rolle des Wolfs zu-
erteilt und ich habe sie mit besonderer Passion gespielt. Unter den
Zuschauern befand sich ein kleines fünfjähriges Mädchen, Paula ge-
nannt. Ich habe diese Paula, die ein besondrer Günstling meiner
Schwester war, gehaßt, und es war mir eine Genugtuung, daß sie
während der Vorstellung aus Angst vor dem Wolf zu heulen anfing.
Das Spiel mußte unterbrochen werden, idi ging zu ihr, nahm die
Wolfsmaske ab und beruhigte sie. Es ist das erstemal gewesen, daß
sich jemand vor mir gefürchtet hat, und auch meines Wissens das
erstemal, daß ich Schadenfreude empfand. Und es war der Wolf, der
Furcht einflößte. Das Ereignis ist mir im Gedächtnis gebheben, wohl
auch deshalb, weil unter den Mitspielern außer meiner Schwester die
mehrfach erwähnte Alma und ein Namensvetter von mir Patrik war,
bei dem ich die erste Erektion gesehen habe.
Dieser Namensvetter war eigentlich ein Kamerad meines Bruders
Wolf, also einige Jahre älter als idi. Er war jedoch aus irgendwelchen
Gründen in der Vorschule, die ich besuchte, geblieben, als Wolf zum
Gymnasium überging. Wir Jungens badeten damals viel im Sommer
und hatten alle zusammen eine Badekabine. In der führte uns der
Namensvetter die Erektion vor, hat wohl auch irgendwie Onanie-
bewegungen gemacht, wenigstens wies er auf ein helles, fadenziehendes
Sekret hin, das in einem Tropfen aus der Harnröhre hing und von
dem er behauptete, es sei der Vorläufer der Samenergießung, für die
er bald reif genug sei. Für meine Erinnerung ist dieses Vorkommnis
dunkel gebheben, ich habe die Empfindung, als hätte ich die ganze
Sache nicht verstanden, ihr nur unbehelligt als irgend etwas Neuem
zugeschaut. Dagegen ist mir eine andre Spielerei noch lebhaft in
248
Erinnerung. Der Namensvetter schlug Glied und Hodensack nach
hinten, klemmte sie zwischen die Schenkel und behauptete, nun ein
Mädchen zu sein. Ich habe das oft selbst vor dem Spiegel wiederholt
und Jedesmal ein seltsames Wollustgefühl dabei gehabt. Ich halte das
Ereignis für besonders wichtig, weil es den Kastrationswunsch ohne
Beimengung von Angst rein zeigt Für mich persönlich habe ich nie-
mals an diesem Kastrationswunsch zweifeln können ; das beweisen hie
und da auftretende Phantasien, in denen ich mir die Empfindung des
Weibes während des Beischlafs vorzustellen suchte: wie das Glied in
die enge Öffnung eingeführt wird und darin hin und her bewegt
wird und was für Gefühle das auslöst. Aber ich habe auch seit jenem
Tage mit der Mädchcnwerdung des Namensvetters auf andre Männer
geachtet und feststellen können, daß der angstlose Wunsch, Mädchen
zu sein, allen Männern gemeinsam ist. Man braucht dazu nicht lang-
wierige Forschungen anzustellen. Man braucht nur ein wenig die
Liebesspiele zwischen Mann und Weib zu beobachten, dann weiß man,
daß die Variation, bei der der Mann unter dem Weibe liegt, überall
gelegentlich vorkommt, wie denn an dem sogenannten normalen Ge-
schlechtsakt, dem zuliebe alles andre pervers genannt worden ist, auf
die Dauer wohl noch nie ein Menschenpaar festgehalten hat. Hält
man es der Mühe für wert, sich näher mit dem Gegenstand zu be-
schäftigen, - und wenigstens der Arzt sollte soviel Wißbegierde auf-
bringen - so wird man leicht ähnliche bewußte Phantasien bei
Freunden und Bekannten finden, wie ich sie vorhin erzählte, und
wenn es wirklich einmal vorkommt, daß solche weiblichen Wünsche
ganz aus dem Bewußtsein verdrängt sind, genügt es, diese normal
Sexuellen zu einer Analyse ihres Verhaltens beim Essen, noch mehr
beim Trinken, beim Zähnebürsten, beim Reinigen der Ohren zu bringen.
Die Assoziationen springen dann bald zu allerlei andern Gewohn-
heiten über, zum Rauchen, zum Reiten, zum Bohren in der Nase und
andern Dingen. Und wo all das versagt, weil der Widerstand des
Männlichscheinenwollens zu groß ist, gibt es die Alltagsformen der
249
Erkrankungen, clie Verstopfungen mit ihrem lustbefriedigenden Hin-
durcbpressen des Kots durch die Afteröffnung, die Hämorrhoiden, die
den Kitzel an dieser Pforte des Leibes lokalisieren, die AuftreiBung
des Bauches mit ihrer Sdiwangerschaftssymbolisierung, das Klystier
die Morphiuminjektion und die tausendfältige Vervendung des,
Impfens, wie es in unsrem Verdrängungszeitalter Mode geworden ist'
der Kopfschmerz mit seiner Verwandtschaft zu den Wehen, das
Arbeiten und Schaffen am Werk, am Geisteskinde des Mannes. Stellen
Sie meine Behauptung auf die Probe, bestürmen Sic hier, bestürmen
Sie dort die Widerstände des Menschen, eines Tages - meist sehr
bald - kommt die Erinnerung, wird bewußt, was verdrängt war, und
es heißt dann wie bei uns weniger Normalen : „Ja, ich habe an der
Brust eines Weibes gesogen, und wenn ich es nicht wirklidi tat, so
stellte ich mir es doch vor; ja, ich habe den Finger in den After ein-
geführt, und es war nicht nur der Juckreiz, den ich beschwichtigen
wollte ; ja, ich weiß, daß in mir der Wunsch wach werden kann, Weib
zu sein."
Aber ich schwatze und gebe nicht Auskunft, warum ich an Stelle
des Katers den Wolf zum Kastrator machte und warum aus dem
Pfarrer, der in jener Szene des Reineke Fuchs der Gesddeditsteile
beraubt wird, ein Bauer werden mußte.
Für die zweite Verwechslung ist der Grund leicht zu erraten.
Vom Pfarrer zum Pater, Vater, der kastriert werden soll, ist nur ein
Schritt und an das Wort Pater reiht sich Patrik des Klanges wegen.
Die Bedrohung der eignen Person durch die Zähne des Tieres nötigte
mich zur Verdrängung und zum Gedächtnisfehler. Der sonderbare
Humor des Es zeigt sich dabei. Es läßt zu, daß meine Angst den
Pater-Patrik beseitigt, zwingt mich aber dazu, statt seiner einen Bauern
zu nehmen und Georg - Bauer - ist, wie Sie wissen, mein zweiter
Taufname. So verspotten wir uns selber.
Warum habe ich aber den harmlosen Kater und Mäusefänger in
den weit gefährlicheren Wolf verwandelt? Pater und Kater, das
250
' .--
reimt sidi, und wer, wie Sie, reimlustig ist, dichtet dazu Vater, und
das Unbewußte ist oft reimlustig. Der Vater also wurde verdrängt.
Der ist freilich furchtbarer als der Wolf. Er hatte Messer genug, denn
er war Arzt, und während Bruder Wolf höchstens ein Taschenmesser
führte, stand des Sonntags neben Papas Teller ein ganzes Besteck
mit Bratenmessern, deren einige böse Ähnlichkeit mit dem Messer
des Menschenfressers hatten. Er hätte leicht auf die Idee kommen
können, auch einmal an meinem Schwänzchen die Schärfe dieses
Messers zu erproben ; wenn er sie eine Weile am untern Tellerrand
gewetzt hatte, sah es gefährlich aus. Nun fällt mir auch ein, warum
er mir wie ein Kater vorkam. Irgend eine Anbeterin hatte seine
schönen Beine gelobt, und ihr zu Gefallen stolperte er in hohen
Stiefeln umher. »Der gestiefelte Kater", das war er und den las ich
damals mit besondrer Vorliebe, hatte auch gerade eine Serie kleiner
Stammbuchbilder mir erschmuggelt, in denen das Märchen schön bunt
dargestellt war.
Nun ist die Sache klar: für den, der in der Kastrationsangst
lebt, ist der Vater schlimmer als der Bruder, das Katzen tier, das er
täglidi sieht, schlimmer als der Wolf, den er nur vom Hörensagen
aus „Märchen" kennt. Und dann, der Wolf frißt nur Sdiafe, und für
dumm hielt ich mich weder damals nodi jetzt, der Kater aber frißt
Mäuse — auch in der Reineke-Fudis-Sage tut er es - und der
kastrationsbedrohte Teil, das Schwänzchen, ist eine Maus, die ins
Loch sdilüpft, die Angst jeder Frau vor der Maus beweist das; die
Maus kriecht unter die Röcke, will in das Loch, das dort verborgen
ist.
Hinter dieser Angst, daß der gestiefelte Vater mein Mäuschen
fressen könnte, ist noch etwas andres verborgen, etwas Teuflisches,
Furchtbares. Jener „gestiefelte Kater" bezwingt den Zauberer, der sich
in einen Elephanten verwandelt und dann in eine winzige Maus. Die
Symbole der Erektion und Erschlaffung sind deutlich, und da ich in
jenem Alter, wo ich das Märdien las und die Kaulbadische niustra-
251
tion des Reineke sah, gewiß nicht aus eigner körperlicher Erfahrung
diese Phänomene kannte, liegt mir der Schluß nahe, daß der Zau-
berer, der sich in Rüsseltier und Maus verwandelt, mein Vater war,
sein Schloß und Reich die Mutter, und der gestiefelte Kater ich selbst,
sowie ich selber auch der Besitzer des Katers, der jüngste Sohn des
Müllers, war. Da ich einsah, daß ich den ganzen Menschen in seiner
Elephantengröße nicht vernichten könne, schien es mir ratsam, wenig-
stens das symbolische Väterchen, die Maus, das Glied des Vaters zu
verschlingen. Und wirklich schwebt mir vor, als ob ich in jener Zeit
die ersten Stulpenstiefel in meinem Leben getragen hätte. In dem
Märchen sowie in dem Bilde lag für mich die eigne Kastration und,
viel gräßlicher noch, der verbrecherische Wunsch, die Maus des Vaters
zu versdilingen, um in den Besitz der Mutter zu gelangen; beides
wurde verdrängt und übrig blieb die harmlose Rivalität mit dem
Bruder Wolf. Damit kommt auch die Verwandlung des Pfarrers-Pater
in den Bauer-Georg in ein neues Licht. Der Wunsch, «den Pater, den
Vater zu kastrieren, wird sicher mit der eigenen Kastration bestraft.
Mein Es, das scheints ein leidlich empfindliches Gewissen hat, ver-
drängte das Verbrechen und ließ die Sühne bestehen, machte also
den Wunsch so gut wie möglich ungeschehen.
Darf ich Ihre Aufmerksamkeit nun noch einen Augenblick auf
die Stiefel richten; sie kommen auch beim Däumlingsmärchen vor und
sind wohl als das Symbol der Erektion zu betrachten. Nun dürfen
Sie aussuchen, welche Deutung Ihnen behagt. Zunächst könnten die
Stiefel die Mutter sein, sind es auch nach Ihrer Meinung, die Mutter,
weiterhin das Weib, das in After- und Scheidenöffnung zwei Stiefel-
schäfte besitzt. Es können auch die Hoden sein in ihrer Paarigkeit,
die Augen, die Ohren, vielleicht auch die Hände, die im vorbe-
reitenden Spiel den Siebenmeilenschritt zur Erektion und zur Onanie
ausführen.
Damit bin ich beim dritten Verdrängungsgrund, der Onanie,
einem ganz persönlichen Verdrängungsgrund, L der im Märchen keine
252
Stütze findet, wohl aber im eignen Erlebnis. In jener Zeit habe idi
erfahren, daß der Kater ab und zu seine eignen Kinder auffrißt Bin
idi der Kater, so ist mein eignes Kind das Schwänzchen gewesen, das
durch das Stiefelspiel beider Hände bei der Onanie das Mäuschen
dem Untergang weiht. Üble Gewohnheit.
Und dabei fällt mir etwas zu dem Wort Wolf ein: es ist die
Bezeichnung für das Wundlaufen zwischen den Schenkeln. Ich besinne
mich, daß ich mich als Kind sehr oft wundgelaufen habe. Ich ging
dann zur Mutter, die die wunden Stellen mit Talg einrieb. Nach
meiner jetzigen Denkweise muß ich annehmen, daß mein Es sich das
Wundsein, den Wolf verschaffte, damit die Mutter in der nächsten
Nähe des Schwänzchens hantierte. Das Wundsein war ein betrüge-
risches Mittel den Inzesttrieb zu befriedigen. Auf den Inzest aber
steht als mildeste Stiafe die Kastration. Wundlaufen, Wolf, Kastra-
tionsangst, das gehört zusammen.
Sie sehen, wenn ich mir Mühe gebe, kann idi leidlich scheinende
Gründe für meinen Irrtum erfinden. Aber mir widerstrebt solches Ver-
fahren. Ich nehme für midi das Recht in Anspruch zu irren, schon deshalb,
weil ich die Wahrheit und Wirklichkeit für zweifelhafte Güter halte.
AUes Gute Ihnen und den Ihren,
PATRIK.
29.
SIE ANTWORTEN NICHT, LIEBE FREUNDIN, UND ICH TAPPE
im Dunkehi, ob Sie böse sind oder, wie es so schön heißt, keine Zeit
haben. Ich werde auf gut Glück fortfahren, Ihnen von den Tieren zu
erzählen, wenn ich audi noch nicht weiß, ob Sie die Veröffentlichung
der Briefe mit Fehlern billigen.
Ich berichtete Ihnen von Ihren Empfindungen beim Anblick einer
Maus, habe aber nur die Hälfte davon gesagt Wenn die Maus nur
das Unter-die-Röcke-faliren bedeutete, wäre die Angst nicht so über die
Massen groß, wie sie wirklich ist. Die Maus ist als naschendes Tier
253
das Symbolwesen der Onanie und folgerichtig auch das der Kastra-
tion. Mit andern Worten, das Mädchen hat die vage Idee : Dort läuft
auf vier Beinen mein Schwänzchen umher; zur Strafe ward es mir
weggenommen, zur Strafe mit eignem Leben beseelt.
Da haben Sie ein Stück Gespensterglauben, Aberglauben. Wenn
man der Entstehung von Spukgeschichten nachgeht, stößt man sehr
bald auf das erotische Problem und die Schuld.
Diese eigentümliche Symbolisierung der Maus als frei herum-
huschendes Glied bringt mich auf ein der Maus verwandtes Tier, die
Ratte, die neben Wolf und Kater als Kastratorsymbol aufritt. Merk-
würdigemeise ist diese Symbolform die fürchterlichste und absto-
ßendste von den dreien. An und für sich ist die Ratte weniger ge-
fährlich als der Wolf und auch als der Kater. Aber sie vereinigt in
sich beide Kastrationsrichtungen, die gegen das Kind und die gegen
den Vater. Weil sie an allem, was vorragt, herumknabbert, ist sie
dem Kind für Nase und Schwänzchen gefährlich, nach Form und
Wesen aber ist sie der personifizierte, abgeschnittene Schwanz des
Vaters, das Gespenst des frevelhaften Wunsches gegen die Mannheit
des Vaters. Und weil sie sich in alles einmischt und in jedes Dunkel
eindringt, ist sie gleichzeitig die symbolische Schuld und die zudring-
liche Neugier der Eltern. Sie lebt im Keller, der Gosse, im Weibe.
Verhaßt, verhaßt
Im Dunkel des Kellers lebt auch die Kröte, feucht anzufühlen
und quabblig. Und der Volksglaube hält sie für giftig. Kleine Kröte,
nette Kröte, das ist etwas, was nicht fürs Tageslicht taugt, das kleine
Tierchen des älteren Backfisches, das noch nicht die stetige Wärme
der Liebe hat, nur von versteckter Begierde feucht ist. Ihr reiht sich
im Gegensinn des Symbols das naschende Mäuschen an, mit seinem
samtnen Fellchen, das frühreife Mädchen, das dem Speck nachgeht.
Und gleich daneben taudit, von allen Spradien verwendet, das Wort
Kätzchen auf als Bezeichnung des weichen Lockenpelzchens an der
weiblichen Scham, als Ausdruck für den Schamteil selbst und für das
254
schmiegsame Weib, chat noir, die Kaize, die das Mäuschen fängt, damit
spielt und es frißt, genau wie die Frau mit ihrem hungrigen Schamteil
das Mausdien des Mannes verschlingt.
Sahen Sie schon einmal die kindischen Zeichnungen des weiblichen
Geschleditsteils, die halbwüchsige Knaben an Wänden und Bänken
in alberner Begierde anbringen? Da haben Sie die Entstehung des
Ausdrucks „Käfer" für das liebende Mädchen vor Augen, aber auch
das wird klar, warum die Spinne als Schmähwort für das Weib ge-
braucht wird, die Spinne, die Netze baut und der Fliege das Blut
aussaugt. Das bekannte Spinnensprichwort : matin chagrin, soir espoir,
malt die Stellung von Frauen zu ihrer Sexualität ; je heißer die Glut
der Liebesnacht ist, um so verzagter blickt sie beim Erwachen nach
dem Mann, was der von dem Toben wohl denkt. Denn immer stärker
zwingt das Leben dem Weibe einen Seelenadel auf, der alle Wollust
zu verdammen scheint.
Die Symbole sind zweideutig : der Baum ist, wenn Sie den Stamm
betrachten, Phallussymbol, ein sehr anständiges, von der Sitte er-
laubtes ; denn selbst das prüdeste Fräulein scheut sich nicht, den
Stammbaum ihres Geschlechts an der Wand zu betraditen, obwohl
sie wissen muß, daß ihr die hundert Zeugungsorgane all ihrer Vor-
fahren in strotzender Kraft aus dem Bilde entgegenspringen. Der
Baum wird aber zum Weibessymbol, sobald der Gedanke an die
Frucht auftritt, wird „die Eiche", „die Budie" — ehe ich es vergesse:
seit einigen Wochen betreibe idi den Spaß, alle Bewohner meiner
Klinik zu fragen, was für Bäume neben dem Eingang stehen. Bisher
habe ich noch keine riditige Antwort bekommen. Es sind „Birken" ;
an ihnen wächst das Reis, aus dem man die Rute bindet, die ge-
fürchtete und noch mehr begehrte; denn in all den tausendfachen
Unarten der Kinder und Großen lebt die Sehnsucht nach dem bren-
nenden Rot des Schiagens. Und am Eingangstor, so daß jeder darüber
stolpert, steht ein Eckstein, rund und ragend wie ein Phallus ; den
sieht auch niemand. Er ist der Stein des Anstoßes und Ärgernisses.
255
[ & Verzeihung für die Unterbrechung. Auch andre Symbole sind
doppeldeutig, das Auge ist es, das Strahlen empfängt und Strahlen
ausschidtt, die [Sonne, die in Fruchtbarkeit Mutter, im goldgelben
Strahl Mann und Held ist. So ist es auch mit den Tieren, dem Pferde
vor allem, das bald als Weib gilt, auf dem man reitet, das in der
Schwangerschaft die Frucht des Leibes fortbewegt, bald als Mann, der
die Last der Familie mit sich trägt und auf dessen Schultern und
Knien das jubelnde Kind dahintrabt.
Diese doppelte Symbolverwendung der Tiere unterstützt ein selt-
sames Verfahren meines Unbewußten, das dem Kastrationskomplex
entstammt. Wenn ich an einem mit Rindern bespannten Karren vor-
übergehe und hinschaue, weiß ich nicht, sind es Kühe oder Ochsen,
die da ziehen. Ich muß erst eine ganze Weile suchen, ehe ich die
Unterscheidungsmerkmale finde. So geht es nicht nur mir, so geht es
vielen, vielen Menschen, und die Leute, die erkennen können, ob sie
einen männlichen Kanarienvogel oder ein Weibchen vor sich haben,
sind geradezu selten. Bei mir geht es ein bißchen weit. Wenn ich
einen Hühnerhof sehe, kann ich den großen Hahn von seinen Hennen
unterscheiden, sind junge Hähnchen dabei, so gelingt mir diese Un-
terscheidung schwer und, wenn ich einem vereinzelten Halm begegne,
muß ich mich auf das Raten verlegen, was sein Geschlecht ist. Ich
besinne mich nicht, jemals mit Bewußtsein einen Hengst, Bullen oder
Widder gesehen zu haben, für mich ist ein Pferd eben ein Pferd, ein
Ochse ein Ochse, ein Schaf ein Schaf, und wenn ich theoretisch weiß,
was eine Stute oder ein Wallach, ein Schaf oder ein Hammel ist, so
kann ich diese Kenntnis praktisch doch nicht ohne weiteres verwer-
ten, vermag auch nicht festzustellen, wie und wann ich meine theo-
retisdien Kenntnisse erworben habe. Offenbar wirkt da ein altes Verbot
nach, das sich mit einer bewußtseinslosen Angst vor der eigenen Entman-
nung verbindet Ich bin in dem stattlichen Alter von 54 Jahren in den
Besitz eines schönen Katers gelangt Schade, daß Sie das Erstaunen nicht
miterlebt haben, das mich beim Gewahrwerden seiner Hoden befiel.
256
Damit bin idi wieder bei der Kastration angelangt und muß nodi
zwei Worte über einige symbolisch verwendete Tiere sagen, die im
Dunkel der Menschenseele ein seltsames Leben haben. Besinnen Sie
sich darauf, wie wir gemeinsam in Wannsee am Grabe Kleists waren?
Es ist lange her, wir waren beide noch jung und begeisterungsfähig
und hatten uns wer weiß welche hohen Gefühle von diesem Besuch
unseres toten Lieblingsdichters erhofft. Und während Sie voll frommer
Scheu auf die heilige Stätte, von der ich ein Epheublatt pflückte,
hinabsahen, fiel ein armseliges Räupdien in Ihren Nacken ; Sie schrien
auf, wurden blaß und zitterten, und Kleist und alles war verges-
sen. Ich lachte, nahm das Räuplein fort und tat groß und gewaltig.
Aber wenn Sie nidit selbst zu sehr mit Ihrer Angst beschäftigt ge-
wesen wären, hätten Sie sicher bemerkt, daß ich die Raupe mit dem
Epheublatt wegnahm, weil mir davor grauste, die Raupe mit den
Fingern zu berühren. Was hilft auch Mut und Stärke wider das Sym-
bol? Wenn beim Anblick solch vielfüßig kriechenden Schwänzchens
die Masse des Mutterinzests, der Onanie, der Vater- und Selbst-
kastration über uns herfällt, werden wir vierjährige Kinder und kön-
nen es nicht ändern.
Gestern ging idi quer über das Rondell mit der schönen Aus-
sicht, dort wo stets die große Versammlung von Kinderwagen, spie-
lenden Bälgern und Kindsmägden ist. Ein dick pausbäckiges Mädchen
von drei Jahren brachte strahlend einen langen Regenwurm zu ihrer
Mutter getragen. Das Tier wand sich zwischen den kurzen Finger-
dien ; die Mutter aber schrie auf, schlug das Kind auf das Händchen:
„Pfui, bali, bah", rief sie und schleuderte den scheußlichen Wurm mit
der Spitze des Soiinensdiirms weit den Abhang hinab, schalt sdireck-
bleichen Gesidits weiter und wischte mit Eifer die Händdien des
heulenden Kindes ab. Ich hätte mich gern über die Mutter entrüstet,
aber idi verstand sie zu gut. Ein roter Wurm, der in die Löcher
kriecht, was hilft dagegen alle Darwinsche Weisheit von des Regen-
wurms segensreicher Minierarbeit?
17 G r o d d e c k, Das Buch vom Es 257
„Äx, bah, bah" darauf kommt die ganze Erziehungsweisheit der
Mutter hinaus. AJIes was dem Kinde lieb ist, wird ihm damit ver-
ekelt. Und es läßt sidi ja auch nichts dagegen sagen. Die Freude am
Wasserlassen und am Drücken kann nicht geduldet werden, sonst,
denkt man, - ob es wahr ist, weiß icn nicht - bleibt der Mensch
dreckig. Aber ich muß Sie doch bitten, im Namen der Forschung, sich
einmal den Urin über Schenkel und Arme laufen zu lassen, sonst
glauben Sie gar nicht, daß das Kind so etwas genießt, und halten
audi fernerhin Erwachsene, die sich hin und wieder solchen Genuß
verschaffen, für pervers, unnatürlich, lüstern, krank. Krank daran ist
nur die Angst. Versudien Sie es. Das Schwierige ist, es unbefangen
zu tun. Das ist über die Maßen schwer. Man hat mir hie und da
über das Experiment, das ich nicht erst Ihnen empfehle, berichtet,
und soweit ich glauben darf, hat man durchweg zunächst sämtliche
Lebewesen aus der Wohnung entfernt, sich in der Badestube einge-
schlossen und nackt in der Wanne getan, was ich riet, damit man
sich gleich reinigen könnte. Und man trägt doch die Flüssigkeit, die
auf der Haut so schmutzig ist, dauernd in seinem Innern mit sich
und denkt nidit einmal daran. Sind die Menschen nicht seltsam?
Aber trotz all dieser Vorsichtsmaßregeln, die Angst, Verbotenes zu
tun, blieb, aber der Genuß kam. Nicht einer hat zu leugnen gewagt,
daß es genußvoll war. Welch ungeheures Maß von verdrängender
Gewalt ist da tätig gewesen, um eine unbefangene Handlung eines
jeden Kindes so mit Angst zu belasten. Und nun gar der Versudi,
das A-a unter sich zu lassen und sich darein zu legen. Schon wie man
das machen soll, kostet tagelanges Kopfzerbrechen, und kaum drei
oder vier von denen, die wissensdurstig die Entwicklung des Unbe-
wußten unter meiner Führung erforschen wollten, haben den Mut
dazu gehabt. Aber was ich behauptete, haben sie bestätigt. Ach, liebe
Freundin, wenn sie etwas Philosophisches lesen, tun Sie es so, wie
man die Aufsätze von Karlchen Mießnick las - auch wenn Sie meine
Briefe lesen. Der Ernst ziemt sich nicht dem Unsinn gegenüber. Nur
258
das Leben selbst, das Es versteht etwas von Psychologie, und die
einzigen Vermittler durch das Wort, deren es sich bedient, sind die
paar großen Dichter, die es gegeben hat.
Aber ich wollte davon nicht sprechen, sondern über die Wirkun-
gen des „Äx, bah, bah", auf unser Verhältnis zum Regenwurm Be-
trachtungen anstellen, die Sie dann nach Gutdünken auf andre ge-
ächtete Tiere, Pflanzen, Menschen, Gedanken, Handlungen und
Gegenstände übertragen mögen. Ich überlasse Sie Ihrem Nachdenken.
Und vergessen Sie nicht, sich dabei die Schwierigkeit aller Natur-
forschung klar zu machen. Freud hat ein Buch über das Verbotene
im Menschenleben geschrieben, er nennt es Tabu. Lesen Sie esl Und
dann lassen Sie Ihre Phantasie eine Viertelstunde schweifen, was
alles Tabu ist. Sie werden erschrecken. Und werden erstaunen, was
der Menschengeist trotzdem zustande brachte. Und schließlich werden
Sie sich fragen: Was mag der Grund sein, daß das Es des Menschen
so seltsam mit sich selber spielt, sich Hindernisse schafft, lediglich
um sie mit vieler Mühe zu erklettern. Und schließlich wird Sie
eine Freude ergreifen, eine Freude, Sie ahnen nicht, wie groß diese
Freude ist Ich denke mir, so ungefähr muß das Gefühl der Ehr-
furcht sein.
Sie wissen, Erziehung beseitigt nichts, sie verdrängt nur. Auch
die Freude am Regenwurm läßt sich nicht töten. Es gibt eine
seltsame Form, in der sie wiederkehrt, in der Form des Spulwurms
Die Keime dieses Gasts unsrer Eingeweide, stelle ich mir vor, sind
überall, kommen in aller Menschen Bäuche hinein, oft und oft. Aber
das Es kann sie nicht brauchen, es tötet sie. Eines Tages überfällt dieses
oder jenes Menschen Es, das gerade Kind geworden ist und kindisch
schwärmt, eine sehnsuchtsvolle Erinnerung an den Regenwurm. Und
flugs baut es sich ein Abbild davon aus den Eiern des Spulwurms.
Es lacht über das Bahbah der Gouvernante und spielt ihr einen
Schabernack und gleichzeitig fällt ihm ein, daß Wurm ja auch Kind
ist; da lacht es noch mehr und spielt mit dem Eingeweidewurm
"• 259
Schwangerschaft und eines Tages will es „Kastration" spielen und
„Kinderkriegen" spielen. Und dann läßt es den Spulwurm - oder sind
es die kleinen weißen Würmdien, mit deren Hilfe man sich die Er-
laubnis verschafft, den Finger in den After zu stecken, Afteronanie
in hohem Maße zu treiben - dann läßt es diese Würmer aus der
hintern Öffnung hervorkommen.
Ach, bitte, Liebe, lesen Sie doch diese Stelle dem Herrn Sanitäts-
rat vor. Sie werden einen seltenen Spaß haben, wie er diese ernsthaft
gemeinte Theorie eines ernsthaften Kollegen über die Disposition zu
Krankheiten aufnimmt.
Nun muß ich Ihnen noch eine Geschichte von der Schnecke erzählen.
Sie betrifft eine gemeinsame Bekannte von uns, aber ich werde Ihnen
den Namen nicht nennen ; Sie wären imstande, sie zu necken. Ich ging
mit ihr spazieren, da fing sie plötzlich an zu zittern, alles Blut wich
ihr aus den Wangen und ihr Herz begann so zu jagen, daß man die
Schläge an den Halsadern sah. Der Angstschweiß trat auf die Stirn
und bald folgte Eibrechen. Was wars ? Eine Nacktschnecke kroch auf
dem Wege. Wir hatten von der Treue gesprochen und sie hatte über
ihren Mann geklagt, den sie auf Seitenwegen vermutete. Der Gedanke
war ihr schon lange gekommen, so sagte sie, ihm den Schwanz auszu-
reißen und daraufzutreten. Die Schnecke aber sei dies ausgerissene
Glied gewesen. Das schien genug zu erklären, aber ich weiß nicht,
weshalb ich ungenügsam war, ich behauptete keck darauf los, es müsse
noch etwas andres dahinter stecken. Um solche Wut der Eifersucht zu
empfinden, müsse man selbst untreu sein. Das kam auch hald zum
Vorschein, wie es denn keine Eifersucht gibt, wenn nicht der Eifer-
süchtige selbst untreu ist, die Freundin hatte nicht an das Glied ihres
Mannes gedacht, sondern an meines. Wir lachten dann beide, aber da
ich doch das Schulmeistern nicht lassen konnte, hielt ich ihr eine kleine
Vorlesung. „Sie sind in einer Zwickmühle," sagte ich ihr. „Wenn Sie
mich lieben, werden Sie Ihrem Manne untreu, und wenn Sie zu ihm
halten, betrügen Sie mich und Ihre starke Liebe zu mir. Was Wunder,
260
daß Sie nicht weiter können, da Sie vor sich die Notwendigkeit sehen,
die Schnecke, das Glied des einen oder des andern zu zertreten." So
etwas ist nicht selten. Es gibt Menschen, die verlieben sich in jungen
Jahren, behalten diese erste Liebe als Idealgestalt in ihrem Herzen,
heiraten aber einen andern. Sind sie nun mißgestimmt, das heißt,
haben sie der andern Hälfte etwas zuleide getan und zürnen ihr deshalb,
so holen sie die Idealliebe hervor, stellen Vergleiche an, bereuen, den
falschen geheiratet zu haben und finden nadi und nach tausend Gründe,
um sich zu beweisen, wie schlecht der ist, den sie geheiratet und
gekränkt haben. Das ist sdilau, aber leider zu schlau. Denn die Über-
legung kommt, daß sie dem ersten Geliebten untreu wurden, um den
zweiten zu nehmen, und dem zweiten untreu sind, um am ersten
festzuhalten. Du sollst nicht chebredien!
Solche Vorgänge, die von großer Tragweite sind, lassen sich schwer
begreifen. Ich habe lange nach einer Begründung gesucht, warum
solche Mensdien - sie sind gar nidit selten - sich in diesen Zustand
ununterbrochner Untreue hineinbringen. Jene Freundin hat mir das
Rätsel gelöst, und deshalb eigentlidi erzähle ich Ihnen die Schnecken-
geschichte. Sie hatte ganz didit unter der Schenkelbeuge an der Innen-
seite des Oberschenkels einen kleinen, fingerlangen, schwanzförmigen
Auswudis. Der belästigte sie arg. Von Zeit zu Zeit ward er wund,
Ein seltsamer Zufall wollte es, daß dieses Wundsein ein paar Mal
während meiner Behandlung auftrat und jedesmal verschwand, wenn
verdrängte homosexuelle Regungen an die Oberfläche gekommen
waren. Man hatte ihr schon lange geraten, sidi das Ding abschneiden
zu lassen; sie hatte es aber nicht getan. Ich habe ihr ein wenig auf
die Seele gekniet, bis es in tausend Splitterchen zerstückt herauskam,
daß sie das Sdiwänzchen ihrer Mutter zuliebe trug. Von dieser Mutter
hatte sie stets behauptet, sie habe sie all ihr Leben lang gehaßt. Ich
habe es ihr aber nie geglaubt, obwohl sie unermüdlich darin war,
ihren Haß in vielen, vielen Geschichten kund zu tun. Ich glaubte es
deshalb nicht, weil ihre gewiß starke Neigung zu mir alle Zeichen
261
einer Übertragung von der Mutter hatte. Es hat lange gedauert aber
schließlich ist ein Mosaikbild zustandegekommen, natürlich mit schad-
haften Stellen, worin alles verzeichnet war, die heiße Liebe zur Brust,
zur Mutter, zu deren Armen, die Verdrängung zugunsten des Vaters
im Anschluß an eine Schwangerschaft, die Entstehung des Hasses mit
seinen homosexuellen Resten. Ich kann Ihnen von den Einzelheiten
nichts mitteilen, aber das Resultat war, daß jene Frau, als ich sie
im nächsten Jahr wiedersah, operiert war, keine Untreue mehr und
keine Schnecke mehr fürchtete. Sie mögen glauben, was Sie wollen, ich
meinerseits bin überzeugt, daß sie das Schwänzchen der Mutter
zuliebe wachsen ließ. Und nun darf ich noch hinzufügen, daß die
Schnecke doppeldeutiges Symbol ist, der Phallus der Gestalt und der
Fühler halber und das Weibsorgan um des Schleimes willen. Wissen-
schaftlich ist sie ja wohl auch doppelgeschlechtlich.
Auch vom Axolottl muß ich Ihnen ein Geschichtchen zum Besten
geben ; Sie haben das Tierchen wohl im Berliner Aquarium gesehen
und wissen, wie ähnlich es einem Embryo ist Dort im Aquarium ist
einmal vor dem Kasten des Axolottls eine Frau in meiner Gegenwart
halb ohnmächtig geworden. Sie haßte auch ihre Mutter, angeblich, wie
es immer der Fall ist. Sie war sehr kinderlieb, aber sie hatte' die
Mutter auch bei einer Schwangerschaft hassen gelernt und sie hat
keine Kinder bekommen, trotz aller Sehnsucht. Sehen Sie sich kinder-
lose Frauen aufmerksam an, wenn sie wirklich kindersehnsüchtig sind.
Da ist Tragik des Lebens, die oft sich wandeln läßt Denn alle diese
Frauen - ich wage zu sagen, alle - tragen den Haß gegen die Mutter
im Herzen, dahinter, aber in eine Ecke gequetscht, sitzt traurig die
verdrängte Liebe. Helfen Sie ihr aus der Verdrängung heraus und
jenes Weib wird einen Mann suchen und finden, der mit ihr ein
Kind zeugt.
Ich könnte noch eine WeÜe so fort reden, aber mich fesselt ein
Schauspiel, von dem ich Ihnen berichten will. Das Beste kommt zuletzt.
Sie müssen wissen, daß ich, während ich schreibe, auf jener Terrasse
262
mit den vielen Kinderwagen sitze, von der ich Ihnen schrieb. Vor mir
spielen zwei Kinder, ein Knabe und ein Mädchen mit einem Hunde.
Der liegt auf dem Rücken und sie kraulen ihn am Bauch und jedesmal,
wenn infolge des Kitzels der rote Penis des Hündchens zum Vorschein
kommt, lachen die Kinder. Und schließlich haben sie es so weit ge-
bracht, daß der Hund seinen Samen ausspritzte. Das hat die Kinder
nachdenklich gemacht. Sie sind zur Mutter gegangen und haben sich
nicht mehr um den Hund gekümmert.
Haben Sie noch nie gesehen, wie oft Erwachsene mit der Stiefel-
spitze ihren Hund kraulen? Kindererinnerungen. Und da die Hunde
nicht sprechen können, muß man sie beobaditen und sehen, was sie
tun. Es sind ihrer viele, die auf den Geruch der Periode reagieren
und viele, die an den Beinen des Menschen onanieren. Und wenn die
Hunde schweigen, fragen Sie die Menschen. Sie müssen dreist fragen,
sonst bleibt die Antwort aus. Denn auch die Sodomie gilt als
pervers. Und was mit dem Hund erlebt wird, ist tief verdrängt.
Denn er ist nicht nur ein Tier, sondern ein Symbol des Vaters,
des Wauwaus.
Wollen Sie noch mehr von den Tieren wissen? Gut. Stellen Sie
sich ein paar Stunden vor den Affenkäfig des zoologischen Gartens
und beobachten Sie die Kinder ; auch den Erwachsenen dürfen Sie ein
paar Blicke gönnen. Wenn Sie in diesen Stunden nicht mehr von der
Menschenseele kennen gelernt haben, als in tausend Büchern steht,
sind Sie der Augen nicht wert, die Sie im Kopfe tragen.
Alles Gute von Ihrem getreuen
TROLL.
30.
ALSO DAS WAR DER GRUND IHRES LANGEN SCHWEIGENS.
Sie haben nochmals die Möglidikeit der Veröffentlidiung erwogen, be-
willigen für meinen Teil der Korrespondenz das Imprimatur und ver-
weigern es für Ihre Briefe. Sei es denn ! Und Gott gebe seinen Segen !
263
Sie haben Recht, es ist an der Zeit, daß ich midi ernsthaft mit
dem Es auseinandersetze. Aber das Wort ist starr, und deshalb bitte
ich Sie, ab und zu um eins der gesdiriebenen Wörter herumzugehen
und es von allen Seiten zu betrachten. Sie gewinnen dann eine
Meinung, und darauf kommt es an, nicht darauf, ob diese Meinung
richtig oder falsch ist. Ich will midi bemühen, sadilich zu bleiben.
Da muß ich nun zunächst die betrübliche Mitteilung machen, daß
es ein solches Es, wie ich es vorausgesetzt habe, nach meiner Meinung
gar nicht gibt, daß ich es selber künstlich hergestellt habe. Weil ich
mich durchaus nur mit dem Menschen, mit dem einzelnen Menschen
besdiäftige und das bis an mein Lebensende tun werde, muß ich so
tun, als ob es, losgelöst vom Ganzen Gottnaturs, Einzelwesen gäbe,
die man Menschen nennt. Ich muß so tun, als ob ein solches Einzel-
wesen irgendwie durch einen leeren Raum von der übrigen Welt ge-
trennt wäre, so daß es den Dingen außerhalb seiner erdachten Grenzen
selbständig gegenübersteht. Ich. weiß, daß das falsch ist, trotzem werde
ich eigensinnig an der Annahme festhalten, daß jeder Mensch ein
eignes Es ist, mit bestimmten Grenzen und mit Anfang und Ende.
Ich. betone das, weil Sie, verehrte Freundin, schon mehrmals den
Versuch gemacht haben, mich zum Schwatzen über Weltseele, Pantheis-
mus, Gottnatur zu verführen. Dazu habe ich keine Lust, und ich er-
kläre hiermit feierlich, daß ich es nur mit dem zu tun habe, was ich
das Es des Menschen nenne. Und ich lasse kraft meines Amtes als
Briefschreiber dieses Es beginnen mit der Befruchtung. Welcher Punkt
des überaus verwickelten Befruchtungsvorgangs als Anfang gelten soll,
ist mir gleidigültig, ebenso wie ich es Ihrem Belieben überlasse, aus
der Masse der Todesvorgänge irgendeinen Moment auszuwählen und
ihn als Ende des Es anzunehmen.
Da ich Ihnen von vornherein eine bewußte Fälschung in meiner
Hypothese zugebe, steht es Ihnen frei, in meinen Auseinandersetzungen
so viel bewußte und unbewußte Fehler zn finden, wie Sie wollen
Aber vergessen Sie nicht, daß dieser erste Fehler, Dinge, Individuen
264
lebloser oder lebender Art aus dem All herauszuschneiden, allem
menschlichen Denken anhaftet, und daß unsre sämtlichen Äußerungen
damit belastet sind.
Nun erhebt sich eine Schwierigkeit. Diese hypothetische Es-Einheit,
deren Ursprung in der Befruchtung festgelegt ist, enthält tatsädilich
in sich zwei Es-Einheiten, eine weibliche und eine männliche. Dabei
sehe ich ganz von der verwirrenden Tatsache ab, daß diese beiden
Einheiten, die vom Ei und vom Samenfaden herkommen, wiederum
keine Einheiten, sondern Vielheiten von Adams und der Urtierchen
Zeiten her sind, in denen Weibliches und Männliches in unlösbarem
Gewirr, aber wie es scheint unvermischt nebeneinander liegt. Daß
beide Prinzipien nicht ineinanderfließen, sondern nebeneinander
existieren, bitte ich zu behalten. Denn daraus folgt, daß jedes Menschen-
Es mindestens zwei Es in sich enthält, die, irgenwie zu einer Einheit
verbunden, doch in gewisser Weise unabhängig voneinander sind.
Ich weiß nicht, ob idi bei Ihnen wie bei andern Frauen - und
auch Männern natürlich - eine völlige Unkenntnis des Wenigen vor-
aussetzen darf, was man über die weiteren Schicksale des befruchteten
Eis zu wissen glaubt. Für meine Zwecke genügt es, wenn ich Ihnen
mitteile, daß sich dieses Ei nach der Befruditung daran macht, sich
in zwei Teile zu zerlegen, in zwei Zellen, wie die Wissenschaft diese
Wesen zu benennen beliebt Diese zwei teilen sich dann wieder in vier,
in acht, in sechzehn Zellen und so fort, bis schließlich das zustande
kommt, was wir gemeiniglich „Mensch" nennen. Auf die Einzelheiten
dieser Vorgänge brauche ich Gott sei Dank nicht einzugehen, sondern
kann mich damit begnügen, auf etwas hinzuweisen, was für mich
wichtig ist, so unbegreiflich es mir auch bleibt. In dem winzig kleinen
Wesen, dem befruchteten Ei, steckt irgendetwas, ein Es, das imstande
ist, die Teilungen in Zellenhaufen vorzunehmen, ihnen verschiedene
Gestalt und Funktion zu geben, sie dazu zu veranlassen, sich zu Haut,
Knochen, Augen, Ohren, Gehirn usw. zu gruppieren. Was in aller
Welt wird aus diesem Es im Moment der Teilung? Offenbar teilt es
265
sich mit, denn wir wissen, daß jede einzelne Zelle eine selbständige
Existenzmöglichkeit und Teilungsmögbchkeit hat. Aber gleichzeitig
bleibt etwas Gemeinsames übrig, ein Es, das die beiden Zellen an-
einanderbindet und ihr Schicksal in irgendeiner Weise beeinflußt und
sich von ihnen beeinflußen läßt Aus dieser Erwägung heraus habe
ich mich entschließen müssen anzunehmen, daß außer dem individuellen
Es des Menschen eine unberechenbar große Zahl von Es-Wesen, die
den einzelnen Zellen angehören, vorhanden sind. Wollen Sie sich
dabei gütigst daran erinnern, daß sowohl das Individualitäts-Es des
ganzen Menschen wie jedes Es jeder Zelle ein männliches und ein
weibliches Es und ferner auch noch die winzig kleinen Es-Wesen der
Ahnenkette in sich bergen.
Verlieren Sie bitte die Geduld nicht! Ich kann nichts dafür, daß
ich Dinge verwirren muß, die dem täglichen Denken und Sprechen
einfach sind. Irgendein gütiger Gott wird uns, so hoffe ich, aus dem
Gestrüpp, das uns zu umschlingen droht, herausführen.
Vorläufig ziehe ich Sie noch tiefer hinein. Es kommt mir vor, als
ob es noch weitere Es-Wesen gibt. Die Zellen schließen sich im Lauf
der Entwicklung zu Geweben zusammen, zu Epithelien, Bindegeweben,
Nervensubstanz usw., und jedes einzelne dieser Gebilde scheint
wieder ein eigenes Es zu sein, das auf das Gesamt-Es, die Es-Einheiten
der Zellen und die der andern Gewebe einwirkt und sich von ihnen
in den Lebensäußerungen bestimmen läßt. Ja nicht genug damit. Neue
Es-Formen treten als Organe auf, als Milz, Leber, Herz, Nieren
Knochen, Muskeln, Hirn und Rückenmark, und weiter drängen sich
uns in den Organsystemen andre Es-Gewalten auf, ja es scheinen sich
gleichsam erkünstelte Es-Einheiten zu bilden, die ihr seltsames Wesen
treiben, obwohl man annehmen könnte, daß sie nur Schein und Namen
sind. So muß ich zum Beispiel behaupten, daß es ein Es der oberen
und unteren Körperhälfte gibt, ein solches von rechts und links eins
des Halses oder der Hand, eins des Hohlraums des Menschen und
eins seiner Körperoberfläche. Es sind Wesenheiten, von denen man
266
fast annehmen möchte, daß sie durch Gedanken, Besprechungen,
Handlungen entstehen, die man fast für Geschöpfe des vielgepriesenen
Verstandes halten könnte. Aber glauben Sie das nur nicht ! Solch eine
Ansicht entspringt nur dem verzweifelten und hoffnungslosen Be-
mühen, irgendetwas in der Welt verstehen zu wollen. Sobald man
das will, sitzt gewiß ein besonders schadenfrohes Es irgendwo im
Versteck, spielt mit uns Schabernack und lacht sich halbtot über unsre
Anmaßung, über das Gernegroßsein unsers Wesens.
Bitte, Liebe, vergessen Sie nie, daß unser Gehirn und damit unser
Verstand, Geschöpf des Es ist ; gewiß eins, das wiederum schaffend
wirkt, das aber doch erst spät in Tätigkeit tritt und dessen Schaflfens-
feld beschränkt ist. Längst ehe das Gehirn entsteht, denkt schon das
Es des Menschen, es denkt ohne Gehirn, baut sich erst das Gehirn.
Das ist etwas Fundamentales, etwas, was der Mensch nie vergessen
dürfte und doch stets vergißt. In dieser Annahme, daß man mit dem
Gehirn denkt, eine Annahme, die sicher falsch ist, ist die Quelle von
tausend und abertausend Albernheiten, freilich auch die Quelle für
wertvolle Entdeckungen und Erfindungen, für alles, was das Leben
verschönt und verhäßlicht.
Sind Sie mit der Wirrnis zufrieden, in der wir uns herumtreiben ?
Oder soll ich Ihnen noch erzählen, daß sich fortwährend in buntem
Wechsel neue Es-Wesen zeigen, gleichsam als ob sie neu entstünden ?
Daß es Es-Wesen der Körperfunktionen gibt, des Essens, Trinkens,
Schlafens, Atmens, Gehens? Daß sich ein Es der Lungenentzündung
oder der Schwangerschaft offenbart, daß sich aus dem Beruf, aus dem
Alter, aus dem Aufenthaltsort, aus dem Klosett und Nachttopf, aus
dem Bett, der Schule, der Konfirmation und Ehe, der Kunst und der
Gewohnheit solche seltsame Dinge bilden? Verwirrung, unendliche
Verwirrung. Nichts ist klar, alles ist dunkel, unentrinnbare Ver-
schlingung.
Und doch, und doch! Wir meistern das alles, wir treten mitten
hinein in diese brodelnde Flut und dämmen sie ein. Wir packen diese
267
Gewalten irgendwo und reißen sie hierhin und dorthin. Denn wir
sind Mensdien, und unser Griff vermag etwas. Er ordnet, gliedert,
schafft und vollbringt. Dem Es steht das loh gegenüber, und wie es
auch sei und was audi sonst noch zu sagen wäre: für die Mensdien
bleibt immer der Satz : Idi bin Ich.
Wir können nicht anders, wir müssen uns einbilden, daß wir
Herren des Es sind, der vielen Es-Einheiten und des einen Gesamt-
Es, ja audi Herren über Charakter und Handeln des Nebenmenschen,
Herren über sein Leben, seine Gesundheit, seinen Tod. Das sind wir
gewiß nicht, aber es ist eine Notwendigkeit unsrer Organisation,
unsers Menschseins, daß wir es glauben. Wir leben, und dadurch, daß
wir leben, müssen wir glauben, daß wir unsre Kinder erziehen
können, daß es Ursadien und Wirkungen gibt, daß wir aus freier
Überlegung heraus zu nützen und schaden vermögen. In der Tat
wissen wir nichts über den Zusammenbang der Dinge, können nicht
für vierundzwanzig Stunden vorausbestimmen, was wir tun werden,
und haben nicht die Macht, irgend was absichtlich, zu tun. Aber wir
werden vom Es gezwungen, seine Taten, Gedanken, Gefühle für Ge-
schehnisse unsers Bewußtseins, unsrer Absiditlichkeit, unsers Ichs zu
halten. Nur weil wir in ewigem Irrtum befangen sind, blind sind und nicht
das Geringste wissen, können wir Ärzte sein und Kranke behandeln.
Ich weiß nicht bestimmt, warum ich Ihnen das alles schreibe. Ver-
mutlich um mich zu entschuldigen, daß ich trotz meines festen Glau-
bens an die Allmacht des Es doch Arzt bin, daß ich trotz der Über-
zeugung von der außerhalb meines Bewußtseins liegenden Notwendig-
keit all meiner Gedanken und Taten doch immer wieder Kranke
behandle und vor mir selber und vor andern so tue, als ob ich für Erfolg
und Mißerfolg meiner Behandlung verantwortlich sei. Des Menschen
wesentliche Eigenschaft ist Eitelkeit und Selbstüberschätzung. Ich kann
mir diese Eigenschaft nicht nehmen, muß an mich und mein Tun glauben.
Im Grunde wird alles, was im Menschen vorgeht, vom Es getan.
Und das ist gut so. Und es ist auch gut, einmal wenigstens im Leben
268
still zu stehen und sich, so gut es geht, mit der Überlegung zu be-
schäftigen, wie ganz außerhalb unsers Wissens und Vermögens die
Dinge vor sich gehen. Für uns Ärzte ist das besonders notwendig.
Nicht um uns Bescheidenheit zu lehren. Was sollen wir mit solch un-
menschlicher, außermensdilidier Tugend? Sie ist doch nur pharisäisch.
Nein, sondern weil wir sonst Gefahr laufen, einseitig zu werden, uns
selbst und unsern Kranken vorzulügen, daß gerade diese oder jene
Behandlungsart die allein richtige sei. Es klingt absurd, aber es ist
doch wahr, daß Jede Behandlung des Kranken die richtige ist, daß er
stets und unter allen Umständen richtig behandelt wird, ob er nun
nach Art der Wissenschaft oder nach Art des heilkundigen Schäfers
behandelt wird. Der Erfolg wird nicht von dem bestimmt, was wir
unsern Kenntnissen gemäß verordnen, sondern von dem, was das Es
unsers Kranken mit unsern Verordnungen macht. Wäre das nicht
so, so müßte ein jeder Knochenbruch, der regelrecht eingerenkt und
verbunden ist, heilen. Dem ist aber nicht so. Wäre wirklich ein so
großer Unterschied zwischen dem Tun eines Chirurgen und dem eines
Internisten oder Nervenarztes oder eines Pfuschers, so hätte man recht,
sich seiner gelungenen Kuren zu rühmen und sich der Mißerfolge zu
schämen. Aber dazu hat man kein Recht. Man tut es, aber man hat
kein Recht dazu.
Dieser Brief ist, wie mir scheint, aus einer merkwürdigen Stim-
mung heraus gesdiriebcn. Und wenn ich so weiter fortfahre, madie
ich Sie aller Wahrscheinlidikeit nach traurig oder .bringe Sie zum
Lachen. Und weder das eine noch das andre liegt in meiner Absicht.
Ich will Ihnen Heber erzählen, wie ich zur Psychoanalyse gekommen
bin. Sie werden dann eher verstehen, was ich mit meinem Drumrumreden
meine, werden einsehen, was für seltsame Gedanken ich über meinen
Beruf und seine Ausübung habe.
Ich muß Sie zunächst mit dem Seelenzustande bekannt machen,
in dem ich mich damals befand und der sich in die Worte zusammen-
fassen läßt, daß ich abgewirtschaftet hatte. Ich kam mir alt vor, hatte
269
kerne Lust mehr am Weibe oder am Manne, meiner Liebhabereien
war ich überdrüssig geworden, und vor allem, meine ärztliche Tätig-
keit war mir verleidet. Ich betrieb sie nur nodi zum Gelderwerb. Ich
war krank, daran zweifelte ich selber nicht, wußte nur nicht, was mit
nur los war. Erst einige Jahre später hat mir einer meiner medizini-
schen Kr.tiker gesagt, woran ich litt: ich war hysterisch, eine Diagnose,
von deren Richtigkeit ich um so mehr überzeugt bin, als sie ohne
persönliche Bekanntschaft, lediglich nach dem Eindruck meiner Schriften
gestellt worden ist: die Symptome müssen also sehr deutlich gewesen
sein. In dieser Zeit übernahm ich die Behandlung einer schwerkranken
Dame ; die hat mich gezwungen, Analytiker zu werden.
Sie erlassen mir es wohl, auf die lange Leidensgeschichte dieser
trau einzugehen; ich tue das nicht gern, weil es mir leider nicht ge-
lungen ist, sie vollständig wieder herzustellen, wenn sie auch im Lauf
der vierzehn Jahre, die ich sie kenne und verarzte, gesünder geworden
ist als sie es selbst je erwartet hat Um Ihnen aber die Sicherheit zu
geben, daß es sich bei ihr wirklich um eine solide „organische-, also
wirkliche Erkrankung, nicht bloß um eine „eingebildete-, eine Hysterie
wie bei mir handelte, berufe ich mich auf die Tatsache, daß sie in den
letzten Jahren vor unsrer Bekanntschaft zwei schwere Operationen
durchgemacht hatte und mir mit einem reichlichen Vorrat von Digitalis,
Skopolamin und anderem Dreck als Todeskandidatin von ihrem letzten
wissenschaftlichen Berater übergeben wurde.
Anfangs war unser Verkehr nicht leicht. Daß sie meine etwas
gewalttätige Untersuchung mit reichlichen Gebärmutter- und Darm-
blutungen beantwortete, überrascite mich nicht : dergleichen hatte ich
bei andern Kranken des öfteren erlebt Was mir aber auffiel, war
daß sie, trotz ilirer ansehnhchen Intelligenz, über einen lächerlich arm-
seligen Wortschatz verfügte. für die meisten Gegenstände des Ge-
hrauchs benutzte sie Umschreibungen, so daß sie etwa statt Schrank
das Dmg für die Kleider sagte, oder statt Ofenrohr die Einrichtung
für den Rauch. Gleichzeitig vermochte sie nicht bestimmte Bewegungen
270
zu ertragen, etwa das Zupfen an der Lippe oder das Spielen mit irgend
einer Stuhlquaste. Verschiedene Gegenstände, die uns zum täglichen
Leben notwendig vorkommen, waren aus dem Krankenzimmer verbannt.
Wenn ich jetzt auf das Krankheitsbild, wie es sich damals darbot,
zurückblicke, wird es mir schwer zu glauben, daß ich einmal eine Zeit
gehabt habe, wo ich nichts von allen diesen Dingen verstand. Und
doch war es so. Ich sah wohl, daß es sich bei meiner Kranken um
eine enge Verquickung sogenannter körperlicher und psychischer Er-
scheinungen handelte, aber wie die zustande gekommen war und wie
man der Kranken helfen sollte, wußte ich nicht. Nur das eine war mir
von vornherein klar, daß irgend eine geheimnisvolle Beziehung zwischen
mir und der Patientin war, die sie veranlaßte, Vertrauen zu mir zu
fassen. Damals kannte ich den Begriff der Übertragung noch nicht,
freute mich nur der scheinbaren Suggestibilität des Behandlungsobjektes
und arztete darauf los, wie ich es gewohnt war. Einen großen Erfolg
errang ich schon bei dem ersten Besuch. Bisher hatte sich die Kranke
stets geweigert, mit einem Arzt allein zu verhandeln; sie verlangte,
daß die ältere Schwester dabei sei, und infolgedessen ging jeder Ver-
ständigungsversuch immer durch die Vermittlung der Schwester vor sich.
Seltsamerweise ging sie sofort auf meinen Vorschlag, mich das nächste
Mal allein zu empfangen, ein : erst später ist mir klar geworden, daß das
an der Art der Übertragung lag. Fräulein G. sah in mir die Mutter.
Hier muß ich eine Bemerkung über das Es des Arztes einschieben.
Es war damals meine Gewohnheit, die wenigen Anordnungen, die ich
gab, mit absoluter Strenge - ich muß den Ausdruck gebrauchen -
Unerschrockenheit durchzusetzen. Ich gebrauchte die Redewendung:
„Sie müssen eher sterben, als irgend eine Verordnung übertreten",
und ich machte damit Ernst. Ich habe Magenkranke, die nach bestimmten
Speisen Schmerzen oder Erbrechen bekamen, so lange ausschließlich
gerade mit diesen Speisen genährt, bis sie es gelernt hatten, sie zu
vertragen, ich habe andre, die wegen irgend einer Gelenks- oder
Venenentzündung unbeweglich zu Bett lagen, gezwungen, aufzustehen
271
und zu gehen, ich habe Apoplektiker damit behandelt, daß idi sie
sich täglich bücken ließ und habe Menschen, von denen ich wußte,
daß sie in wenigen Stunden sterben würden, angekleidet und bin mit
ihnen spazierengegangen, habe es erlebt, daß einer von ihnen vor
der Haustür tot zusammenbrach. Diese Art, als kraftvoller, gütiger
Vater autoritative, unfehlbare, väterliche Suggestion zu treiben, kannte
idi von meinem Vater her, hatte sie bei dem größten Meister des
„Arzt- Vaterseins Schweninger gelernt und besaß wohl auch ein Stück
davon von Geburt her. In dem Fall des Fräulein G. verlief alles an-
ders, von vornherein anders. Ihre Einstellung mir gegenüber als Kind
- und zwar, wie sich später herausstellte, als dreijähriges Kind -
zwang mir die Rolle der Mutter auf. Bestimmte schlummernde Mutter-
kräfte meines Es wurden von dieser Kranken geweckt und gaben
meinem Verfahren ihre Richtung. Später, als ich mein eignes ärztli-
ches Handeln aufmerksamer prüfte, fand ich, daß derlei rätselhafte
Einflüsse mich schon oft in andre Einstellungen zu meinen Kranken
als die väterliche gedrängt hatten, obwohl ich bewußt und theoretisch
fest davon überzeugt war, der Arzt müsse Freund und Vater sein,
müsse herrschen.
Da stand ich nun auf einmal vor der seltsamen Tatsache, daß
nicht ich den Kranken, sondern daß der Kranke mich behandelt ; oder
um es in meine Sprache zu übersetzen, das Es des Nebenmenschen
sucht mein Es so umzugestalten, gestaltet es auch wirklich so um, daß
es für seine Zwecke brauchbar wird.
Schon diese Einsicht zu gewinnen, war schwer ; denn Sie begreifen,
daß damit mein Verhältnis zum Kranken gänzlich umgekehrt wurde.
Es kam nun nicht mehr darauf an, ihm Vorschriften zu geben, ihm
das zu verordnen, was ich für richtig hielt, sondern so zu werden, wie
der Kranke mich brauchte. Aber von der Einsicht bis zur Ausführung
der sich daraus ergebenden Folgerungen ist ein weiter Weg. Sie haben
diesen Weg ja selbst beobachtet, selbst gesehen, wie ich aus einem
aktiv eingreifenden Arzt ein passives Werkzeug geworden bin, haben
272
mich oft: deswegen getadelt und tadeln midi noch, bestürmen mich
immer wieder und wieder, hier zu raten, dort einzugreifen und
anderswo befehlend und führend zu helfen. Wenn Sie es doch lassen
wollten I Ich bin für die Helfertätigkeit unrettbar verloren, vermeide
es, einen Rat zu geben, gebe mir Mühe, jeden Widerstand meines
Unbewußten gegen das Es der Kranken und seine Wünsche so rasch
wie möglich aufzulösen, fühle mich glücklich dabei, sehe Erfolge und
bin selbst gesund geworden. Wenn ich etwas bedaure, so ist es, daß
der Weg, den ich gehe, allzu breit und gemächlich ist, so daß ich aus
purer Neugier und füllenartigem Übermut davon abbiege, mich in
Klüften und Sümpfen verliere und so mir selbst und meinen Schutz-
befohlenen Mühe und Schaden bringe. Mir kommt es vor, als ob das
Schwerste im Leben sei, sich gehen zu lassen, den Es-Stimmen des
Selbst und des Nebenmenschen zu lauschen und ihnen zu folgen.
Aber es lohnt sich. Man wird allmählich wieder Kind und Sie wissen :
So Ihr nicht werdet wie die Kinder, so könnt Ilir nicht in das Himmel-
reich kommen. Man sollte das Gernegroßsein mit fünfundzwanzig
Jahren aufgeben ; bis dahin braudit man es ja wohl, um zu wachsen,
aber nachher ist es doch nur für die seltenen Fälle der Erektion nötig.
Sich erschlaffen lassen und die Erschlaffung, das Schlaffsein, das Schlapp-
schwanzsein weder sich noch andern zu verbergen, darauf käme es an.
Aber wir sind wie jene Landsknechte mit dem Holzphallus, von denen
ich Ihnen erzählte.
Genug für heute. Es drängte mich längst, einmal ein Urteil von
Ihnen zu hören, wie weit ich im Kindwerden, in der Ent-Ichung ge-
kommen bin. Ich selbst habe das Gefühl, daß ich noch in den An-
fängen dieses meist Altern genannten Prozesses bin, der mir wie ein
Kindwerden vorkommt. Aber ich kann mich irren ; das Zornwort einer
Kranken, die mich nach zwei Jahren der Trennung wiedersah : „Sie
haben seelisches Embonpoint angesetzt," hat midi etwas zuversiditlicher
gemacht. Bitte, geben Sie Auskunft Ihrem getreuen
PATRIK TROLL.
18 G r o d d o c k, Das Buch vom Es 273
31.
ICH HÄTTE NICHT GEDACHT, DASS SIE SO SCHELTEN
können, Vereinteste. Klarheit verlangen Sie, nidits als Klarheit. Klar-
heit? Wenn mir die Es-Frage War wäre, würde ich glauben, Gott
selbst zu sein. Gestatten Sie mir, bescheidener von mir zu denken.
Lassen Sie mich dazu zurückkehren, wie ich Freuds Sdiüler
wurde. Nachdem mich Fräulein G. zu ihrem Mutter-Arzte ernannt
hatte, wurde sie zutraulicher. Sie ließ sich alle möglichen Hantierungen,
wie sie mein Gewerbe als Masseur mit sich brachte, ruhig gefallen,
aber die Schwierigkeiten der Unterhaltung blieben. Nach und nach ge-
wöhnte ich mir - aus Spielerei, wie mir schien - ihre umschreibende Aus-
drucksweise an und siehe da, nach einiger Zeit bemerkte idi zu meiner
höchsten Verwunderung, daß ich Dinge sah, die ich früher nicht ge-
sehen hatte. Ich lernte das Symbol kennen. Es muß sehr allmählich
gegangen sein, denn ich besinne midi nicht, bei welcher Gelegenheit
ich zuerst begriff, daß ein Stuhl nicht nur ein Stuhl, sondern eine
ganze Welt ist, daß der Daumen der Vater ist, daß er Siebenmeilen-
stiefei anziehen kann und dann als ausgestreckter Zeigefinger Erektions-
symbol wird, daß ein geheizter Ofen eine heißblütige Frau bedeutet
und das Ofenrohr den Mann, und daß die schwarze Farbe dieses
Rohrs unausspredilichen Schrecken verursacht, weil in dem Schwarz
der Tod ist, weil dieser harmlose Ofen den Geschlechtsverkehr eines
abgeschiedenen Mannes mit einer lebendigen Frau bedeutet
Was soll ich weiter davon sprechen? Ein Rausch kam über mich,
wie ich ihn nie vorher noch nachher erlebt habe. Das Symbol war
das erste, was ich von aller analytischen Weisheit lernte, und es hat
mich nicht wieder losgelassen. Ein langer, langer Weg von vierzehn
Jahren liegt hinter mir und wenn ich ihn zu überschauen suche, ist er
voll von seltsamen Funden der Symbolik, verwirrend voll, herrlich
bunt und schillernd vom Wechsel der Farben. Die Gewalt, mit der
mich diese Einsicht in die Symbole umänderte, muß ungeheuer ge-
wesen sein, denn sie trieb midi schon in den ersten Wochen meiner
274
Lehrzeit dazu, in der organischen Veränderung des menscblidien
Äußeren, in dem, was man physische organische Krankheit nennt, das
Symbol zu suchen. Daß das psychische Leben ein fortdauerndes Symboli-
sieren sei, war mir so selbstverständlich, daß ich ungeduldig die sich
aufdrängenden Massen neuer, für mich neuer Gedanken und Gefühle
wegdrängte und in toller Hast die Wirkung des Symbolzeigens in
Organerkrankungen verfolgte. Und diese Wirkungen waren für mich
Zauberwirkungen.
Bedenken Sie, ich hatte eine zwanzigjährige ärztliche Tätigkeit
hinter mir, die sich - ein Erbteil Schweningers - nur mit dironischen,
aufgegebenen Fällen beschäftigte. Ich wußte genau, was auf meinem
früheren Wege zu erreichen war, und ich schrieb das Mehr, das nun
entstand, ohne weiteres meiner Belehrung über die Symbole zu, die
ich wie einen Sturmwind über die Kranken dahinbrausen ließ. Es war
eine schöne Zeit.
Gleichzeitig mit den Symbolen lernte ich durch meine Kranke eine
andre Eigentümlichkeit menschlichen Denkens praktisch kennen, den
Assoziationszwang. Vermutlich haben dabei auch Einflüsse andrer
Herkunft, Zeitschriften, mündliche Mitteilungen, Klatsch mitgewirkt,
das Wesentliche aber kam von Fräulein G. Auch mit Assoziationen
beglückte ich sofort meine Klienten, es ist mir auch genug davon in
meinen ärztlidien Gewohnheiten haften geblieben, um damit Fehler
zu begehen, aber damals schien mir alles sehr gut.
So lange es dauerte. Schon bald traten Rückschläge ein. Irgend-
welche geheimnisvolle Kräfte stemmten sich mir plötzlich entgegen,
Dinge, die ich später unter I r e u d s Einfluß als Widerstände zu be-
zeichnen lernte; ich verfiel zeitweise wieder in die Methode des Be-
fehlcns, wurde dafür durch Mißerfolge bestraft und lernte schließlich
leidlich mich durchwinden. Alles in allem ging die Sache über Erwarten
gut und als der Krieg ausbrach, hatte ich mir ein Verfahren zurecht-
gebaut, das den Anforderungen meiner Praxis allenfalls entsprach.
Ich habe dann während der paar Monate Lazarettätigkeit mein
«" 275
dilettantisches wildes Analysieren, das ich übrigens noch jetzt bei-
behalten habe, an Verwundeten erprobt und habe gesehen, daß die
Wunde oder der Knocfaenbrucfa ebenso auf die Analyse des Es reagiert
wie die Nierenentzündung oder der Herzfehler oder die Neurose.
Soweit schreibt sich das ganz nett und angenehm und es klingt
wahrscheinlich. Aber mitten in dieser Entwicklung steht etwas Rätsel-
haftes: ein öffentlicher Angriff auf Freud und die Psychoanalyse.
Sie können ihn noch gedruckt lesen in einem Buch über den gesunden
und kranken Menschen. Ich habe mir immer eingebildet, daß ich die
Analyse von Fräulein G. gelernt habe, bilde es mir noch ein. Es kann
aber nicht wahr sein ; denn wie sollte ich sonst zu einer Zeit, wo ich
angeblich gar nichts von F r e u d wußte, seinen Namen gekannt haben ?
Daß ich nichts Richtiges über ihn wußte, ergibt sich aus dem Wortlaut
des Angriffs. Ich kann mir nichts Dümmeres denken als diesen Wort-
laut. Aber wo in aller Welt haben die Glocken gehangen, die ich
läuten hörte? Erst vor ganz kurzer Zeit ist es mir eingefallen. Die
erste Idee davon bekam ich viele Jahre, ehe ich Fräulein G. kennen lernte,
durch einen Artikel der „Täglichen Rundschau" und das zweitemal
hörte ich Freuds Namen und den Ausdruck : Psychoanalyse durch
das Geschwätz einer Kranken, die ihre Kenntnisse irgendwo auf-
gelesen hatte.
Die Eitelkeit hat mich lange daran gehindert, mich mit der wissen-
schaftlichen Psychoanalyse zu beschäftigen. Später habe ich versucht,
diesen Fehler wieder gut zu machen, hoffe auch, daß es mir leidlich
gelungen ist, wenn auch hie und da unausjätbares Unkraut in meinem
analytischen Denken und Handeln übrig geblieben ist Aber der Eigen-
sinn, nicht lernen zu wollen, hat auch seinen Vorteil gehabt In dem
blinden Dahintaumeln, das durch Kenntnisse nidit beschwert war, bin
ich von ungefähr auf die Idee gestoßen, daß es außer dem Unbewußten
des Gehirndenkens analoges Unbewußtes in andern Organen, Zellen,
Geweben usw. gibt, und daß sich bei dem innigen Zusammenschluß
dieser einzelnen Unbewußtwesen zum Organismus ein heilender Ein-
276
fluß auf jedes dieser Einzelwesen durch Analyse des unbewußten
Gehirns gewinnen läßt.
Sie müssen nicht denken, daß mir behaglich zumute ist, während
ich diese Sätze niederschreibe. Ich habe das dunkle Gefühl, daß sie
nicht einmal Ihrer hebenswürdigen Kritik standhalten, geschweige denn
einer ernsthaften Prüfung der Fachwissenschaft. Da es mir immer
leichter geworden ist, zu behaupten als zu beweisen, greife ich auch
hier zur Behauptung und sage : Auf dem Wege der Analyse läßt sich
jede Erkrankung des Organismus, gleichgültig, ob sie psychisch oder
physisch genannt wird, beeinflussen. Ob man im gegebenen Fall ana-
lytisch oder chirurgisch oder physikalisch, diätetisch oder medikamentös
verfahren soll, ist eine Zweckmäßigkeitsfrage. An sich gibt es kein
Gebiet der Medizin, auf dem sich Freuds Entdeckung nicht ver-
werten ließe.
Ihr Hinweis, liebe Freundin, daß ich praktischer Arzt bin und
mich Doktor nenne, ist so energisch gewesen, daß ich midi genötigt
sehe, ein wenig mehr von Krankheit zu plaudern, wie ich mir ihr
Zustandekommen und ihre Heilung vorstelle. Zunächst aber müssen
wir uns darüber einigen, was wir Krankheit nennen wollen. Ich denke,
wir kümmern uns nicht darum, was andre Leute darunter verstehen,
sondern stellen unsern eigenen Begriff auf. Und da schlage ich vor,
klar auszusprechen: Krankheit ist eine Lebensäußerung des mensch-
lichen Organismus. Nehmen Sie sich Zeit, darüber nachzudenken, ob
Sie dieser Formel zustimmen wollen oder nicht. Und gestatten Sic mir,
währenddessen so zu tun, als ob Sie meinen Satz billigten.
Vielleicht halten Sie die Frage nicht für besonders wichtig. Aber
wenn Sie, wie ich, sich dreißig Jahre lang Mühe gegeben hätten, Tag
für Tag so und so viel Menschen diesen einfachen Satz begreiflich zu
machen und doch Tag für Tag dreißig Jahre lang die Erfahrung ge-
macht hätten, daß er durchaus nicht in die Köpfe der Menschen
hineingeht, würden Sie mir beipflichten, wenn ich Wert darauf lege
daß Sie wenigstens ihn verstehen.
277
Wem, wie mir, Krankheit eine Lebensäußerung des Organismus
ist, der sieht in ihr nicht mehr einen Feind. Es kommt ihm nicht
mehr in den Sinn, die Krankheit bekämpfen zu wollen, er sucht sie
nicht zu heilen, ja er behandelt sie nicht einmal. Es wäre für mich
ebenso absurd, sie zu behandeln, als wenn ich Ihre Spottsucht dadurch
zu beheben suchte, daß ich die kleinen Bosheiten Ihrer Briefe säuber-
lich in ebensoviel Artigkeiten umschriebe, ohne Ihnen auch nur Mit-
teilung davon zu machen.
Mit dem Augenblick, wo ich einsehe, daß die Krankheit eine
Schöpfung des Kranken ist, wird sie für mich dasselbe, wie seine Art
zu gehen, seine Sprechweise, das Mienenspiel seines Gesichts, die
Bewegung seiner Hände, die Zeichnung, die er entworfen, das Haus,
das er gebaut, das Geschäft, das er abgeschlossen hat, oder der Gang,
den seine Gedanken gehen : ein beachtenswertes Symbol der Gewalten,
die ihn beherrschen und die ich zu beeinflussen suche, wenn ich es
für recht halte. Die Krankheit ist dann nichts Abnormes mehr, sondern
etwas, was durch das Wesen dieses einen Menschen, der krank ist
und von mir behandelt werden will, bedingt ist. Ein Unterschied be-
steht darin, daß die Schöpfungen des Es, die wir Krankheiten zu
nennen pflegen, unter Umständen für den Schöpfer selbst oder seine
Umgebung unbequem sind. Aber letzten Endes kann auch eine schrille
Stimme oder eine unleserliche Handschrift für Mensch und Neben-
menschen unerträglich sein und ein unzweckmäßig gebautes Haus
bedarf ebenso des Umbaues wie etwa eine Lunge, die entzündet ist,
so daß schließlich keine wesentliche Verschiedenheit zwischen der
Krankheit und dem Sprechen oder Schreiben oder Bauen zu finden
ist. Mit andern Worten, ich kann mich nicht mehr dazu entschließen,
mit einem Kranken anders zu verfahren als mit jemandem, der schlecht
schreibt oder spricht oder schlecht baut Ich werde versuchen, heraus-
zubekommen, warum und zu welchem Zweck sein Es sich des schlechten
Sprechens, Schreibens, Bauens, des Krankseins bedient, was es damit
sagen will. Ich werde mieb bei ihm, bei dem Es selbst erkundigen,
278
was für Gründe es zu seinem, mir und ihm selber unangenehmen
Verfahren hat, werde midi darüber mit ihm unterhalten und sehen,
was es dann tut. Und wenn eine Unterhaltung nicht genügt, so werde
ich sie wiederholen, zehnmal, zwanzigmal, hundertmal, so lange, bis
dieses Es die Unterredungen langweilig findet und entweder sein Ver-
fahren ändert oder sein Geschöpf, den Kranken, zwingt, mich zu ent-
lassen, durch Abbrechen der Behandlung oder durch den Tod.
Nun gebe ich zu, es kann notwendig sein, ist es sogar meist, ein
schlecht gebautes Haus so rasch wie möglich umzubauen oder nieder-
zureißen, einen Menschen, der eine Lungenentzündung hat, ins Bett
zu stecken, ihn zu pflegen, einem Wassersüchtigen etwa mit Digitalis
das Wasser wegzutreiben, einen zerbrochenen Knochen einzurenken
und unbeweglich zu madien, ein brandiges Glied abzuschneiden. Ja
ich habe sogar begründete Hoffnung, daß ein Architekt, dessen Neubau
sofort nadi der Übergabe an den Bauherrn umgebaut oder nieder-
gerissen wird, in sich gehen, seine Fehler einsehen, sie in Zukunft
vermeiden oder seinen Beruf ganz aufgeben wird, daß ein Es, wenn
es sein eignes Fabrikat, Lunge oder Knochen, geschädigt und dadurch
Schmerz und Leid erfahren hat, vernünftig wird und für später etwas
gelernt hat. Mit andern Worten, das Es kann sich selbst davon durch
Erfahrung überzeugen, daß es dumm ist, seine Kräfte in der Pro-
duktion von Krankheiten zu zeigen, statt sie zur Produktion eines
Liedes, eines Geschäftsgangs, einer Blasenentleerung oder eines Ge-
schlechtsakts zu benutzen. Aber das alles entbindet mich, dessen Es
mich zum Arzt hat werden lassen, nicht von der Notwendigkeit, wenn
Zeit dazu ist, die Gründe des krankheitsüditigen Es meines Neben-
menschen anzuhören, sie zu würdigen und wo es not tut und möglich
ist, zu widerlegen.
Die Sache ist wichtig genug, um sie noch einmal von einer andern
Seite zu beleuchten. Wir sind im allgemeinen gewöhnt, die Gründe
für unsre Erlebnisse, je nachdem es uns gefällt, in der Außenwelt
oder in unsrer Innenwelt zu suchen. Wenn wir auf der Straße aus-
279
gleiten, suchen und finden wir die Apfelsinensdiale, den Stein, die
äußere Ursache, die uns zu Fall gebracht hat. Wenn vir dagegen eine
Pistole nehmen und schießen uns eine Kugel vor den Kopf, so sind
wir der Ansicht, daß wir das aus inneren Gründen absichtlich tun.
Wenn jemand eine Lungenentzündung bekommt, so schieben wir das
auf die Infektion durch Pneumokokken, wenn wir aber vom Stuhl
aufstehen, durch das Zimmer gehen und aus dem Schrank Morphium-
gift holen, um es zu nehmen, so glauben wir aus inneren Gründen
zu handeln. Ich bin, wie Ihnen bekannt ist, stets ein Besserwisser ge-
wesen, und wenn mir jemand die berühmte Apfelsinenschale ent-
gegenhielt, die trotz aller Polizei Vorschriften auf der Straße lag und
den Armbrudi der Frau Lange herbeigeführt hatte, bin ich hinge-
gangen und habe sie gefragt: „Welchen Zweck verfolgen Sie damit,
den Arm zu brechen?" Und wenn mir jemand erzählte, der Herr
Treiner hat gestern Morphium genommen, weil er nicht schlafen
konnte, habe ich Herrn Treiner gefragt : »Wie und wodurch ist gestern
die Idee »Morphium* so stark in Ihnen geworden, daß Sie sich schlaflos
maditen, um Morphium nehmen zu können?" Bisher ist mir immer
Antwort auf solche Fragen geworden, was auch nicht allzu verwunder-
lich ist. Alle Dinge haben zwei Seiten, also kann man sie auch von
zwei Seiten betrachten, und überall wird man, wenn man sich Mühe
gibt, eine äußere und eine innere Ursache für die Geschehnisse des
Lebens finden.
Dieser Sport des Besserwissenwollens hat nun seltsame Folgen
gehabt. In der Beschäftigung damit bin ich immer mehr dazu verlockt
worden, die innere Ursache aufzusuchen, teils weil ich in eine Zeit
hineingeboren wurde, die vom Bazillus und nur vom Bazillus
schwatzte, wenn sie nicht gar noch die Wörter Erkältung und Magen-
verderben anbetete, teils weÜ sich frühzeitig - aus Troll-Hochmut
heraus - der Wunsch ausbildete, in mir ein Es, einen Gott zu finden,
den ich für alles verantwortlich machen könnte. Da ich aber nicht
schlecht genug erzogen war, um die Allmacht für midi allein zu be-
280
i
1
ansprudien, so vindizierte ich sie auch anderen Menschen, erfand
auch für sie das Ihnen so anstößige Es und konnte nun behaupten :
„die Krankheit kommt nicht von außen, der Mensch erschafft sie
selbst, benutzt die Außenwelt nur als Werkzeug, um sich damit krank
zu madien, greift aus seinem unerschöpflichen Instrumcntenlager der
ganzen Welt bald die Spirochäte der Syphilis, heute eine Apfelsinen-
schale, morgen eine GeMehrkugel und übermorgen eine Erkältung
heraus, um sich selbst damit ein Leid zuzufügen. Stets tut er es mit
dem Zweck der Lustgewinnung, weil er als Mensch von Natur Freude
am Leid hat, weil er als Mensch von Natur sich sündig fühlt und
das Gefühl der Schuld durch Selbstbestrafung fortschaffen will, weil
er irgendeiner Unbecjuemlichkeit ausweichen will. Meist ist ihm von
all diesen Seltsamkeiten nichts bewußt, ja in Wahrheit wird alles in
Tiefen des Es beschlossen und ausgefülirt, in die wir nie hinein-
schauen können, aber zwischen den unergründlichen Schichten des Es
und unserem gesunden Menschenverstand gibt es für das Bewußt-
sein erreichbare Schichten des Unbewußten, Schichten, die Freud be-
wußtseinsfähig nennt und in denen lassen sich allerhand nette Dinge
finden. Und was das Seltsamste ist, wenn man sie durchstöbert, ge-
schieht es nicht gar zu selten, daß plötzlich das da ist, was wir
Heilung nennen. Ohne daß wir das Geringste davon verstehen, wie
die Heilung zustande kommt, von ungefähr, ohne all unser Ver-
dienst und Würdigkeit, ich muß es immer wieder sagen.
Zum Schluß alter Gewohnheit gemäß eine Geschichte oder lieber
zwei. Die eine ist einfach genug und Sie werden es wahrscheinlich
albern finden, daß ich ihr Wert beimesse. Zwei Offiziere unterhalten
sich im Schützengraben von der Heimat und wie schön es wäre, einen
Schuß zu bekommen, der einem den nötigen Urlaub von einigen
. Wochen oder Monaten verschaffte. Einer von beiden ist damit nicht
zufrieden, er wünscht sich eine ausreichende Verletzung, die ihn
dauernd in die Heimat bringt und erzählt von einem Kameraden,
der durch das rechte Ellenbogengelenk geschossen und dadurch
un-
281
tauglidi für den Felddienst wurde. „So etwas wäre mir ganz recht ■
Eine halbe Stunde später ist sein rechtes Ellenbogengelenk durch-
schossen. Die Kugel traf ihn in dem Augenblick, wo er die Hand
zum Gruß erhob. Hätte er nicht gegrüßt, wäre das Gesdioß vorbei-
geflogen. Und er hatte es nicht nötig zu grüßen, denn dem Kame-
raden, dem sein Gruß galt, war er in den letzten zwei Stunden
schon dreimal begegnet. Sie brauchen der Sache keine Bedeutung
beizulegen ; es genügt, wenn ich mir meinen Vers darauf mache. Und
da ich die wohlüberlegte Absicht gehabt habe, möglichst oft zwischen
Verwundung und Verwundungs wünsch des Es innere Zusammen-
hänge zu finden, ist es mir nicht schwer geworden, sie in die Leute
hineinzureden. Basta.
Ein andrer Herr kam lange nach dem Kriege in meine Behand-
lung, es tut nichts zur Sache weshalb. Er litt unter anderm an
kurzen epileptischen Anfällen und bei der Beschreibung solcher An-
fälle erzählte er mir folgende Geschichte: Er war auch felddienst-
müde geworden und beschäftigte sich mit dem Gedanken, wie er
wohl ohne allzuschwere Folgen glücklich aus dem Schlamassel heraus-
kommen könne. Da fiel ihm ein - und auch dieser Einfall war
nicht zufällig, sondern durch kurz vorhergehende Eindrücke be-
dingt, deren Aufzählung zu weit führen würde - es fiel ihm ein,
wie er als Sekundaner von seinem allzu strengen Vater ge-
zwungen worden war, Schneeschuh zu laufen, wie unbequem ihm
das war und wie er seinen Kameraden, der sich beim Skilaufen die
rechte Kniescheibe gebrochen hatte und infolgedessen monatelang
aus der Schule bleiben mußte, beneidet hatte. Zwei Tage darauf war
er als Batteriechef in seinem Beobachtungsstand. Seine Batterie wurde
von drei französischen Batterien beschossen, einer leichten, die zu
kurz schoß, einer mittleren, die zu weit nach links schoß und einem
schweren Geschütz, dessen Granaten in regelmäßigen Zeitabständen
von genau fünf Minuten gerade zwischen der Batterie und seinem
Beobachtungsposten einschlugen. Wenn der Herr von So und So
282
seinen Stand sofort nach dem Platzen der schweren Granate verließ,
konnte er ohne jede Gefahr zu seiner Batterie hinübergehen, was
er auch zweimal tat. Da kam ein Befehl von den Herren hinten im
sicheren Posten, die Batterie des Herrn von So und So solle ihren
Platz wechseln. Er ärgerte sich weidlich über den Befehl, sehnte sich
wieder einmal nach dem Heimatschuß und verließ — Ja ich muß
glauben, was er mir sagte, und ich glaube es auch - verließ genau
in dem Augenblick seinen geschützten Stand, in dem die wohl-
bekannte Pause zwischen den scheren Granaten abgelaufen war. Der
Erfolg war befriedigend : zwei Sekunden später lag er mit zerschmet-
terter rechter Kniescheibe am Boden, bekam seinen Anfall und wurde,
zum Bewußtsein gekommen, hinter die Front getragen. - Natürlich
ist es ein Zufall. Wer könnte daran zweifeln? Aber die Sache hatte
ein kleines Nachspiel, dessentwegen ich Ihnen die Geschichte erzähle.
Der Herr von So und So hatte nämlich ein steifes Bein von jener
Zeit zurückbehalten, nicht ganz steif, aber dodi so, daß man beim
passiven Beugen des Gelenks bei etwa 2O auf einen Widerstand
stieß, der nach Aussage von Leuten, die es wissen mußten, da sie
gelernte Chirurgen und Meister im Röntgen waren, teilweise auch
recht achtbare Namen trugen, auf einer Narbenverwachsung an der
Kniescheibe beruhte. Am Tag nach jener Erzählung konnte der Herr
von So und So sein Knie bis auf 3O bringen, am folgenden Tag
noch etwas weiter und nach acht Tagen fuhr er Rad. Und war doch
nichts mit seinem Knie geschehen, als daß er davon gesprochen hatte
und auf die seltsamen Heilkuren des Es hingewiesen worden war.
Knien hat er aber nicht gelernt. Und das ist sdiade. Seine Mutter ist
eine fromme Frau und möchte gern, daß er wieder beten lernt, was
er als Kind mit vielem Eifer getan hat. Aber, es scheint, daß er mit
seinem Vater, nach dessen Bild er sich Gott geschaffen hatte, noch
allzu sehr zerfallen ist, um vor ihm die Knie zu beugen.
Ich muß Ihnen noch etwas erzählen: Ein junger Herr hat mich
neulich besucht, der war vor Jahr und Tag in meiner Behandlung.
2m
Er litt an einer entsetzlichen Angst, die ihn Tag aus Tag ein ver-
folgte. Als er zu mir kam, wußte er schon, daß es eine Kastrations-
angst sei, erzählte mir auch gleich im Anfang einen Kindheits träum,
wie zwei Räuber in die Koppel seines Vaters gekommen seien und
seinen Lieblingsrappen - der Herr hat im Gegensatz zu seinen beiden
Brüdern ganz schwarzes Haar - kastriert hätten. Als halbes Kind
noch - ich glaube mit neun Jahren - hat er sich einen Dauer-
schnupfen zugelegt, und es hat auch nicht lange gedauert, da hat
man ihm ein Stück aus der Nasenscheidewand herausgenommen. Ich
kenne das ; es ist ein Kniff des Es, den Vater symbolisch zu kastrie-
ren. Und zehn Jahre später hat er sich ohne jeden Grund beide
kleinen Zehen abnehmen lassen, im Symbol beide Brüder kastriert
Es hat aber nichts geholfen, seine Angst ist geblieben. Er ist sie erst
nach einer jahrelangen, mühseligen Analyse losgeworden. Komisch
an der Sache ist, daß dieser Herr die lebhafte Lustphantasie hat,
als Weib zu genießen, dabei aber doch heterosexuell im besonderem
Maße tätig sein möohte. Er hat es vorgezogen, seinen Wunsch,
kastriert, Weib zu werden, wie er sich im Traum ausspricht, gegen
Vater und Bruder zu kehren, büßt diesen bösen Wunsch mit der
Nasen- und Zehenoperation und mit der Angst.
Das Es macht wunderliche Streiche, macht gesund, macht krank,
erzwingt Amputationen heiler Glieder und läßt die Menschen in die
Kugel hineinlaufen. Kurz, es ist ein launisch unberechenbares, kurz-
weiliges Ding.
Herzlichst Ihr
PATRIK.
NEIN, LIEBE FREUNDIN, DIE ZEHEN SIND JENEM KRANKEN
nicht wieder gewachsen, trotz Es und Analyse. Das schließt aber nicht
aus, daß irgendwann einmal eine Methode gefunden wird, mit deren
Hilfe das Es veranlaßt werden kann, amputierte Glieder neu zu bilden
284
Die Experimente über das Wadistura von Organteilen, die aus dem
Organismus heraus gelöst sind, beweisen, daß mandics möglich ist,
was man vor dreißig Jahren für unmöglich hielt. Aber ich habe vor,
Ihrem guten Glauben noch viel Seltsameres zuzumuten.
Wie denken Sie zum Beispiel über das Ich? Ich bin Ich, das ist
ein lundamentalsatz unsers Lebens. Meine Behauptung, daß dieser
Satz, in dem sich das Ichgefühl des Menschen ausspridit, ein Irrtum
ist, wird die Welt nicht erschüttern, wie er es tun würde, wenn man
dieser Behauptung glaubte. Man wird ihr nicht glauben, kann ihr nidit
glauben, ich selbst glaube nicht daran, und doch ist sie wahr.
Ich ist durchaus nidit Ich, sondern eine fortwährend wediselnde
Form, in der das Es sich offenbart, und das Ichgefühl ist ein Kniff
des Es, den Menschen in seiner Selbsterkenntnis irre zu machen, ihm
das Sichselbstbelügen leichter zu machen, ihn zu einem gefügigeren
Werkzeug des Lebens zu machen.
Ich. Mit der Verdummung, die das Älterwerden mit sich bringt,
gewöhnen wir uns so an diese uns vom Es cingeblasene Größenidee,
daß wir die Zeit ganz vergessen, in der wir diesem Begriff verständnis-
los gegenüberstanden, in der wir von uns in der dritten Person
sprachen: „Emmy unartig, muß Schläge haben." „Panik gut gewesen,
Schokolade." Welcher Erwachsene könnte sich solcher Objektivität
rühmen.
Ich will nicht behaupten, daß der Begriff Ich, der Begriff der
eigenen Persönlichkeit erst in dem Moment entsteht, wo das Kind
dieses Sdiibboleth der geistigen Verarmung aussprechen lernt. Aber
so viel kann man doch wohl behaupten, daß das Bewußtsein des Idi,
die Art, wie wir Erwachsenen den Begriff Ich gebrauchen, nicht mit dem
Menschen geboren wird, sondern ganz allmählich in ihm wächst, daß
er es erlernt.
Sie müssen mir schon gestatten, ein wenig über die Dinge weg zu
schreiben. Kein Mensch kann sich in dem Wust des Ich zurecht finden,
auch in den fernsten Zeiten wird niemand das fertig bringen.
285
14 spreche absichtlich von dem Ichbewußtsein, wie wir Erwachsenen
« empfinden. Es ist „ämlich durchaus nicht sicher, daß das neu-
geborene Kind des Bewußtseins, eine Individualität zu sein, entbehrt,
la, td, hm geneigt, anzunehmen, daß es ein solches Bewußtsein hat,
nur daß es sich nicht sprachlich äußern kann. Ich glaube sogar, daß
em solches Individualitätsbewußtsein auch dem Embryo zukommt, ja
selbst dem befruchteten Ei, dem unbefruchteten auch, ebenso wie dem
Samenfaden find daraus ergibt sich für mich, daß auch Jede einzelne
U le em solches Individualitätsbewußtsein hat, jedes Gewebe ebenso,
Jedes Organ auch und jedes Organsystem desgleichen. Mit andern
Worten: jede Es-Einheit kann, wenn sie Lust dazu hat, sich selbst
weismachen, sie sei eine Individualität, eine Person, ein Ich.
Ich weiß, diese Betrachtungsart verwirrt aUe Begriffe, und wenn
Sie den heutigen Brief ungelesen fordegen, so wundere ich mich nicht
darüber. Abec- ldl muß es doch aussprechen, daß ich glaube, die
menscbhche Hand hat ihr eigenes Ich, sie weiß, was sie tut, und sie
ist steh auch dieses Wissens bewußt Und jede NierenzeUe und jede
Nagelzelle hat ebenso ihr Bewußtsein und ihr bewußtes Handeln
ihr Ichbewußtsein. Beweisen kann ich das nicht, aber ich glaube es'
deshalb, weil ich Arzt bin und gesehen habe, daß der Magen auf
bestunmte Nahrungsmengen in ganz bestimmter Weise antwortet, daß
er in Art und Menge seiner Absonderungen bedachtsam vorgeht er-
wagt, was ihm zugemutet werden wird, und danach seine Maßnahmen
tafft, daß er Auge, Nase, Ohr, Mund und so weiter als seine Organe
benutzt, um damit festzusteUen, was er tun wiB. Ich glaube es deshalb
wed eme Lippe, die nicht küssen wiB, während das Ich des Menschen
den Kuß begehrt, sich wund macht, eine Blase bildet, sich entsteht
Aren etgenen gegensätzlichen Willen to nicht mißzuverstehender Weise'
erfolgreich genug, äußert. Ich glaube es deshalb, weil ein Penis gege n
Z 2 TT e T hnten ***** m " H ^»'^en proper«
Sex, 1 , , T geWidtSame M"****"* durch den begehrlichen
Sexnaltrteb dadurch rächt, daß er sich mit Trippergif, oder Syphß"
286
gift anstecken läßt ; weil eine Gebärmutter hartnäckig die Schwanger-
schaft versagt, obwohl das bewußte Ich der Frau sie so innig wünscht,
daß sie sich behandeln oder operieren läßt; weil eine Niere den
Dienst versagt, wenn sie findet, daß das Ich des Menschen Unbilliges
verlangt : und weil, wenn es gelingt, das Bewußtsein der Lippe, des
Magens, der Niere, des Penis, der Gebärmutter zu dem Willen des
Gesamt-Ichs zu überreden, alle ihre feindlichen Äußerungen, ihre
Krankheitssymptome verschwinden.
Ich muß, um in meinen ohnehin unklaren Äußerungen von Ihnen
nicht gänzlich mißverstanden zu werden, noch eines ausdrücklich
betonen : dieses von mir für die Zellen, die Organe usw. beanspruchte
Ich ist mir nicht etwa dasselbe wie das des Es. Durchaus nicht. Viel-
mehr ist dieses Ich nur ein Produkt des Es, etwa wie die Gebärde
oder der Laut, die Bewegung, das Denken, Bauen, Aufrechtgehen,
Krankwerden, Tanzen oder Radfahren ein Produkt des Es ist. Die
Es-Einheit betätigt ihr Lebendigsein einmal auf diese, ein andermal
auf jene Weise : dadurdi, daß sie sich in eine Harnzelle verwandelt oder
einen Nagel bilden hilft oder ein Blutkörperchen wird oder eine
Krebszelle oder sich vergiften läßt oder einem spitzen Stein ausweicht
oder sich irgendeines Phänomens bewußt wird. Gesundheit, Krankheit,
Talent, Tat und Gedanke, vor allem aber das Wahrnehmen und
Wollen und das Sichbewußtwerden sind nur Leistungen des Es, Lebens-
äußerungen. Über das Es selbst wissen wir nichts.
Das alles ist ziemlich verwickelt. Denn wenn Sie sich vorstellen,
wie die Es-Einheiten und Gesamtheiten gegen- und miteinander wirken
und wie sie sich bald hier, bald da, jetzt so und jetzt anders zusammen-
schließen und trennen, wie sie bald vom Gesamt-Ich Gebrauch machen,
um etwas bewußt werden zu lassen und zugleich dieses oder jenes ins
Unbewußte zu verdrängen, wie sie einiges dem Gesamtbewußtsein zu-
führen, andres wieder bloß dem der Teil-Ichs, wie sie wieder andres
in Kammern einschließen, aus denen es mit Hilfe der Erinnerung
oder Überlegung herausgeholt und dem Gesamtbewußtsein zugeführt
287
werden kann, während der weitaus größte Teil des Lebens, Denkens,
Empfindens, Wahrnehmens, Wollens, Handelns in unerforsdibaren
Tiefen vor sich geht, wenn Sie das alles bedenken, werden Sie eine
leichte Ahnung davon bekommen, wie anmaßend es ist, irgend etwas
verstehen zu wollen. Aber Gott sei Dank ist ein Verstehen auch nicht
nötig, Verstehenwollen nur hinderlich. Der menschliche Organismus
ist so seltsam eingeriditet, daß er - wenn es ihm behebt, sonst nicht
- auf ein leises Wort, ein freundliches Lächeln, einen Druck der
Hand, einen Messerschnitt, einen Eßlöffel Fingerhuttee mit Leistungen
antwortet, die nur deshalb nicht angestaunt werden, weil sie alltäglidi
sind. Ich habe mich in allerhand Arten ärztlichen Handelns betätigt,
bald so, bald so und habe gefunden, daß alle Wege nach Rom
führen, die der Wissenschaft und die des Pfuscfaertums, halte es daher
auch nicht für besonders wichtig, welchen Weg man geht, voraus-
gesetzt, daß man Zeit hat und nicht ehrgeizig ist. Es haben sich dabei
in mir Gewohnheiten ausgebildet, denen gegenüber ich machtlos bin,
denen ich folgen muß, weil sie mir lobenswert erscheinen. Und unter
diesen Gewohnheiten steht obenan die Psychoanalyse, das heißt der
Versuch, Unbewußtes bewußt zu machen. Andre machen es anders.
Ich bin mit meinen Erfolgen zufrieden.
Aber ich wollte vom Ich reden und von seiner Mannigfaltigkeit.
Man pflegt ja unter dem Wort nur das zu verstehen, was ich vorbin
das Gesamt-Ich nannte, dessen ich mich als Angriffspunkt bei meinen
psychoanalytischen Experimenten bediene und auch einzig bedienen
kann. Aber auch dieses Gesamt-Ich hat seine Sonderbarkeiten, die
jedermann kennt, jedoch ihrer Selbstverständlichkeit halber selten be-
achtet. Das Gesamt-Ich - nennen wir es jetzt einfach Ich - ist kein
leicfatüberschaubares Wesen. Innerhalb weniger Minuten dreht es die
verschiedensten Seiten seiner überaus zerklüfteten und schillernden
Oberfläche uns zu. Bald ist es ein Ich, das aus unsrer Kindheit
stammt, bald eins der Zwanziger Jahre, bald ist es moralisch, bald
sexuell, bald das eines Mörders. Jetzt ist es fromm, im Augenblick
288
darauf frech, morgens das eines Offiziers oder Beamten, ein Berufs-
Idi, mittags ist es viellcidit ein Ehe-Idi und abends das eines Karten-
spielers oder eines Sadisten oder eines Denkers. Wenn Sie erwägen,
daß alle diese Ichs - und man könnte ungezählte Mengen davon her-
sagen - daß sie alle gleichzeitig im Menschen vorhanden sind, können
Sie sich vorstellen, was für eine Madit das Unbewußte im Ich ist, wie
aufregend seine Beobaditung ist, welch unsagbare Freude es ist, dieses
Ich - mag es bewußt oder unbewußt uns gegenüberstehen - zu be-
einflussen. Ach, liebe Freundin, erst seit idi midi mit der Analyse
beschäftige, weiß ich, wie schön das Leben ist. Und es wird täglich
sdiöner.
Darf ich Ihnen etwas sagen, was mich immer wieder in Erstaunen
setzt? Das Denken des Mensdhen — das Es-Denken oder wenigstens
das unbewußte I<h-Leben - scheint sich in Kugelform zu bewegen. So
kommt es mir vor. Lauter schöne runde Kugeln sehe idi. Wenn man
eine Anzahl Wörter, so wie sie einem einfallen, hinsdireibt und ansieht,
fügen sie sich ganz von selbst zu einer kugeligen Phantasie, zu einer
Dichtung in Kugelform zusammen. Und wenn man seinen Neben-
mensdien dasselbe tun läßt, wird es audi eine Kugel. Und diese
Kugeln rollen dahin, drehen sidi rasch oder langsam und schimmern
in tausend Farben ; in Farben so sdiön wie die, die wir mit geschlos-
senen Augen sehen. Es ist eine Pracht. Oder um es anders auszu-
drücken, das Es zwingt uns, in geometrisdien Figuren zu assoziieren,
die sich - farbig - ähnlich zusammenfügen, wie es bei den niedlidien,
optischen Instrumenten der Fall ist, bei deren Drehung aus farbigen
Ciasstücken sich immer neue Figuren bilden.
Nun sollte ich Ihnen etwas über die Entstehung der Krankheiten
sagen, aber darüber weiß idi nidits. Und über die Heilung müßte idi
audi sprechen, wenn es nach Ihnen ginge. Alier darüber Aveiß ich erst
redit nidits. Beides nehme ich als gegebene Tatsachen hin. Höchstens
von der Behandlung könnte ich etwas sagen. Und das will ich auch
tun.
19 Groddock, Das Buch vom Es 289
Das Ziel der Behandlung, jeder ärztlidien Behandlung ist, Einfluß
auf das Es des Menschen zu gewinnen. Im allgemeinen ist es Ge-
brauch, zu diesem Zweck bestimmte Gruppen von Es-Einheiten direkt
zu behandeln ; man greift sie mit dem Messer oder mit chemischen
Substanzen, mit Licht und Luft, Wärme und Kälte, elektrischen Strö-
men oder irgend welchen Strahlen an. Mehr als irgend welche Eingriffe
versuchen, von denen niemand voraussagen kann, was die Folgen
sein werden, vermag kein Mensch. Was das Es auf solchen Eingriff
hin tun wird, läßt sich oft mit einiger Bestimmtheit sagen, oft nehmen
wir nur infolge irgend welcher vager Hoffnungen an, das Es werde
artig sein, unsern Eingriff gutheißen und seinerseits die heilenden
Kräfte in Bewegung setzen, meist aber ist es nur ein blindes Tappen,
dem selbst die mildeste Kritik keinen Sinn anzudichten vermag. Im-
merhin ist dieser Weg gangbar und die Erfalirungen von Jalirtausen-
den beweisen, daß dabei Resultate, günstige Resultate erzielt werden.
Nur muß man nicht vergessen, daß nicht der Arzt die Heilung zu-
stande bringt, sondern der Kranke selbst. Der Kranke heilt sich selbst,
aus eigener Kraft, genau so wie er aus eigener Kraft geht, ißt, denkt
atmet, sdiläft.
Im allgemeinen hat man sidi mit dieser Art der Krankheits-
behandlung, die man, weil sie sich mit den Krankheitserscheinungen,
den Symptomen besdiäftigt, symptomatische Behandlung nennt, be-
gnügt. Und kein Mensch wird behaupten, daß man darin nicht recht
getan hat. Aber wir Ärzte, die wir von Berufs wegen dazu verurteilt
sind, Herrgott zu spielen und infolgedessen zu anmaßlichen Wün-
schen neigen, sehnen uns danach, eine Behandlung zu erfinden, die
nicht das Symptom, sondern die Ursache der Erkrankung beseitigt.
Wir wollen kausale Therapie treiben, so nennen wir es im medizini-
schen Latein-Griechisch. In diesem Streben hat man sich nun nach
diesen Ursachen der Erkrankung umgesehen, hat erst theoretisch unter
Aufwand von viel Worten festgestellt, daß es zwei angeblich wesens-
fremde Ursachen gibt, eine innere, die der Mensch aus sich heraus-
290
gibt, eine causa interna, und eine causa externa, die aus der Umwelt
stammt. Und nadidem man sidi so über eine reinliche Zweiteilung
einig geworden ist, hat man sich mit einer wahren Wut auf die
äußeren Ursachen gestürzt, als da sind : Bazillen, Erkältungen, zu viel
Essen, zu viel Trinken, Unfälle, Arbeit und was es sonst noch gibt.
Und die causa interna hat man vergessen. Warum ? Weil es sehr un-
angenehm ist, in sich hineinzuschauen - und nur in sich findet man
einige Fünkchen, die das Dunkel der inneren Ursachen, der Disposi-
tion erhellen - weil es etwas gibt, was die Freudsche Analyse Wider-
stand der Komplexe nennt, der Ödipuskomplexe, Impotenzkomplexe,
Onaniekomplexe usw., und weil diese Komplexe furchtbar sind. Aller-
dings hat es immer und zu allen Zeiten Ärzte gegeben, die ihre
Stimme erhoben haben, um zu sagen : der Mensch macht seine Krank-
heiten selbst, in ihm liegen die causae internae, er ist die Ursache der
Krankheit und eine andre braucht man nicht zu sudien. Zu solchem
Spruch hat man mit dem Kopf genickt, hat ihn wiederholt und ist
wiederum den äußeren Ursachen zu Leibe gegangen, mit Prophylaxe
und Desinfektion und so weiter. Dann aber sind Leute gekommen,
die haben eine starke Stimme gehabt und haben unablässig ge-
schrieen : Immunisieren ! Das war nur eine Betonung der Wahrheit,
daß der Kranke selber seine Krankheit schafft. Aber als es an die
praktische Handhabung des Immunisierens ging, hielt man sich doch
wieder an die Symptome und aus der scheinbaren kausalen Behandlung
war unversehens eine symptomatische geworden. So ist es auch mit der
Suggestion gegangen, und um das gleich zu sagen, so ist es auch mit
der Psychoanalyse. Auch die benutzt die Symptome, ausschließlich die
Symptome, obwohl sie weiß, daß der Mensch allein die Ursache der
Krankheit ist.
Und damit bin idi beim springenden Punkt. Man kann gar nidit
anders als symptomatisch behandeln und man kann audi nicht anders
als kausal behandeln. Denn beides ist dasselbe. Es existiert gar kein
Unterschied zwischen den beiden Begriffen. Wer behandelt, behandelt
19*
291
die causa interna, den Menschen, der die Krankheit aus seinem Es
heraus erschuf, und um ihn zu behandeln, muß der Arzt die Sym-
ptome beachten, sei es daß er mit Hörrohr und Röntgenapparat ar-
beitet, sei es daß er zusieht, ob die Zunge belegt oder der Urin trübe
ist, sei es daß er ein schmutziges Hemd betrachtet oder ein paar ab-
geschnittene Haare. Es ist im Wesen dasselbe, ob man mit aller Sorg-
falt jedes Krankheitszeichen durchstöbert oder sich damit begnügt,
einen Brief des Kranken zu lesen oder die Linie seiner Hand zu be-
trachten oder mit ihm somnambul zu verhandeln. Immer ist es ein
Behandeln des Menschen und damit seiner Symptome. Denn der
Mensch, seine Erscheinung ist Symptom des Es, dieses Gegenstandes
aller Behandlung, sein Ohr ist ein Symptom, ebenso wie das Rasseln
in seinen Lungen, sein Auge ist ein Symptom, Äußerung des Es, so
gut wie der Scharlachausschlag, sein Bein ist Symptom im selben
Sinne wie das Knirschen der Knochen, das den Bruch des Beines an-
zeigt.
Wenn nun alles dasselbe ist, werden Sie fragen, was hat es dann
für einen Zweck, daß Patrik Troll solch langes Buch schreibt, dessen
Sätze so klingen, als ob sie beanspruchten, neue Gedanken zu sein.
Nein Liebe, sie beanspruchen das gar nicht, sie klingen nur so. In
Wahrheit bin ich überzeugt, daß ich mit der Psychoanalyse nichts
andres tue als früher, wo ich heiße Bäder gab, Diäten verordnete,
massierte und herrisdi befahl, was alles ich auch jetzt nodi tue. Das
Neue ist nur der Angriffspunkt der Behandlung, das Symptom, das
mir in allen Verhältnissen da zu sein sdieint, das Ich. Meine Behand-
lung, so weit sie nidit dieselbe ist wie früher, besteht in dem Ver-
such, die unbewußten Komplexe des Ich bewußt zu machen, metho-
disch und mit aller List und Kraft, die mir zur Verfügung steht. Das
ist allerdings etwas Neues, aber es stammt nicht von mir, sondern
von Freud, und was ich dazu getan habe ist nur, daß ich diese Me-
thode auch bei organischen Leiden verwende. Da ich der Ansicht bin,
daß der Gegenstand ärztlicher Tätigkeit das Es ist, da ich der An-
292
' " ' A
sieht bin, daß dieses Es in selbstherrlicher Kraft die Nase formt, die
Lunge entzündet, den Mensdien nervös macht, ihm Atmung, Gang,
Tätigkeit vorschreibt, da idi weiter hin glaube, daß sich das Es ebenso
durch Bewußtmachen unbewußter Idi-Komplexe beeinflussen läßt wie
durdi einen Baudischnitt, so begreife ich nicht - richtiger begreife ich
es nicht mein* - wie irgend jemand glauben kann, Psychoanalyse
sei nur bei Neurotikern verwendbar, organische Erkrankungen müsse
man nach andern Methoden behandeln.
Gestatten Sie mir, daß ich darüber ladie.
Immer Ihr
PATRIK TROLL.
33-
DAS WAR EIN ERLÖSENDES WORT : „ICH HABE ES SATT,
Ihre Briefe zu lesen," sdireiben Sie, und ich füge hinzu : „Ich habe
es satt, sie zu schreiben." Leider sprechen Sie nodi den Wunsch aus
- und Ihr Wunsch ist mir Befehl - idi solle kurz und bündig sagen,
was ich mir unter dem Wort „Es" vorstelle. Idi kann es nicht besser
ausdrücken, als ich es schon früher getan habe : „Das Es lebt den
Mensdien, es ist die Kraft, die ihn handeln, denken, wadisen, gesund
und kränk werden läßt, kurz die ihn lebt."
Aber mit solcher Definition ist Ihnen nichts geholfen. Ich will
daher zu meinem bewährten Mittel greifen und Ihnen Geschiditen
erzählen. Sie müssen dabei nur bedenken, daß meine Erzählungen
aus weitläufigen Zusammenhängen herausgenommen sind, daß es
Zwischenfälle langwieriger Behandlungen sind. Sonst kommen Sie gar
auf die Idee, daß ich mich für einen Wunderdoktor halte. Davon ist
keine Rede : im Gegenteil, je länger ich Menschen behandle, um so
fester wurzelt sich in mir die Überzeugung, daß der Arzt ver-
schwindend wenig zur Heilung seiner Kranken tun kann, daß der
Kranke sich selbst heilt und daß der Arzt, auch der Analytiker, nur
die eine Aufgabe hat zu erraten, welche List das Es des Kranken im
Augenblick gebraudit, um krank bleiben zu können.
293
Es ist nämlich ein Irrtum anzunehmen, daß der Kranke zum
Arzt kommt, um sich helfen zu lassen. Nur ein Teil seines Es ist
av illig zur Gesundheit, ein andrer aber will krank bleiben und lauert
während der ganzen Zeit auf eine Gelegenheit, um sich vom Arzte
schädigen zu lassen. Der Satz, daß die vornehmste Regel in der Be-
handlung ist, nicht zu schaden, hat sich mir mit den Jahren immer
tiefer eingeprägt, ja, ich bin geneigt zu glauben, daß in Wahrheit
jeder Todesfall während einer Behandlung, jede Verschlimmerung des
Zustandes auf einen Fehler des Arztes zurückzuführen ist, zu dem
er sich durch die Bosheit des kranken Es verleiten läßt. Adi, es ist
nichts Göttliches in unserm Tun, und der Wunsch wie Gott zu sein,
der uns ja letzten Endes dazu treibt, Arzt zu sein, rächt sich an uns
wie an unsern paradiesischen Voreltern. Strafe, Fluch und Tod ziehen
in seinem Gefolge.
Hier ist ein jüngst erlebtes Beispiel dafür, welche Stellung das
tief verborgene Es eines Kranken gegen mich hatte, während sein
bewußtes Ich bewundernd und dankbar auf mich blickte. Es sind
zwei Träume einer Nacht, die des Lehrreichen genug enthalten. Zu-
nächst sagte der Kranke, daß er vom ersten Traum nichts mehr
wisse. Da er aber längere Zeit bei diesem vergessenen Traum blieb,
ließ sich annehmen, daß in ihm der Schlüssel des Rätsels stecke. Idi
habe eine lange Zeit geduldig gewartet um zu sehen, ob nicht doch
irgendwelche Erinnerung komme. Aber sie kam nicht, und schließlich
forderte ich den Kranken auf, irgendein beliebiges Wort zu sagen.
Solch ein kleiner Kunstgriff lohnt sich manchmal. Ich habe zum Bei-
spiel einmal erlebt, daß bei einer ähnlichen Situation das Wort
Amsterdam genannt wurde, und daß um dieses eine Wort sich un-
gefähr ein Jahr lang eine erfolgreiche, erstaunlich erfolgreiche Be-
handlung drehte. Dieser Kranke nun nannte das Wort Haus und
erzählte mir, daß er am vorhergehenden Tage sich mein Sanatorium
von außen angesehen habe, daß ein gänzlich unmotivierter Turm da
sei, eine Brücke als Notbehelf angebracht sei, weil das Haus an einem
294
falsdien Platz stehe und daß es ein häßliches Dach habe. Idi kann
nicht bestreiten, - und da Sie das Haus kennen, werden Sie mir bei-
stimmen - der Mann hatte Redit. Und doch bezog sidi seine Be-
trachtung auf ganz andre Dinge, auf viel wichtigere, auf Dinge, die
für ihn und für meine Behandlung entscheidend waren. Das lehrte
der zweite Traum. Der Kranke erzählte: „Es ist ein ganz dummer
Traum" und dabei lachte er. „Ich wollte einen Besuch in einem
Hause machen, das einem Schuster gehörte. Vor dem Hause rauften
sich zwei Knaben, der eine lief heulend weg. Der Schuster hieß
Akeley. Kein Mensch war zu sehen, allmählidi kamen einige Dienst-
boten, aber der Schuster, dem idx Visite machen wollte, ließ sidi
nicht sehen. Dagegen ersdiien nadi einiger Zeit ein alter Freund
meiner Mutter, sonderbarerweise mit einem schwarzbehaarten Kopfe,
während er in Wirklichkeit vollständig kahl ist." Hätte der Kranke
beim Erzählen nidit geladit, hätte er nicht vorher den Tadel gegen
das Äußere meines Sanatoriums vorgebracht, vielleicht hätte idi
Wochen zubringen können, ehe die Deutung gekommen wäre. So
aber ging es rasch. Das Wort Akeley gab die erste Aufklärung. Es
war aus einem kürzlich erschienenen Werk von Arno Holz ge-
nommen, das den Titel „Die Bledisdimiede" führt. Es sei höchst
geistreicher, erotischer Blödsinn.
Der Hohn gegen meine Person lag auf der Hand, da der Kranke
kurzvorher meinen vom gemeinsamen Freunde Groddeck heraus-
gegebenen Seelensucher gelesen hatte. Das also war die „Blech-
schmiede", der Schuster Akeley war ich, das Schusterhaus mein
Sanatorium. Das ging audi daraus hervor, daß der Kranke tat-
sächlich bei seiner Ankunft im Sanatorium eine ganze Weile im
Korridor hat stehen müssen, ehe jemand ihm sein Zimmer anwies.
Midi selbst hat er erst am nädisten Tage gesehen. Dergleidien Be-
urteilung des behandelnden Arztes ist in jedem Kranken und immer
da und die Konstanz des abfälligen, nur verdrängten Urteils beweist,
daß wir es verdienen. Ich würde den Traum nicht erzählt haben,
295
wenn in ihm nicht auch der Grund angegeben wäre, warum der
Kranke mich verachtet. Statt des Schusters erscheint im Traum ein
alter Freund seiner verstorbenen Mutter, der seltsamerweise schwarzes
Haar hat. Dieser Freund der Mutter stellt den Vater dar, der schwarz
behaart ist, weil er ebenfalls tot ist. Der Haß gilt also nicht mir,
sondern zunächst diesem Freunde der Mutter und hinter dem dem
eigenen Vater. Es ist eine Verdichtung dreier Personen, die deutlich
zeigt, welches gerüttelte Maß von Widerstand mein Patient auf mich
übertragen hat. Aber der Freund der Mutter ist auch der Kranke
selber, der sich eines üppigen, schwarzen Haarwuchses erfreut. Sein
Unbewußtes erzählt ihm im Traum, wie ganz anders es sein würde,
wenn an Stelle des Schusters Troll er selbst die Behandlung leitete.
Er hat so unrecht nicht, der Kranke weiß immer besser als der Arzt,
was ihm frommt ; nur leider vermag er sein Wissen nicht zu denken,
sondern nur in Traum, Bewegung, Kleidung, Wesen, Krankheits-
symptom auszudrücken, kurz in einer Sprache, die er selbst nicht
versteht. Und freilich erzählt diese Identifizierung seiner selbst mit
dem Freunde der Mutter und mit dem Vater mehr, als der Kranke
ahnte. In ihr steckt der Inzestwunsch, der Wunsch der Kindheit,
jedes Kindes Wunsch, Geliebter der Mutter zu sein. Und nun kommt
eine seltsame Wendung. Mit einem heiteren, gar nicht spöttischen
Lächeln sagt der Kranke : der Freund der Mutter hieß Lameer, er
war Vläme, sein Name hat nichts mit la mere, die Mutter, zu tun.
Wirklich nidxt ? Ich glaube doch. Und das ist tröstlidi für die
Behandlung ; denn wenn der Kranke mich nicht nur mit dem Freund
und Gatten der Mutter identifiziert, sondern mit der Mutter selbst,
so hat er auch das Gefühl für sie auf mich übertragen, ein Gefühl,
das sich seit seinem sechsten Jahr nicht mehr wesentlich geändert
haben kann, da damals seine Mutter starb. Vielleicht ist das günstig,
vorausgesetzt, daß eine Einstellung zur Mutter gut war, daß er von
ihr Hilfe empfing. Aber wer kann das wissen? Es kann auch sein,
daß er auch sie mehr haßte als liebte.
296
Da muß ich auf den Beginn des Traumes zurückgreifen, auf die
beiden raufenden Knaben vor dem Schusterhause. Sie sind leicht zu
deuten. Sie stellen dasselbe in zwei verschiedenen Zeitfolgen dar, der
eine den Phallus im Zustand der Erektion, der zweite, der weinend
davonrennt, das Glied im Zustand der Ejakulation. Hinter dieser
ersten Deutung steckt die zweite, nach der der eine Knabe der
Träumer, der zweite Weinende der Bruder des Träumers ist, den er
aus der Gunst der Eltern vertrieben hat. Und als dritte tiefstgele-
gene Deutung ist der eine Knabe der Träumer selbst, der den andern,
seinen Penis, masturbiert. Diese Selbstbefriedigung findet vor dem
Hause des Schusters statt, die erotischen Phantasien des Träumers
gelten aber, wie der weitere Verlauf des Traumes zeigt, nicht nur
dem Schuster, sondern dem Freund der Mutter, das ist der Vater
und hinter ihm, wohl versteckt, der Mutter selbst, Lameer.
Ich erzähle Ihnen den Traum, weil in ihm der Träumer die An-
griffspunkte der Behandlung mitteilt, ohne es selbst zu wissen. Zu-
nächst verkündet er dem aufmerksamen Zuhörer, längst, ehe der
Kranke es selbst klar weiß, daß ein starker Widerstand gegen den
Arzt vorhanden ist, daß also wieder einmal der Punkt erreidit ist,
der für die Behandlung, ich möchte sagen einzig und allein in Frage
kommt. Denn im bewußten oder unbewußten Erkennen und Be-
seitigen des Widerstandes bestellt im Wesentlichen die Tätigkeit des
Arztes, die um so ersprießlidier sein wird, je klarer der Arzt die
Situation erblickt. Weiterhin erzählt der Traum, von wo der Wider-
stand übertragen worden ist. Er stammt aus der feindseligen Ein-
stellung zum Freunde und Gatten der geliebten Mutter und weiter
vorher noch aus dem Rivalitätsstreit der beiden Brüder vor dem
Eingang zur Mutter, die hinter mehreren Verschleierungen versteckt
doch deudidi die eigentlidie Besitzerin des Hauses, des Sanatoriums,
in dem man gesundet, des Muttersdioßes, in den man eintritt, ist.
Schließlich verrät der Kranke auch noch die Komplexe, um die es
sich bei ihm handelt, den des ödipus und den der Onanie.
297
Da haben Sie eine Probe von der Art, wie sioh das Unbewußte,
das Verdrängte verständlidi zu madien sudit. Aber idi trage Eulen
nach Athen : denn Sie schreiben mir ja, daß Sie Freuds Traum-
deutung gelesen haben. Lesen Sie sie noch einmal und noch mehrere
Male ; Sie werden belohnt werden, wie Sie es selbst nicht ahnen.
Jedenfalls ist es überflüssig, daß ich mich weiter auf ein Gebiet be-
gebe, das der Meister selbst und mit ihm Tausende seiner Gefolg-
schaft in immer neuen Schilderungen jedem, der es betreten will, dar-
gestellt haben. Audi die folgende kleine Erzählung bewegt sich in
Bahnen, die Ihnen bekannt sind oder bekannt sein sollten.
Es handelt sich um ein kleines Mädchen von acht Jahren, das
sich seit einiger Zeit vor der Schule fürchtet, während es früher gern
dorthin ging. Das Rechnen und das Stricken madien ihr Pein. Ich
fragte sie, welche Ziffer ihr die unangenehmste sei und sie nannte
sofort die 2. Sie mußte eine 2 hinmalen und sagte dann : „Das
Häkchen unten ist unbequem ; wenn ich schnell schreibe, lasse ich es
weg." Ich fragte nun, was ihr zu diesem Häkdien einfalle und ohne
Besinnen erwiderte sie: „Ein Fleischhaken", „für Schinken und Wurst"
fügte sie hinzu und als ob sie den Eindruck dieser seltsamen Ant-
wort verwischen oder sie erläutern müsse, fügte sie rasch hinzu :
„Beim Stricken lasse ich Maschen fallen und dann entsteht ein Loch."
Wenn Sie von diesem Zusatz : „es entsteht ein Loch" ausgehen, be-
greifen Sie, daß der Fleischhaken ein Haken aus Fleisch ist, daß also
das Kind eine Zeit durchmacht, in der es sich gründlich mit der Tat-
sache der beiden Geschlechter auseinanderzusetzen versucht. Und in
sehr gedrängter Form gibt sie durch Angst und Fehlhändlung des
Häkchenweglassens und des Maschenfallens ihre Theorie kund, daß
das Weib, die 2 in der Familie, keinen Fleischhaken besitzt, ihn viel-
mehr durch allzu schnelles Schreiben, Onanieren, verloren hat, daß
durch die rasche Bewegung der Stricknadeln, ihr Hinein und Hinaus
das große Loch entsteht, aus dem das früh lüsterne Mädchen ihr
Wässerlein sprudelt, während der Knabe den Strahl aus der engen
298
Öffnung des Penis spritzt. Das ist wahrlich ein schweres Problem für
ein Kleinmädchengehirn und es ist kein Wunder, daß Rechnen und
Stricken nicht flecken will. Am nächsten Tage demonstriert das Kind
dann weiter seine Kenntnisse, die diesmal tröstlich genug sind. Sie
klagt, daß sie beim Stuhlgang schreckliche Schmerzen habe, betont
also, daß das Mäddien als Ersatz für das genommene Häkdien Kinder
gebären kann, wenn auch mit Schmerzen. Und wiederum in dem
dunklen Drang, sich deutlicher zu erklären, beginnt sie zum Staunen
der Mutter, die ihr Kind unwissend glaubte, zu erzählen, wie sie
dabei gewesen sei, als ein Kalb aus dem Bauche einer Kuh geholt
wurde und wie drei niedliche Kätzchen von der Katzenmutter ge-
boren wurden. Es ist drollig zu hören, wie es aus der Seele des
Kindes hervorsprudelt, wenn die Schicht über dem Verdrängten
irgendwo leck geworden ist.
In derlei symbolischen Handlungen oder Fehlleistungen äußert
sich das Unbewußte gar oft. So traf ich neulich einen meiner Kranken
- er gehörte zu den sogenannten Homosexuellen - verstimmt an,
weil er seinen Klemmer zerbrodien hatte, ohne den er seines Lebens
nicht froh sein könne. Er war ihm in dem Moment von der Nase
gefallen, als er von einem Tisch eine Vase fortnehmen wollte. Als
ich ihn nach anderen Gegenständen auf dem Tisch fragte, gab er mir
die Photographie seines Freundes an, die noch dort liege. Tatsächlich
fand sie sich unter einem Haufen von Kissen und Decken vergraben,
mit der Rückseite nach oben, so daß man das Bild nidit sehen
konnte. Es stellte sich heraus, daß der Freund ihm mit einem Mädchen
untreu geworden war. Da es nicht in seiner Macht stand, den Knaben
von dem Mädchen fern zu halten, wollte er wenigstens beide sym-
bolisch trennen und nahm die Vase, die das Mädchen darstellte, weg.
Dem folgte darauf automatisch das Umdrehen der Photographie auf
die Bildseite, das Zudecken mit den Kissen und das Zerbrechen des
Klemmers. In die Spradie des Bewußten übersetzt heißt das : „Ich
will den Treulosen nicht mehr sehen." „Seine Rückseite bleibt mir
I
■
dodi immer, denn die weiß ein Mäddien nidit zu schützen. So möge
denn die Photographie verkehrt liegen." „Es ist doch sicherer, auch
die Rüdeseite zu schützen. Decken wir sie mit Kissen zu." „Das ist
gut, nun sehe ich nichts mehr von ihm, zumal wenn ich noch eine
Decke darauf tue." „Es genügt nicht : ich leide zu sehr. Am besten
ist, ich mache mich blind. Dann brauche ich seinen Treubruch nicht
zu bemerken und kann ihn lieb behalten." Und damit zerbricht der
Arme seinen Klemmer.
Das Unbewußte experimentiert seltsam mit den Augen. Es schal-
tet Eindrücke auf der Netzhaut aus dem Bewußtsein aus, wenn sie
unerträglich sind. Eines Tages forderte ich eine meiner Kranken auf,
die Gegenstände auf ihrem Schreibtische genau zu betrachten und sie
sich zu merken. Als ich sie dann aufforderte, mir zu sagen, was auf
dem Tische stand, zählte sie alles auf, bis auf die Photographien
ihrer beiden Söhne, die sie trotz mehrfachem Hinweis, daß sie zwei
Dinge unterschlage, nicht nannte. Als ich sie fragte, warum sie die
beiden Bilder fortlasse, war sie verwundert : „Ich habe sie nicht ge-
sehen," sagte sie, „und das ist um so auffallender, als ich sie täglich
und auch heute selbst abstaube. Aber freilich, Sie sehen ja, die armen
Jungen stecken in der Uniform. Der eine ist schon gefallen, der an-
dere ist mitten in den Kämpfen vor Warschau. Wozu sollte ich mein
Leid, wenn ich es unterdrücken kann, durch meine Augen wecken?"
Ein Andrer klagte darüber, ihm sei plötzlich schwarz vor den
Augen geworden : das geschehe häufig. Ich bat ihn, sidi in Gedanken
nochmals an den Platz zu stellen, wo ihn der schwarze Nebel über-
fallen hatte, und mir zu sagen, was er sehe. „Steine," sagte er. „Ich
ging eine Treppe hinauf und es waren die steinernen Stufen, die ich
sah." Damit war wenig anzufangen. Aber da ich hartnäckig dabei
blieb, daß der Anblick der Steine seinen Schwindel verursacht habe,
verspradi er darauf zu achten. Tatsädilich kam er am nächsten Tag
damit hervor, daß er bei einem neuen Anfall wiederum Steine ge-
sehen habe. Die Sache sei vielleicht doch nicht ganz von der Hand
300
zu weisen, denn er wisse jetzt, daß er die ersten Beschwerden ähn-
licher Art in Ostende gehabt habe, das ihm stets wie eine trostlose
Anhäufung von Steinen und vielzuvielen kaltherzigen Menschen vor-
gekommen sei. Als ich fragte, was denn eine solche Anhäufung von
Steinen und Menschen bedeute, sagte er mir, „einen Kirdihof." Da
ich wußte, daß er in Belgien erzogen war, machte ich den Versuch,
ihn auf den Gleichlaut pierre und Piere hinzuweisen. Er erklärte
aber, daß weder ein Peter noch ein Piere je eine Rolle in seinem
Leben gespielt hätten. Am nächsten Tage kam er von selber auf die
Sache zu sprechen. „Ich könne doch wohl Recht haben. Sein Eltern-
haus, in dem er schon mit sechs Jahren seine Mutter verlor und das
kurz nach ihrem Tode verkauft wurde, weil der Vater nach Ostende
übersiedelte, lag in der Rue St. Piere und wenn auch die Mutter
nicht auf dem Kirdihof St. Piere begraben sei, so habe doch seinem
Kinderzimmerfenster gegenüber der riesige Steinhaufen der Kirche
St. Piere gelegen. Er sei oft genug mit seiner Mutter in dieser Kirdie
gewesen und die Steinmassen des Inneren mitsamt dem Gedränge
der Andächtigen habe ihn stets verwirrt. Zu dem Wort Ostende fiel
ihm dann Rußland ein, das Land des Rußes, das schwarze Land,
das Land des Todes. Seit jenem Tage des Bewußtwerdens verdräng-
ter Komplexe ist ihm nicht mehr schwarz vor den Augen geworden,
dagegen hat sein Es eine andre Maßregel der Verdrängung nicht
aufgehoben. Der Kranke, der von seiner Mutter streng katholisch er-
zogen war, hatte den Glauben unter dem Druck des Verdrängungs-
wunsches aufgegeben: er ist aber trotz der Aufhebung der Ver-
drängung nidit wieder zur Kirche zurückgekehrt
Besinnen Sie sidi auf Frau von Wessels? Wie kinderlieb sie ist
und wie sie unter der Tatsache leidet, keine eigenen Kinder zu haben ?
Eines Tages saß ich mit ihr am Waldrand ; die Unterhaltung schleppte
seit einiger Zeit und stockte schließlich ganz. Plötzlich sagte sie : „Was
ist das mit mir ? Von allem, was rechts von mir ist, sehe idi nicht das
geringste, während links alles klar und deutlidi ist." Ich fragte sie,
301
wie lange das Phänomen sdion dauere, und sie erwiderte : „Schon
vorhin im Walde habe ich es bemerkt." Ich bat sie, mir irgendeine
Stelle unsers Spazierganges zu nennen, und sie gab eine Wegkreuzung
an, die wir passiert hatten. „Was war an dieser Stelle rechts von
Ihnen?" fuhr ich fort. „Dort ging die Dame mit ihrem kleinen Knaben
an uns vorüber. Übrigens sehe ich jetzt alles wieder deutlich." Und
nun erinnerte sie sich lachend, wie sie mich den ganzen Weg vor der
Kreuzung mit der Phantasie unterhalten hatte, daß sie ein kleines
Häuschen fern von allen Menschen mit Hühnern und Enten und allerlei
Getier hätte und dort mit ihrem Söhnchen hauste, wälirend der Vater
nur ab und zu auf einen Tag zu Besuch käme. „Wenn ich nicht längst
wüßte, daß Sie recht haben mit Ihrer Behauptung, alle Krankheiten
seien Schöpfungen des Es, zu irgendwelchen erkennbaren Zwecken,
würde ich mich jetzt davon überzeugt haben. Denn meine halbseitige
Blindheit kann nur dadurch hervorgerufen worden sein, daß ich den
Anblick jener Mutter mit ihrem Sölinchen nidit ertragen konnte."
Hysterisch ? Gewiß, kein Arzt und kein Gebildeter wird mit der
Diagnose zögern. Aber wir beide, Sie und ich, haben gelernt, auf die
Bezeichnung Hysterie zu pfeifen, kennen beide Frau von Wessels und
können höchstens aus Ehrfurcht vor der bebrillten Gelehrsamkeit zu-
geben, daß diese Frau für eine halbe Stunde hysterisch wurde. Aber
was sollen wir uns mit soldi erzdummem und teuflischem Wort wie
Hysterie noch weiter befassen ? Lassen Sie sich lieber erzählen, was
einige Jahre später geschah.
Eines Abends traf ich Frau von Wessels nach dem Theater. Sie
sagte mir, daß sie hergekommen sei, um vielleicht einen alten Bekannten
zu treffen, dessen Namen sie vor einigen Stunden im Fremdenblatt
gelesen habe. Mir fiel auf, daß ihr linkes oberes Augenlid stark gerötet
und gesdiwollen war. Sie hatte es selbst noch nicht bemerkt, zog ihren
Taschenspiegel hervor, besah sich das Auge und sagte: „Es würde
mich nicht wundern, wenn das Es mich wieder einmal mit einer halben
Blindheit narren wollte." Dann fing sie wieder an, von dem unver-
302
muteten Eintreffen des früheren Freundes zu erzählen, unterbrach
sich jedoch plötzlich mit den Worten : „Jetzt weiß ich, woher das dicke
Auge kommt. Es ist entstanden, als ich den Namen meines Anbeters
in der Fremdenliste las." Und nun berichtete sie, wie sie mit diesem
Herrn während der langen Todeskrankheit ihres ersten Mannes
kokettiert habe. Sie erzählte allerlei Einzelheiten aus jener Zeit und
vertiefte sich immer mehr in die Idee, daß ihr Auge dick geworden
sei, damit sie den beschämenden Namen nidit zu sehen brauche,
akzeptierte auch meinen Gegenvorschlag, daß ihr Es sie nodi nach-
träglich an dem Gliede strafe, mit dem sie gesündigt habe. Der Erfolg
schien uns recht zu geben, denn als die Freundin wegging, war die
Geschwulst verschwunden. Am nächsten Tag hatte sie einen heftigen
Streit mit ihrem zweiten Mann wegen ihrer Stieftoditer. Beim Nach-
mittagstee war ich zugegen und bemerkte, wie sie die ganze Zeit über
von der links sitzenden Stieftochter das Gesicht wegdrehte und wie
langsam das Augenlid wieder anschwoll. Idi sprach später mit ihr
darüber und sie gab an, daß sie, die Kinderlose, den Anblick der Stief-
tochter nicht ertragen habe und wahrscheinlich deshalb das dicke Auge
wieder bekommen habe. Das gab ihr einen neuen Gedanken ein, den
sie eine Zeitlang verfolgte. Möglicherweise sei die Stieftochter audi
gestern die Ursache der Lidschwellung gewesen. Bald darauf kam sie
jedoch auf ihren alten Gedanken zurück, daß es der Name ihres alten
Kurmachers in der Fremdenliste gewesen sein müsse. „In ein paar
Tagen", sagte sie, „jährt sidi der Todestag meines ersten Mannes. Ich
habe seit Jahren beobachtet, daß ich um diese Zeit stets irgendwie
krank und elend werde, und ich glaube, daß idi den Streit mit Karl -
das ist der Name des Herrn von Wessels - herbeigeführt habe, um
einen Grund zum Weinen um meinen ersten Mann zu haben. Das ist
mir um so wahrscheinlicher, als mir eben einfällt, daß ich vorgestern,
also schon den Tag vor der Anschwellung im Krankenhaus dabei war,
wie ein Nierenkranker mit dem diarakteristisdien, urämischen Gerudi,
den auch mein Mann hatte, sich mit dem Spatel den Belag von der
303
-
Zunge sdiabte, genau wie mein verstorbener Mann. Am selben Abend
habe ich beim Anblick von Meerrettichsauce Übelkeit bekommen, die
sofort verschwand, als ich mir die Ähnlichkeit der Sauce mit dem
Zungenbelag klar machte. Der Anblick der Stieftöchter war mir un-
erträglich, weil sie mir die Tatsache des Treubruches gegen meinen
ersten Mann durch ihr Dasein vor Augen führte. Denn Sie können
sich denken, daß ich in jener Trauerzeit tausend Schwüre getan habe,
nie wieder zu heiraten." Wiederum war die Anschwellung des Auges
während der Unterhaltung verschwunden.
Damit war die Entzündung des Augenlides endgültig erledigt.
Statt dessen erschien jedoch am folgenden Tage Frau von Wessels
mit einer halbzolldicken Oberlippe. Gerade über dem Zipfel der Lippe,
dicht am Rand hatte sich ein feuerroter Fleck gebildet, so daß das
Lippenrot fast um das Doppelte breiter zu sein schien. Halb lachend,
halb zornig gab sie mir einen Brief, den eine entfernte Bekannte an
eine ihrer Freundinnen geschrieben hatte und den ihr diese Freundin
voller Empörung zugeschickt hatte, wie es Freundinnen zu tun pflegen.
In diesem Brief stand neben allerlei andern Liebenswürdigkeiten zu
lesen, daß Frau von Wessels mit ihrer, jedem Auge sofort erkennbaren
groben Sinnlichkeit eine echte Hexe sei. „Schauen Sie meinen Mund
an," sagte sie spöttisch, „kann es einen besseren Beweis für meine
grob sinnliche Natur geben, als diese schwellenden grellroten Lippen ?
Fräulein H. hat ganz recht, mich eine Hexe zu nennen, und ich konnte
sie nicht Lügen strafen." Die Sache interessierte mich aus verschiedenen
Gründen, von denen ich Ihnen den einen nachher mitteilen werde, und
idi verwendete einige Tage lang viel Zeit auf eine gründliche Analyse,
deren Resultat ich Ihnen kurz mitteilen will.
Die Sache drehte sich weder um den Tod ihres Mannes, noch um
die Stieftochter, noch um den alten Anbeter, sondern der Angelpunkt war
eben jenes Fräulein IL, deren Brief ihr die dicke Lippe verschafft hatte.
Diese, mit Frau von Wessels seit altersher verfeindete Dame - nennen
wir sie Paula - war an demselben Abend - Freitag, den 16. August -
304
im Theater gewesen, an dem die Lidschwellung des linken Auges zum
ersten Male aufgetreten war, und zwar hatte sie links von Frau von
Wessels gesessen. Genau acht Tage vorher, am Freitag, den 9. August,
war Frau von Wessels ebenfalls im Theater gewesen - wie Sie wissen,
ist dieser mehrfache Besuch des Theaters etwas Unerhörtes bei ihr.
— Ihr zweiter Mann war mit ihr gewesen und links von ihr hatte
dieselbe Paula ihren Platz, von der sie wußte, daß sie - vergeblich
- Herrn von Wessels nachgestellt hatte. Frau von Wessels hatte an
jenem ersten Freitag - den 9. August - den haßerfüllten Blick aus
den auffallenden grauen Augen Paulas aufgefangen, die unter Umständen
einen eigentümlichen harten und stechenden Ausdruck haben. Die-
selben grauen Augen hat die Frau jenes Nierenkranken, mit dessen
Zungenbelag sie die Übelkeit am Donnerstag den 15. abends, in Zu-
sammenhang brachte. Bei dem Besuch dieses Kranken, der mit seinem
Uringeruch sie an den Tod des ersten Mannes erinnerte, war seine
Frau mit den grauen Augen zugegen gewesen. Der Name dieser Frau
ist Anna, Anna ist aber auch der Name der ältesten Schwester von
Frau von Wessels, unter der sie als Kind über alle Maßen gelitten
hat. Und diese Schwester Anna hat dieselben harten, stechenden Augen
wie Paula. Und nun kommt das Seltsame : Frau von Wessels Schwester
Anna hat am 21. August Geburtstag. Am 15. August hat Frau von
Wessels den Kalender angesehen und beschlossen zu schreiben, am
16. hat sie schreiben wollen, ist aber statt dessen ins Theater ge-
gangen, um ein Ballett, das heißt, schöne Beine zu sehen, am 17. hat
sie wiederum den Gcbui tstagsbricf aufgeschoben und erst am 18., dem
Tag der dicken Lippe, gratuliert, und schließlidi am 21., dem Geburts-
tag selbst, ist die Lippengesdiwulst rasch verschwunden und die bis
dahin stockende Analyse floß plötzlich in rasdicm Lauf und eine Menge
wirrer Verknäuelungen lösten sich.
Frau von Wessels erzählte mir: „Als ich etwa mit 14 Jahren
Näheres über die Schwangerschaft erfuhr, habe ich den Geburtstag
meiner damals rechtschaffen gehaßten Sdiwester Anna mit dem Hoch-
20 G r d d e c k, Das Buch vom Es 305
zeitstage meiner Eltern verglichen und bin zu dem Resultat gekommen,
daß sie schon vor der Hochzeit entstanden sein müßte. Daraus zog
ich zwei Schlüsse : einmal daß meine Schwester nicht echtbürtig sei -
das erscheint in meiner sonst gar nicht vorhandenen Abneigung gegen
meine Stieftoditer am 17. August wieder, denn diese Stieftochter
stammt nicht von mir, ist also nicht editbürtig, sondern vorehelidi
- und dann daß meine damals ebenso rechtschaffen gehaßte Mutter
eine grob sinnliche Frau sei, eine Annahme, zu der ich mich zu jener
Zeit um so mehr berechtigt glaubte, weil meine Mutter ein halbes
Jahr vorher - also in meinem 14. Lebensjahr - noch ein Kind be-
kommen hatte. Sie als Analytiker wissen ja, was für Neid sich bei
so späten Schwangerschaften in dem Herzen der älteren Töchter an-
sammelt. Ich habe stets dieses Nachrechnen der Schwangerschaftsdaten
meiner Schwester Anna für die erbärmlichste Handlung meines Lebens
gehalten und auch jetzt wird mir das Geständnis schwer. Wie Sie an
meiner Lippe gesehen haben, bestrafe ich mich für die Schandtat
gegen meine Mutter damit, daß ich meine eigene Sinnlichkeit vor
aller Welt offenbare, nadidem einmal der Vorwurf von Fräulein Paula
erhoben worden ist. Nun weiter : ich weiß, daß meine Schwester Anna
darauf rechnet, in meinem Geburtstagsbrief für den Oktober hierher
eingeladen zu werden. Ich will sie aber nicht hier haben, obwolü ich
meine Abneigung dagegen als schlecht empfinde. Der Mund, der
diese Einladung nidit aussprechen will, muß bestraft werden. Dieser
selbe Mund muß aber auch dafür bestraft werden, daß ich ihn zur
Zeit jenes Nachrechnens des Hochzeits- und Geburtsdatums einen
frevelhaften Schwur tun ließ, ich wolle niemals ein Kind gebären.
Dieser Schwur fiel in dem Augenblick, wo ich zufällig das Schreien
einer Kreißenden mit anhörte. Die Verbindung mit meinem Munde
ist durch eine meiner Bekannten gegeben, die nach langer, langer
Kinderlosigkeit schwanger geworden ist und deren früher zusammen-
gekniffene Lippen jetzt voll und rot sind. Ich habe diese Bekannte
am 15. August gesehen und eingehend mit ihr über das kommende
306
1-
Kind gesprochen. So viel kann idi zur Erklärung der Mund-
anschwellung angeben. Was das Auge betrifft, so ist das sehr einlud).
Ich habe von den zahlreichen Schwangerschaften meiner Mutter nicht
eine einzige erkannt, auch die des jüngsten Kindes nicht, obwohl ich
schon 13 Jahre alt war und sein* gut wußte, wie die Kinder auf die
Welt kommen. Der Versuch also, mich gegen Sdiwangerschaft blind
zu machen, ist sehr alt, und daß ich jetzt gelegentlich zu dem be-
währten Mittel greife, mein gutes linkes Auge - das rechte ist ziemlich
unbrauchbar - auszuschalten, wenn der Schwangerschaftskomplex meiner
Mutter an midi herantritt, wundert midi nidit Es sind da aber noch
andre Dinge. So weiß ich zum Beispiel jetzt, daß mich bei dem
Besuch des Nierenkranken nicht der Uringeruch störte, sondern der
nach Kot, das heißt, hinter der Erinnerung an den Tod meines
Mannes versteckt sich die tief beschämende an einen Augenblick*, wo
meine Mutter mir die Backe streichelte und ich, statt mich der
Zärtlichkeit zu freuen, dieser liebenden Hand einen Kotgeruch an-
dichtete, mit andern Worten, ihr Cewohnheiten unterschob, denen
ich als Kind selber gefrönt haben muß. Ich überlasse es Ihrem Sdiarf-
sinn, ob Meerrettich irgend etwas mit meiner Mutter zu tun hat. -
Von dieser Erlaubnis mache ich Gebrauch. Meer scheint mir mit mere
zusammenzuhängen und der Rettidi ist ein bekanntes Mannessymbol
Der Spruch : Einen Rettich in den After stecken, f ülirt zu dem Klosett-
geruch. - Der Gerudiseindruck führt midi nun wieder auf des Nieren-
kranken Frau, auf ihre grauen Augen, auf die harten Augen von
Paula und auf die meiner Schwester Anna zurück. Die Angst vor
Paula, die ich ganz gewiß habe, beruht auf diesen Augen, die eben
Annas gefürditete Augen sind. Wenn ich aber gesagt habe, daß idi
meine Schwester Anna haßte, so muß ich diese Aussage einschränken.
Etwas liebte ich an ilir über alle Maßen, das waren ihre Beine und
ihre Unterhosen. Ich besitze noch jetzt eine ganze Sammlung von
Anna-Beinen in Spitzenhöschen, die idi in meiner Schulzeit an den
Rand meiner Hefte gezeichnet habe. Ihre Beine sind jedenfalls bei
20*
307
meiner Vorliebe für das Ballett stark beteiligt und Sie wissen, daß
idi am 16. im Theater war, um schöne Beine zu sehen. Und da ist
gleich eine weitere Verbindung, die in die fernsten Fernen meiner
Kindheit führt, von wo dann kein weiterer Weg mehr ist außer dem
der Phantasie. Die Angst vor harten Augen geht nämlich auf meine
Großmutter zurück, die ich entsetzlich fürchtete. Das erste, was sie
tat, wenn wir zu ihr kamen, war, daß sie uns die Röckchen hodihob,
um zu sehen, ob wir reine Hosen anhätten. Ich begriff schon damals,
daß sich dieses Manöver nicht gegen mich, sondern gegen meine
Mutter richtete, und wegen ihrer Feindschaft gegen Mutter war mir
die Alte in der Seele zuwider. Trotzdem halte ich es für möglich,
daß dieses Untersuchen der Hosen für midi lustvoll war. Aber be-
denken Sie, den Vorwurf des Schmutzes, den ich der Alten so sdiwer
anrechnete, erhob ich später selbst gegen meine Mutter bei Gelegen-
heit des Backenstreicheins. Das ist schlimm. Und noch etwas andres.
Eine Tante von mir wurde - in meiner frühesten Kindheit hörte ich
davon - von meinen Großeltern verstoßen, weil sie vor der Hochzeit
von ihrem Verlobten schwanger wurde. Wieder derselbe Tadel, den
ich gegen die Mutter vorgebracht hatte. Die Großmutter war für mich
die Hexe schlechthin. Und von diesem Wort Hexe geht nun wieder
ein Weg zu Paula und den Erscheinungen der letzten Tage. Es war
mir bekannt, daß Paula, deren Gehirn mit allerlei okkulten Phan-
tasien spielt, mir telepathisdie Kräfte zuschrieb und mich Hexe nannte.
Denselben Ausdrude habe ich oft für die Mutter meiner Stieftochter
verwandt, die ich freilich nur vom Ansehen oder besser vom Sehen
und Hören kannte. Als ich ihre Stimme zum erstenmal hörte, durch-
fuhr mich ein Eisesschrecken, ich fühlte, daß in dieser Stimme etwas
Gräßliches aus meiner Kindheit war. Und als ich die Frau dann sah,
fiel mir sofort auf, daß sie meiner Schwester Anna harte Augen hatte,
und nun wußte ich auch, daß ihre Stimme die der Großmutter, der
Hexe war. Die merkwürdige Abneigung des 17., meine Stieftochter
anzusehen, hing damit zusammen, daß ich ihre Mutter mit meiner
308
Großmutter und meiner Schwester und meiner Gegnerin Paula
identifizierte, daß sie also die schwersten, am tiefsten verdrängten
Erinnerungen wachrief. Soweit idi die Sache verstehe, muß ich also
die Ursachen für die Vorgänge an Auge und Lippe in Konflikten mit
meiner Gioßmutter, Mutter und ältesten Schwester suchen, die durch
das Geburtstagsdatum und die Begegnung mit Paula aus ihrem Ver-
drängungsschlaf wachgerufen wurden, während die jährlidi hervor-
geholte Trauer um meinen ersten Mann ein Versuch ist, diese un-
bequemen Komplexe zuzudecken. Die Erschwerung des Sehens durch
die Lidgeschwulst ist derselbe Versuch zu verdrängen in anderer
Form, im Krankheitssymptom : ich will nicht sehen und folgerichtig
kommt denn, als das Sehen der Komplexe infolge der Häufung der
Phänomene nicht mehr zu verhindern ist, der Wunsch wenigstens
nicht davon zu sprechen, was sich in der Schwellung der Lippe und
der damit verbundenen Unbequemlichkeit im Sprechen äußert. Beides
sind zugleich auch Strafen für das Sehen nach schönen Beinen und
das Verschwören jeder Schwangerschaft."
Ich lasse es dahingestellt, liebe Freundin, ob Frau von Wessels
mit ihren Betrachtungen recht hat. Sicher hat sie noch eine Menge
Material unterschlagen und von dem, was sie gab, kaum die Hälfte
gedeutet. Ich erzähle Ihnen die Geschichte, weil hier eine nicht dumme
Frau in anschaulicher Weise erzählend schildert, wie ich mir die
Äußerungsform des Es durch das Krankheitssymptom denke. Ich habe
aber, wie ich schon vorhin andeutete, noch einen andern Grund
gehabt, diese Dinge so breit zu bcriditen. Zu jener Zeit, als Frau
von Wessels ihre Augen- und Lippenerlebnisse hatte und mir vom
Geruch der Urämischen sprach, befand sich in meiner Anstalt eben-
falls ein Nierenkranker, der diesen charakteristischen Geruch hatte.
Ich bekam ihn in den letzten Stadien in Behandlung und übernahm
es, sein Sterben zu beobachten und zu erleichtern, weil seine Mund-
form mit ihren scharf zugepreßten, dünnen Lippen mir eine Bestätigung
meiner Annahme zu sein schien, daß das Es durch das Zurückhalten
309
der Uringifte dasselbe aussagt wie durch die zugekniffene Form des
Mundes. Für mich bedeutet die Urämie den tödlich gefährlichen
Kampf des verdrängenden Willens gegen das immer wieder empor-
strebende Verdrängte, gegen starke aus frühester Kindheit herrührende
und in tiefsten Schichten der Konstitution liegende und wirkende Urin-
absonderungskomplexe. Der Fall hat meine phantastischen unwissen-
sdiaftlichen Forschungen, für die ich durch mein eigenes Nierenleiden
einen persönlichen Antrieb habe, nicht wesentlich gefördert. Ich müßte
mich denn entschließen, einige seltsame Erscheinungen im Verlauf dieser
Tragödie mit dem Versuch das Es zu deuten in Verbindung zu bringen.
Da müßte ich erwähnen, daß bei dem Kranken schon nach den ersten
Tagen der Analyse die Jahrzehnte alte Verstopfung in Diarrhöe um-
schlug, deren Gestank unsagbar greulich war. Man könnte, wenn man
genügend närrisch ist, den höhnischen Ruf des Es daraus herauslesen :
ich will wohl den körperlichen Dreck hergeben, den ich sonst zurück-
hielt, den seelischen aber gebe ich nicht her. Man könnte das Erbrechen
ähnlich deuten, — allerdings pflegt das ja bei Urämie aufzutreten,
ebenso wie die Durchfälle — während man anderseits mit einigem
Wagemut sagen könnte, der urämische Krampfanfall - und schließlich
das Sterben - sind Zwangsmittel des verdrängenden Es, um das Bewußt-
werden der Komplexe zu verhindern. Schließlich ließe sich auch eine
merkwürdige, von mir sonst nicht beobachtete wassersüchtige Ver-
dickung der Lippen, durch die der Mund all seine Verkniffenheit verlor,
als spöttisches Zugeständnis des Es deuten, das dem Munde die
Freiheit wiederzugeben scheint, während es ihm in Wahrheit durch
das ödem das Sprechen verbietet. Aber das alles sind Gedankenspiele,
die ich mir leiste, für die ich aber nicht die geringste tatsächliche
Gewähr habe. Dafür habe ich aber während jener Tage etwas Komisches
erlebt, was ich kraft meiner Eigenschaft als persönlich Erlebender mit
ziemlicher Gewißheit deute. In den Tagen, in denen ich mich infolge
des Lippenabenteuers ernsthaft mit Frau von Wessels Analyse be-
schäftigte, traten die ersten urämischen Krämpfe bei meinem Kranken
810
auf. Ich blieb über Nacht im Sanatorium und nahm, da es kalt war, eine
heiße Gummiflasche mit ins Bett. Vor dem Einschlafen schnitt ich mit
einem spitzen Papiermesser eine Nummer der psydioanalytischen Zeit-
schrift Freuds auf und blätterte darin. Unter anderm fand ich darin
die Anzeige, daß Felix Deutsch in Wien einen Vortrag über Psycho-
analyse und organisdie Krankheiten gehalten hatte, ein Thema, das idi,
wie Sie wissen, seit langem in mir wälze und das idi unserm gemein-
samen Freunde Groddedc zur Bearbeitung überlassen habe. Idi legte
Zeitschrift und Papiermesser unter mein Kopfkissen und fing an, ein
wenig über diesen Gegenstand zu phantasieren, wobei ich denn bald
bei meinem Urämischen und meiner Deutung der Harnverhaltung als
Verdrängungszeichen landete. Idi sdilief darüber ein, wachte aber gegen
Morgen mit einem seltsamen Gefülil der Nässe auf, so daß idi glaubte,
ins Bett gepinkelt zu haben. Tatsädilidi hatte idi im Schlaf mit dem
Papiermesser die Gummiflasche angestochen, so daß das Wasser im
kleinen Sprudel hervorquoll. - Nun, die folgende Nadit blieb ich wieder
in der Anstalt, und weil idi gern nasche, hatte ich mir dieses Mal ein
paar Stück Sdiokolade mitgenommen, wie ich es öfter tue. Was denken
Sie, was passiert? Als ich am nächsten Morgen aufwache, sind mein
Hemd und mein Bettlaken über und über mit Schokolade beschmiert.
Es hatte eine verteufelte Ähnlichkeit mit Aa, und idi war so be-
schämt, daß ich sofort die Bezüge des Bettes eigenhändig abnahm,
damit das Dienstmädchen nicht denken sollte, ich hätte ein großes
Geschäft ins Bett gemacht. Gerade diese seltsame Idee jedoch, das
Bett abzuziehen, weil sonst der Verdadit kommen könnte, ich hätte
meine Notdurft darin verriditet, brachte mich darauf, mich ein wenig
zu analysieren. Da fiel mir denn ein, daß ich schon bei dem Wärme-
flaschenabenteuer empfunden hatte, es ließe sich als Bettnässen
deuten. Und da ich so ganz und gar mit dem Gedanken bei dem
Urämischen gewesen war, so erklärte ich mir die Sadie so: Dein Es
sagt dir, du brauchst, obwohl deine Nieren nicht sauber sind, keine
Sorge zu haben, daß du Je Urämie bekommst : du siehst ja, wie
311
leicht du Urin und Dreck von dir gibst, du hältst nicht zurück, ver-
drängst nidit, bist wie ein Säugling, schuldlos und offen mit Herz
und Bauch. Wenn ich nicht wüßte, wie listig das Es ist, hätte ich mich
wohl damit begnügt. Aber so gab ich mich nicht damit zufrieden und
auf einmal schoß mir der Name Felix durch den Kopf; Felix, so
hieß der Herr, der über Psychoanalyse und organische Krankheiten
gesprochen hatte. Felix Schwarz hieß aber auch ein Schulfreund und
dieser Schulfreund war an Urämie im Gefolge von Scharlach zu-
grunde gegangen. Schwarz, das ist der Tod. Und in Felix steckt das
Glück und die Verbindung von Felix und Schwarz, von Glück und
Tod kann nur der Augenblick der höchsten Geschlechtslust verbunden
mit der Angst vor Todesstrafe sein, mit andern Worten, es ist der
Onaniekomplex, dieser uralte Komplex, der immer wieder unter-
irdisch sich regt, wenn ich an meine Nierenkrankheit denke. - Damit
schien mir die Deutung, die ich den beiden Unfällen gegeben hatte,
nun bestätigt zu sein. Mein Es sagte damit: sei ehrlich, verdränge
nicht und dir wird nichts geschehen. Zwei Stunden später wurde ich
eines Besseren belehrt. Denn als ich an das Bett meines Urämie-
kranken trat, traf midi plötzlich der Gedanke : der sieht aus wie dein
Bruder Wolf. Noch nie hatte ich die Ähnlichkeit bemerkt, aber jetzt
sah ich sie deutlich. Und dunkel erhob sich vor mir die Frage : Was
hat dein Bruder Wolf oder das Wort Wolf mit deinen Verdrängun-
gen zu tun? Immer wieder taucht es auf, so viele Analysen du auch
angestellt hast und nie findest du die Lösung. Auch die, die dir jetzt
durch den Kopf schießt, ist nicht die letzte, tiefste.
Trotzdem will ich sie Ihnen nicht unterschlagen. Als ich ganz
kleines Kind war, - doch schon alt genug, um Erinnerungen zu be-
wahren - lief ich mir oft die Kerbe zwischen den Popobäckchen
wund, bekam also einen Wolf. Ich ging dann zur Mutter und sie
strich mir Salbe in die Kerbe. Das hat mir gewiß einen Anstoß zur
späteren Onanie gegeben, war gewiß schon eine Form kindlicher
Onanie, bei der ich in halbbewußter, fuchsschlauer List zur bösen
312
Tat die Hand der Mutter benutzte, wohl in Erinnerung an die Won-
nen, die jeder Säugling durch die Reinlichkeitssorge der Kinder-
pflegerin empfängt. Und als ich soweit mit dem Analysespiel war,
fiel mir noch ein, daß ich am Tage vorher mir wirklich beim Radeln
einen Wolf zwischen den Schenkeln angeradelt hatte. Das ist also der
Wolf, den du so lange suchtest, jubelte es in mir und ich war freudig
und half dem Weibe meines Kranken über eine schwere Stunde hin-
weg. Aber als ich zur Tür hinaustrat, wußte ich: Audi das ist die
Lösung nicht ! Du verdrängst und wenn dir dein Es und deine
Freunde noch so sehr die Offenheit nachrühmen, du bist doch genau
wie andere. Und anständig ist nur der, der ist wie jener Zöllner :
Gott sei mir gnädig. Aber finden Sie nicht, daß selbst dies letzte,
gerade dies letzte, pharisäisch ist?
Adieu Liebe ! Idi bin Ihr PATRIK.
813
f
GEORG GRODDECK
DER SEELENSUCHER
EIN PSYCHOANALYTISCHER ROMAN
In Ganzleinen gebunden Mark 1V—
Inhalt: Agathe, der Herausgeber, August Müller und der Scelensucher.
— Die Wanzen kriechen hervor. — Ein Scharlachfall. Dr. Vorbeuget*
Ein Fluchtversuch. — August wird eingesperrt, Agathe besucht Ihn. — Die
Wanzen werden angesteckt. Auguste Berufung. — Der Vikar wird durdi
ein Junges Mädchen in die Geschichte verwickelt und hat ein Stelldich-
ein. - August Müller stirbt. — Thomas Weltlcin begegnet dem Sein, dem
Werden und dem Fittidi der Tat. - Der Lumpcnwilhelm und Agathcs Uhr.
— Der Weg der Sdimerzen. - Ein Weinbergskarl und noch einer. - Der
Tunnel der Erniedrigung. Kleider machen Leute. — Verrückt oder boshaft ?
— Strickt der Strumpf oder wird er gestrickt? — Docendo disclmus. - Eine
Wanze, die mit Gedanken und Goldwasscr malt. — Wie Lachmann einen
Stein rollen laßt. — Thomas macht am Insekt Mensch Experimente über
psychisch-physische Ansteckung. - Vom Nutzen der Krankheit. - Wie sich
Frauen und wie sich Thomas die Hebung der Sittlichkeit denken. - Was eine
Glocke Ist. Agathe reist ab und Thomas spielt Eisenbahn. - Nicht wahr,
zwei Damen ? Und der Schlag aufs ParadicsäpfJeln. - Von der inneren An-
steckung, dem Artikel, Held Onan und der Entrüstung des Lesers. - Großes
und kleines Geschäft. Der Kegclkönig. - Das vierte Gebot. - Apfclkraut
und Hosenbein. Musik und Liebe. - Eine Schlägerei. Was das Du eines
Prinzen vermag. - Ein langweiliges Kapitel, das aber nicht unterschlagen
werden kann, da es vom Waschen und dem Geheimnis der Sixünischea
Madonna handelt. - Noch ein Muscumsbesuch, ebenso langweilig wie der
vorige. - Die Idee des Pferdes und der Wettkampf mit dem Löwen. - Der
Narr als Held. Vom Sozialismus. - Wie Thomas die Welt von unten an-
sieht und was es mit Mädchenfreundschaften auf sich hat - Ein Ver-
brechen? Der Gruß des Kaisers und die Resultate des Studiums. - Agathe
erscheint wieder. - Mathematik als reine Wissenschaft. Kinderverse und
das Rätsel der Brustwarzen. - Der rote Prinz. Willkommen und Ab-
schied. - Tod und Begräbnis. Agathe beansprucht Thomas Weltleins
Vermögen, Lachmann den Scelensucher und Alwine seinen Unglauben
INTERNATIONALER PSYCHOANALYTISCHER VERLAG
Wien, VII., Andreasgsse 3
•
Pressestimmen über Groddecks »Seelensuc her « ;
Es kann kein schlechtes Buch sein, dem es, wie diesem, gelingt, den Leser vom Anfang bis
zum Ende zu fesseln, schwere biologische und psychologische Probleme In witziger, Ja be-
lustigender Form darzustellen, und das es zustande bringt, derbzynische, groteske und tief-
tragische Szenen, die in ihrer Nacktheit abstoßend wirken mußten, mit seinem guten Humor
wie mit einem Kleide zu behängen . . . Der erziehliche Wert des Buches liegt darin, daß
Groddeck, wie einst Swift, Rabelais und Balzac, dem pietistlsch-hypokrltlschen Zeitgeist die
Maske vom Gesicht reißt und die dahinter versteckte Grausamkeit und Lüsternheit, wenn auch
mit dem Verständnis für deren Selbstverständlichkeit, offen zur Schau stellt Die Symbolik, die
die Psychoanalyse zaghaft als einen der gedankenbildcndcn Faktoren einstellt, ist für Welt-
lein tief im Organischen, vielleicht im Kosmischen begründet und die Sexualität ist das Zen-
trum, um das sich die ganze Symbolwelt bewegt. (Dr. S. Ferenczi in der „Imago")
Ein Buch, das kaum seinesgleichen hat unter deutschen Büchern, ein Buch von eigentümlicher
spiritueller Schärfe, die ilire Zeichen ins Hirn des Lesers ätzt. Was sonst als erzählende
deutsche Prosa Humor übt, scheint Wasser neben dieser Quintessenz...
So was Freches, Ungeniertes, raffiniert Gescheit-Verrücktes Ist von Erzählern unserer
Sprache noch nicht gewagt worden. Man muß zu den Großen satirischer Dichtung, wlü man
die Patrone dieser Schrift nennen. Von Jonathan Swifts unsterblicher Galle kreist ein
Tropfen in des Seelensuchers Bitterkeit ; an Cervantes erinnert der Ritus, nach dem hier
einer zugleich den Priester und das Lamm seiner Narrheit abgibt, erinnert die Durchsetzung
dieser Narrheit mit Idee und Idealität; In der Rabies Ihrer Witzigkeit aber gespenstert das
Überdimensionierte der Gargantu a-Komik . . . Die Figuren haben beiläufige Kontur. Auch
der Held Thomas, der als Don Qulxote Sigmund Freud scher Weltanschauung seiner für-
sorglichen Schwester Agathe durchbrennt, streitbar durch die deutschen Lande zieht, In die
wunderlichsten Händel und skurrilsten Abenteuer gerät, als Ritter seiner Dulcinea Psycho-
analyse die erbittertsten Reden und andere Schlachten schlägt, aller Orten — wie der de la
Mancha Burgen, Ritter, Burgfräulein - aller Orten Symbole, insbesonders erotische Symbole
sieht, erfüllt von der heiligen Gewißheit, daß die Menschen ihre Psyche zwischen den Beinen
tragen und ihre Genitalien an Jeder Stelle Körpers und Geistes. Dieser Thomas ist ein ur-
gemütliches Gespenst, das seine Hirnschale in Händen hält und aus dem muntren Qualm, der
Ihr entsteigt, die Welt deutet . . . Eine Figur, so voll der kostbarsten Narrheit - die keine
Narrheit, sondern Ernst-Clownerie — Ist noch durch keinen deutschen Roman gewandelt . . .
Sie hat ein Format und eine Funktion ; der Rest ist Ulk. Aber Ulk von der hellsten Sorte.
Hier lehrt einer, zum Gaudium der Leser, dleWelt über den psychoanalytischen
Stock springen. Alles muß drüber, Mensch und Tier, Politik, Kunst, Wissenschaft; und,
mit etlicher Gewalt und Schlauheit, glückt es bei allen. Eine drolligste demonstratio ad rem
et homlnem Yon der Unfreiheit der Erscheinungen. Wie sich hier Sinn zu Hanswurstladen
übersteigert, Geist In närrische Aktion umsetzt, Dogma possenreißerisch sich behauptet, Er-
kenntnis, ihrer Unverletzbarkeit hochmütig gewiß, Ins dichteste Gelächter stürzt — solche
lustige Abenteuerfahrt des Gedankens hat noch kein deutscher Mann gewagt.
(Alfred Po/gar im „Berliner Tageblatt")
i
Pressestimmen über Groddecks »See/ensucher«:
Ein ungewöhnlich geistreicher Kerl, der sehr amüsant zu reden weiß. Der Stil erinnert etwas
an die Plckwidder, wenn auch der Inhalt durchaus nicht so harmlos ist.
(Dr. Drill in der „Frankfurter Zeitung")
Ein tüchtiger Mann, der Spaß machen kann und sein Publikum in 36 Kapiteln trotz aller
Wissenschaft harmlos und kurzweilig unterhalt. (Alfred Döblin in der „Neuen Rundschau")
Ein Schalk, der lustig, ausgelassen und frivol ist und doch zum Denken reizt . . . Prüde
Flachköpfe, Philister, laßt die Hände davon, aber Ihr, die Ihr lachen könnt, bis die Augen
tränen, macht Euch in Eurer stillen Ecke über dieses Buch. („Wiener Freimaurer-Zeitung")
Gespräche und Heden des Seelensuchers Thomas Weltlcin, den der Verfasser auf die schmale
Grenze zwisdien dem weisen Grübler und dem Narren gestellt hat, um Ihn recht ungestört
alles zwischen Himmel und Erde durchcinanderqulrlen lassen zu können . . . Für öffentlidie
Büchereien ist das Buch wegen seines Obermaßes an Zynismus in erotischen und religiösen
Dingen unbrauchbar. („Bücherei und Bildungspflege")
Weder die Vertiefung noch der soziale Ernst wird der Psychoanalyse hier entnommen, sondern
der Kehricht, den sie, das seelische Innere des Menschen fegend, vor der Tür anhäuft. Diese
unappetitliche Masse wird hier zum Hauptthema, als ob das Absehen darauf gerichtet wäre,
die Psychoanalyse durch Ordinarhelt zu diskreditieren, was indessen kaum In den Intentionen
des Verfassers, selbst Psychoanalytikers, liegen kann.
(Herbert Silberer in der „Neuen Freien Presse")
Groddeck hat der Literatur einen modernen Don Quichotte geschenkt . . . Wer Freude daran
hat die Dinge auch einmal durch eine andere Brille als seine eigene zu sehen, lese das Budi.
Er wird Stunden reinster Freude haben I („Ostseezeitung")
Ein witziges Buch ! Ein kluges Buch I Eine geschickte Fopperei, nichts mehr 1 Ein köstliches
Buch ein abscheuliches Buch ! Ein fidclcr Roman, ein wissenschaftliches Werk I . . . Das Buch
ist vor allem von einer imponierenden Rückslditslosigkclt. („Die Wage")
Groddeck hat sich seine Aufgabe insofern erleichtert, als sein Held gleichzeitig Psychopath
und Psychoanalytiker Ist } dadurch kann er manche bedeutsame Glossierung unauffällig ein-
fügen. Groddedk nützt die Immunität reichlich aus, um die Phantasie des kranken Zynikers
sich in Zweideutigkelten ergehen zu lassen ; aber man behält den Eindruck der Echtheit.
(„Basischer Zentralanzeiger")
Wer für Humor keinen Sinn hat, gehe dem" Buch weit aus dem Wege . . . Groddeck probiert
mit einer tollen Donquichotterie die psychoanalytlsdie Methode an seinem Helden aus und
mengt Witz und Unsinn, Weisheit und Tollheit wild durcheinander.
(Jörn Oven in der „Schönen Literatur")
•
DK- SIEGFRIED BERNFELD
SISYPHOS
ODER
DIE GRENZEN DER ERZIEHUNG
Geheftet Mark 5—, Ganzleinen 6 m 50
Hier redinet einer flott und gründlich mit Praxis und
Theoorie der Erziehung ab. Ein unvorhergesehener Über-
fall auf Verlogenheit, die sich in Sicherheit wähnt, muß
wohl auch diese auf wühlerisch „unzeitgemäße Betraditung"
eines unbequemen Zeitgenossen zunächst hauptsächlich nur
auf Leser rechnen, die sie als Pamphlet schmähen werden,
allerdings ohne das Buch vor der letzten Zeile aus der
Hand geben zu können. Vor allem verblüfft hier die
psychoanalytische Herkunft dieser rhapsodischen Stellung-
nahme und fesselt das Wie und Warum dieses hemmungs-
losen Bekenntnisses eines Freudianers zum radikalen So-
zialismus. In der an Jean Paul gemahnenden, anekdo-
tisch instrumentierten Melodie eines „enthusiastischen
Pessimisten" tritt uns eine Entschlossenheit des Gedankens
und der Tat entgegen, die mehr als alles Sdiulmeisterisdie
den Erzieher, den Erzieher im nächsten und im fernsten
Sinne, ausweist. Mandiem Leser wird es schwer fallen, den
Respekt, den das Budi Sisyphos gebietet, das Vergnügen,
das sein Raffinement bereitet, mit jener beklemmenden
Verlegenheit zu versöhnen, in die es das aus herkömm-
lichen Bahnen gelockte Denken drängt.
INTERNATIONALER PSYCHOANALYTISCHER VERLAG
Wien, VII., Andreasgasse 3
Pressestimmen über Bernfelds „Sisyphos"
Der geistreichste unter den Schülern des großen, genialen Sigmund Freud hat da den Päda-
gogen ein Büchlein gewidmet, das sie hoffcntlidi lesen und sobald nicht vergessen werden.
Ich meinerseits glaube, daß seit langem im fragwürdigen Bereich der Pädagogik keine wich-
tigere Erscheinung zu verzeichnen war, als diese Schrift. Übrigens auch keine bei allem bitte-
ren Ernst witzigere und vergnüglichere . . . Bernfelds zentrale These wird für mandicn etwas
Erschreckendes haben . . . Aber ob wir die Gedankengange dieses merkwürdigen Büchleins
nun als unverhoffte Bestätigung eigener Ansiditen oder als unbequeme Störung des päda-
gogischen Burgfriedens empfinden: wir werden nicht an ihm vorbei können, nidit an ihm
vorbei dürfen. So sei es denn nachdrückÜchst empfohlen — allen, denen Erziehung nicht nur
Reflexbewegung, sondern auch eine immer neue Angelegenheit ihres Nachdenkens ist.
Qustav Wyneken im „Berliner Tageblatt"
Das ist Tubaton gegen das Treiben befugter und weniger befugter Erzichungskünstlcr, die
sich erschreckend vermehren und auf die Kinder stürzen. Ehedem versuchte man es mit
strenger Erziehung: Knüppeldick und liungergurt feierten sadistische Orgien. Das ist nun ins
Gegenteil umgeschlagen. Bande pädagogischer Zeitschriften werden mit dem Schlagwort:
lieben und ermutigen! angefüllt, so daß alle Tanten von Europa zu tun bekommen, um die
Kinderchen zu ermutigen, wahrend Mutter die Suppe kocht . . . Ein geistreicher Beobachter
der Jungen Brut hat ein Buch herausgebracht, das er mit kühnem Mute „Sisyphos" nennt . . .
Bernfeld sieht die Welt von einer Brücke, deren Köpfe auf Freud gestützt sind und auf Marx
Die bürgerliche Gesellschaft sieht er als einen Ozean der Lüge, auf dem die angeblichen
Ziele der Erziehung treiben, wie verfaulte Schiffstrümmer . . . Verniditungstrleb und Liebe
sind Scylla und Charybdis aller Einzelerziehung. Diesen Gedanken führt Bernfeld im Haupt-
teil seines Buches in einem fast zu großartigen Bogen durdi, der ihn über Psydioanalyse und
prähistorisch-anthropologische Spekulationen bis in die Politik und Ihren MacchiuveUismus
führt . . • Bernfeld wird wohl redit haben, wenn er sidi aUes vom Gemeinschaftsleben der
Jugend erhofft, womöglich ganz ohne Erwachsene. Dahin geht der Zug der Zelt und das ist
Antipädagogik. Man soll das Kind unter seinesgleichen aufwachsen lassen. Die rasende Päda-
gogik, die In die Herde der Kinder elnbrldit, um sich da auszutoben - gleichgültig ob In
Liebe oder in Haß - bleibt immer verdächtig, auch im Schafspelz . . . Erst wenn wir unsere
Kinder in Ruhe lassen werden, erst dann ist das Jahrhundert des Kindes gekommen.
Fritz Witte/s im „Tag"
Besonders sei auf die glänzende Programmredc des Untcrriditsmlnisters im zweiton Kapitel
liingewiesen, die an Anatole France heranreicht und in der Insel der Pinguine stehen könnte . . .
Durch all die Skepsis und den pessimistischen Flor leuchten deutlidi die Sdiwärmeraugcn
des Jungen Bernfeld. '■ Die Mutter"
•
.♦
'